Kategorie-Archiv: Begegnungen

„Nie wieder Prüfungen!“

Er zählt zu den gefragtesten Orchesterchefs und pendelt zwischen Pittsburgh und Petersburg – Mariss Jansons, 56 Jahre. Ein Porträt

Ein kleiner, unauffälliger Typ, etwas blaß und verknautscht. Wie er da im Hotelfoyer erscheint, könnte man ihn für einen mäßig erfolgreichen Schuhverkäufer halten. Er läßt sich in den Sessel sinken wie einer, der lange gelaufen ist. Von Aura keine Spur. Wer sagt auch, daß ein Orchesterchef den ganzen Tag lang eine Aura um sich haben muß? Braucht er überhaupt eine?

Nach den üblichen Kriterien kann Mariss Jansons gar kein Maestro sein. Maestri sind braungebrannt, tragen außerhalb der Konzerte sanft fallenden Zwirn oder weiße Rollis, erzählen lächelnd Anekdoten und werden nach einer halben Stunde vom persönlichen Referenten daran erinnert, daß der nächste Journalist schon wartet. Und natürlich waren sie alle Wunderkinder.

Mariss Jansons, seit 1978 Chefdirigent in Oslo, seit 1997 Chefdirigent in Pittsburgh und im vergangenen Sommer als dritter Favorit neben Barenboim und Rattle in Berlin gehandelt, war kein Wunderkind. Er tat nur so. „Ich habe mit zwei, drei Jahren gespielt, dass ich Dirigent bin,“ sagt er, „mit einem Holzstück als Taktstock.“ Das war in Riga an der Ostsee, wo sein Vater Arvid im Opernhaus dirigierte.

Er erzählt das ziemlich ernst, nicht wie einer, der von der Höhe des Ruhms den Anfängen zulächelt. Denn seinen Anfängen folgte kein Senkrechtstart, sondern eine lange, strapaziöse, sowjetische Ausbildung, in der er als Lette nicht nur richtig russisch lernen mußte, sondern auch beweisen, daß er mehr als nur der Sohn eines bekannten Vaters war.

Noch jetzt, mit 56 Jahren, sagt er erleichtert: „Nie wieder Prüfungen!“ Sein erster Meister oder gar Zuchtmeister war der gestrenge Jewgeni Mawrinsky in Leningrad. „Selbst wenn er zu Hause war, dachten die Orchestermusiker, er könnte im Saal sitzen.“ Bei ihm hat Jansons viel gelernt, vielleicht aber auch beschlossen, den Musikern nicht so viel Angst einzujagen.

Dann durfte er in Wien studieren und lernte bei Hans Swarowsky das Analysieren von Partituren – einem Mann, der noch unter Mahler musiziert hat. Bernstein und Karajan luden den jungen Mann als Assistenten ein. Da hätte er eine Karriere im Westen starten können, aber er kehrte zurück nach Leningrad und wurde Assistent von Mrawinsky.

Mit 36 Jahren trat er seinen ersten Chefjob an. Es war ein etwas marodes Ensemble auf der anderen Seite der Ostsee. Und dieses Philharmonische Orchester Oslo, aus dem eines der tönenden Flaggschiffe Skandinaviens geworden ist, leitet er noch heute. Er hat auch immer noch eine Wohnung in Leningrad, das wieder Petersburg heißt, und einen Gastvertrag. Für 400 Mark im Monat.

Das ist dort viel. Wovon die anderen 95 Prozent der Bevölkerung leben, „das kann ich mir nicht erklären.“ Dagegen mutet Pittsburgh zunächst paradiesisch an. Das Orchester der pennsylvanischen Industriestadt, von Sponsoren gestützt, gehört zu den amerikanischen „Next Five“, die gerade dabei sind, die „Big Five“ zu überholen. Jansons nennt es respektvoll einen „Mercedes“, und als der Mann von der Ostsee den Nobelchauffeur Lorin Maazel ablöste, empfing man ihn mit Straßenbeflaggung.

Der „Honeymoon“ dauert nun schon zwei Jahre. Die Musiker schätzen es nicht nur, daß man Jansons auch im Fahrstuhl ansprechen darf (das haben Maestros nicht gern), sondern auch, „dass wir nie genau wissen, was er im Konzert machen wird“ (das scheint bei Maestros selten vorzukommen). Die New Yorker Kritik hat sich nach seinem Schostakowitsch fast überschlagen, und die erste Europatournee in diesem Sommer war ein Erfolg.

Man lobte den dunklen, schweren, den „deutschen“ Klang und entsann sich, dass einst ja ein Fritz Reiner dieses Ensemble leitete. Die nächste Tournee durch die Alte Welt ist schon fürs Jahr 2000 gebucht. Dennoch sieht Jansons allenthalben das Publikum schwinden. Man versucht zwar auch in Pittsburgh allerlei Tricks, es gibt Überraschungsprogramme, Gesprächskonzerte, Videoübertragungen, „aber das wird nicht die Probleme grundsätzlich lösen.“

Es regt ihn auf, wenn er hört: „Lass doch die Leute entscheiden, welches Entertainment sie haben wollen.“ Das sei keine freie Entscheidung. „Wenn ein Kind den ganzen Tag etwas über Schokolade hört, interessiert es sich für Schokolade.“ Und das Konsumieren interessiert jetzt mehr Leute als die Klassik. „Vielleicht müßte man mit Steuern dafür sorgen, daß die Kunst für alle frei ist.“

Und zugleich Pflicht. „Obwohl ich in einer Diktatur aufgewachsen bin – dafür würde ich sogar Propaganda machen.“ Noch etwas erinnert ihn an seine sowjetischen Erfahrungen. Schostakowitsch werde im Westen viel besser verstanden als früher – „weil das Leben auf der ganzen Welt schwieriger wird. Man muss ein bisschen erleben, was er selbst erlebt hat. Den Druck, die Einsamkeit.“

Aber beleuchtet nicht auch die neueste Musik unseren Alltag? Die reizt ihn nicht so. Vielleicht dürfe Musik unseren Erfahrungen nicht allzu nahe kommen, überlegt er. „Musik war immer schneller, als unsere Seele absorbieren kann. Die Masse braucht Zeit. Vielleicht wird im nächsten Jahrhundert ein Komponist zum Helden erklärt, den man jetzt kaum kennt.“ Und die großen Toten hält er für zeitlos. „Mich interessiert nicht, für welche Epoche sie geschrieben haben.“

Entscheidend sei das „Spirituelle“. „Gut, wir fliegen mit Astronauten, aber ob wir uns geistig entwickelt haben? Ich bin nicht sicher… Die Kunst ist ein Lebensmittel für unsere Seele,“ meint Jansons. „Wenn sie nicht obligatorisch gesichert ist, gibt es einen Krach.“ Das ist sein kleines Wort für „Katastrophe“, aber er sagt das nicht mit dem Raunen des Philosophen, sondern eher wie ein Handwerker, der guckt, was am alten Auto noch zu retten ist.

Was ist denn so Rettendes in der Musik, die er liebt, von Haydn bis Schostakowitsch? „Sie gibt dir phantastische Gefühle! Die Noten sind nur Zeichen, dahinter sind Geist, Gehalt, Atmosphäre!” Er greift hilflos in die Luft. „Ich arbeite schon in den Proben mit Emotionalität. Ich kenne bei Strauss genau die Stellen, wo ich Tränen bekomme, weil er ganz persönlich sagt, was ist in seiner Seele.“

Und grinst müde: „Ach, Musiker sind Besessene. So eine kleine Gruppe. Nichts gegen den Rest der Welt!“ Und immer nur Dirigieren sei auch nicht gut. Erst nach einem Herzinfarkt hat Jansons gemerkt, was ihm fehlte. „Viel lesen, viel denken. Wir haben keine Zeit zu denken. Aber,“ gibt er zu, „ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich nichts mache.“

Am Abend hat er seinen Auftritt mit dem Concertgebouw Orkest in Amsterdam. Mit hastigen kleinen Schritten kommt er die Treppe zum Podium hinab, die Schultern leicht hochgezogen, schnelle Verbeugung zum Applaus, dann dreht sich Mariss Jansons zum Orchester um. In diesem Moment verwandeln sich alle Dirigenten der Welt, aber selten erlebt man das so drastisch wie bei ihm.

Er sieht aus, als sei eine Last von ihm genommen. Größer und energischer. Mit wenigen klaren Armbewegungen läßt er den d-Moll-Donner aus dem Orchester brechen. Alles, was die Musiker tun, wird gebündelt und kommt voll auf uns zu, und wie mit einer Art Entsetzen merkt man, daß die 140 Jahre Sicherheitsabstand einen nicht vor Brahms´ erstem Klavierkonzert schützen werden.

Die Musik ist gefährlich. Die Konventionen, die sie gebraucht, sind zerbrechlich. Manche Motive betreut Jansons vorsichtig wie ein Therapeut, andere treibt er ins Extrem. Links modelliert er eine kleine Triumphszene – fast nur das Zitat einer Fanfare, rechts dreht sich sechsachtelweise das Mühlrad einer Depression, ein schlichtes Zweitonmotiv wird ein Hilferuf.

Wenn man sieht, wie Jansons kurz ein Dreieck mit der Rechten schlägt, während die Linke die Geigen in den Saal zieht, weiß man, was Schlagtechnik heißt. Das ist keiner, der hier und da mal ein piano fordert. Er formt in großem Bogen einen Kosmos von Nuancen, die Szenen sind so klar, daß man gleichsam hindurchsehen kann – nicht in Brahms hinein, sondern in das Wesen, das er da komponiert hat. Es lebt tatsächlich.

Es ist so real, dass man sich selbst fast ein bisschen provisorisch vorkommt und der Pianist offenbar auch, denn Yefim Bronfman hat in dieser Intensität Mühe, über die Rolle eines wackeren Spielmanns hinauszukommen. Dabei ist Jansons nicht dominant. Aura? Er ist einfach nur voll da. Er ist so naiv zu glauben, daß hier Abenteuer lauern. Und darum kommen sie auch.

Da verwandelt sich selbst das „Heldenleben“ von Richard Strauss von einem Saurier sinfonischer Selbstgefälligkeit zu einem wendigen Tier. Im Sattel sitzt Mariss, drei Jahre alt oder 56, und reitet uns alle ins Wunderland. Die Leute toben wie selten in Amsterdam. Jansons verbeugt sich schnell und eilt über die Treppe hinaus, als hätte er einen Scheck gefälscht. Ein kleiner, unauffälliger Typ, etwas blaß und verschwitzt.

Dies ist die unredigierte Fassung eines Textes, der im September 1999 für die “Stuttgarter Zeitung” entstand. Die Druckfassung liegt dem Autor nicht vor und ist online nicht zugänglich. Kürzere Fassungen erschienen in der Badischen Zeitung vom 18. 8. 1999 und in der Leipziger Volkszeitung vomm 2. 9. 1999. Die hier zu lesende Fassung wird vom Autor zur Erinnerung an Mariss Jansons ins Netz gestellt, der am 30. November 2019 mit 76 Jahren in Sankt Petersburg den Folgen einer Herzerkrankung erlag.

 

“Das ist grausam, das ist Strindberg!”

Eine Begegnung mit dem Bariton Johannes Martin Kränzle, der in Zürich den Don Pasquale neu erfindet – wie alle seine Rollen

Strenger schwarzer Anzug, lockige weiße Haare, so wartet er im Nieselregen an der Ampel in der Züricher Hardturmstraße. So könnte ein Film über ihn beginnen. Ein Sänger, der im Probenkostüm über die Straße geht und aussieht wie Gerhart Hauptmann, nur schlaksiger und fröhlicher. Dazu würde man vom Verkehrsrauschen zum Gesang blenden: „Ad ogni modo vo´provarmi…auf alle Fälle versuch ich´s mal…“ Johannes Martin Kränzle eilt aus logistischen Gründen kostümiert ins Café. In weniger als einer Stunde geht die Probe weiter, soviel Zeit hat er zum Essen und für unser Gespräch. Auf so einen Stress würden sich die wenigsten einlassen. Nur scheint ihn gar nichts zu stressen.

Wir sind gleichaltrig, und es ist jetzt tatsächlich schon 27 Jahre her, dass ich ihn in Hannover als Rossinis Figaro zum ersten Mal auf der Bühne bewunderte, wie dann noch des öfteren, während er immer berühmter wurde, an der Oper Frankfurt alle Mozartpartien seines Fachs sang , an Scala und MET debütierte, in Salzburg und Bayreuth, wo ihm seit 2017 die heikle Gratwanderung gelingt, in Barrie Koskys Meistersinger-Regie zugleich Beckmesser und Hermann Levi zu sein, der von Wagner gedemütigte jüdische Dirigent seiner Werke. Was ihn nicht hindert, nun seine Rolle als Don Pasquale genau so ernst zu nehmen.

Der 57jährige, dem ich zwei Stunden lang bei der Probe zum dritten Akt zugeschaut habe, ist auf alles, was im Titelhelden, in seiner Ohrfeigenszene mit Norina stecken mag, neugierig, als würde das Stück gerade erst erfunden. Er und Julie Fuchs arbeiten sich mit Regisseur Christof Loy so tief in die Nuancen von Tönen, Silben, Gesten, Mimik hinein, dass die Klischees einer Komödie sich in Szenen einer Ehe verwandeln. „Das ist grausam, das ist Strindberg“, ruft Kränzle einmal auf der Bühne und sieht glücklich aus. Sein Gesicht scheint immer jedes Gefühl, jeden Gedanken zu spiegeln, sogar mehrere gleichzeitig, die Stimme ebenso. Noch ist nichts fertig, intensiv aber alles.

„Ich bin noch auf der Reise in der Rolle“, sagt er später über seinem Nudelteller, „ich komme so offen wie möglich zu einer Produktion. Die Vorbereitung beginnt mit dem Lesen, erstmal nur den Text, nicht die Noten, die ihm gleich mal eine Farbe mitgeben. So hat man mehrere Ideen dazu, wie man den Text sprechen kann.“ Und welche Farben er wirklich braucht, das entscheidet sich erst in Proben wie der am Vormittag. Da hat Kränzle einmal das Wort „nozze“ so zart nachbeben lassen, als blicke Don Pasquale mitten im Zorn noch ins erotische Dunkel, das er sich von Norina erhoffte. Und wenn er wütet, sie werde ihn noch reif fürs Spital machen – dann klingt „ospedale“ nicht nur komisch.

Übrigens auch bei Donizetti nicht, der auf dieses Wort eine seltsame kleine Stille folgen lässt. Während der Komponist drei Jahre nach der Uraufführung in eine Anstalt bei Paris zwangseingewiesen wurde, hat Kränzle vor drei Jahren eine Knochenmarkserkrankung auf wunderbare Weise hinter sich gebracht – einer wenigen „MDS“-Patienten, die nicht nur überleben, sondern komplett die frühe Fitness wiedererlangen. Er ist immer offen damit umgegangen; in unserem Gespräch erwähnt er die Krankheit ganz selbstverständlich – denn ihretwegen wartet er noch immer auf eine der für ihn spannendesten Rollen.

kränzle

Mit seinem Freund Christof Loy als Regisseur war der Wozzeck geplant, den er dann nicht singen konnte. „Diese Rolle möchte ich unbedingt noch mal selber erfinden“, sagt Kränzle. Er hat den Wozzeck zwar in einer Wiederaufnahme in Paris gesungen, „aber noch nie in einer wirklich neuen Inszenierung. Ich mag nicht gern von anderen etwas übernehmen und bin dankbar für Produktionen, in denen ich die Rolle selbst kreieren kann.“ Nichts, glaubt er, ist so gut wie eine Aufführung, deren Sänger alle den Prozess der Entstehung miterlebt haben. „Als Intendant wäre ich ein wahnsinniger Konservierer der Erstbesetzungen, ich würde so lange wie möglich versuchen, die Truppe zusammenzuhalten!“

Gute Produktionen sind ihm wichtiger als ein voller Auftrittskalender, aber Kränzle hat ja auch nicht auf den gängigen Wegen zur Oper gefunden. Als Regensburger Gymnasiast spielte er Geige und komponierte für Schulopern, danach wollte er Musikttheaterregie in Hamburg studieren. „Ich hatte mir das als etwas sehr Praktisches vorgestellt, es wurde aber reine Theorie. Nach einem halben Jahr wollte ich da wieder weg und Schulmusik studieren.“ Bei der Aufnahmeprüfung in Frankfurt musste er auch singen, „zwei Lieder und Humperdincks Besenbinder“. Da hörte ihn Martin Gründler, als Gesangsprofessor eine Legende. „Der sagte, so, du wirst Sänger. Ich laufe niemandem nach und habe eine volle Klasse, aber dich nehme ich auf.“

Was Kränzle bei ihm lernte, war „eine Lebensversicherung für meine Stimme. So schlank wie möglich, die Stimme nicht künstlich größer machen, sondern versuchen, sie über die Obertonreihe hören zu lassen.“ Dreimal pro Woche hatte er Unterricht, dazu kamen sechs Stunden Schauspielunterricht. Zudem wurde damals an der Frankfurter Oper mit dem Intendanten Klaus Zehelein und dem Dirigenten Michael Gielen das Musiktheater neu erfunden. „Ein Stück war spannender als das andere, ich bin dadurch szenisch sehr geprägt. Das Politische von damals kommt heute fast gar nicht mehr vor.“

Gesellschaftliche Brisanz realisiert er gern im Subtilen – sein Gunther in der Götterdämmerung, die Vera Nemirova 2007 inszenierte, war ein feinsinniger, hilfloser Typ, der mit beklemmend nachvollziehbarem Opportunismus zum Mordhelfer wird. Ist es von gestern, wenn Don Pasquale seiner jungen Frau den Theaterbesuch verbieten will? „Es gibt immer noch Kulturen, in denen der Mann seiner Frau sagt, du gehst jetzt nicht aus dem Haus!“ Nur dass Norina, „fast ungewöhnlich für die Zeit, die Fäden in der Hand hat, sie geht mit ihrem Liebhaber und mit Don Pasquale um, wie sie möchte. Diese Männer sind eher schwach. Aber ob Donizetti das politisch fand – das wage ich zu bezweifeln.“

Er bewundert vor allem dessen Meisterschaft. „Mir ist das schon beim Lernen als wahnsinnig kluges und reifes Stück vorgekommen. Bei Wiederholungen ist immer eine Kleinigkeit anders. Man übersieht das schnell, wenn man es nicht genau liest. Oft bricht er Sachen ab, bringt neue Motive, es ist so klug gesetzt, auch warum und wann Harmoniewechsel kommen. Selbst beim besten Rossini, der sprüht vor Einfällen, würde es nie so tief gehen. Dieses Stück bricht die opera buffa, taucht sie nochmal in ein tieferes Licht, und ist wirklich der Vorbereiter für Verdis Falstaff. Ich finde, es ist seine beste Oper.“

Wie gelingt es Kränzle, Klangfarbe, Gestik, Mimik so stimmig zu verbinden, als übersetze er in Echtzeit die Nuancen der Partitur ins Szenische? „Das geschieht nicht bewusst, das stellt sich ein durch den klaren Gedanken in dem Moment, und das Gefühl.“ Jenseits aller Schminktricks wird aus dem 57jährigen ein alter Mann, der von einer jungen Frau das größte Glück erhofft. Und dann knallt sie ihm eine. Was Julie Fuchs in der Probe zum Spaß einmal nur ganz weich und lieb und grinsend erledigt. Und Kränzle geht wie eine Zeichentrickfigur in die Knie, mit wackelndem Rücken und verrutschten Zügen. Einer der wunderbaren Probenslapsticks, mit denen man sich vom Existenziellen erholt.

Hat er nie Angst, dass eine Rolle, eine Identifikation ihn zu sehr mitnimmt? „Nein. Ich versuche, meine Emotionen ganz ehrlich zu machen, und es ist fast eine kathartische Freude, auch wenn man einen Verzweifelten spielt. Aber ich trage das hinterher nicht mit nach Hause.“ Vielleicht ist auch die Vielfalt seiner Rollen ein Schutz vor den Abgründen. Und die eigene Identität. „Stimmliche Unverwechselbarkeit entsteht über das, was man ist, wie man ist. Und mit der Obertonreihe. Wenn man nur mit der Grundstimme singt, wird´s schnell verwechselbar. Jetzt muss ich ´rüber!“ Dann eilt er durch den Regen zur Probe, der Unverwechselbare.

Dieser Text erschien geringfügig kürzer im MAG 74 der Oper Zürich, November 2019, und ist urheberrechtlich geschützt. “Don Pasquale” hat am 8. Dezember in Zürich Premiere, es dirigiert Enrique Mazzola, Regisseur ist Christof Loy.

„Ich würde Jochanaan selbst gern töten“

Als Salome in Salzburg wurde Asmik Grigorian über Nacht zum Weltstar. Was war da los, was war davor, was kommt? Eine Begegnung

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Sie sitzt auf dem Schoß des nackten Enthaupteten, umklammert verzweifelt zärtlich den Rumpf, den Kopf an die Stelle gelegt, wo vor kurzem noch der Kopf des Jochanaan war, und singt – langes Ais – das erfüllteste, glühendeste „nichts“, das man je gehört hat: „Auf der ganzen Welt war nichts so rot wie dein Mund“, und die Töne sind eins mit allem. Was hier geschieht, kann nur so geschehen. Da ist nur noch diese junge, zierliche Frau im weißen Kleid, die aus Liebe den Tod herbeigeführt hat. Das Gesicht nur noch Schmerz, die Töne Existenz, uns alle treffend, hinweg über dreißig Bläser, Celesta, zwei Harfen, neunzig Streicher, über das ganze Wissen und Nichtwissen der Welt. Und die Welt ist anders danach. Nicht nur die Opernwelt, nicht nur die Welt von Richard Strauss´ Salome.

Mit den Schlusstönen der biblischen Prinzessin begann im vorigen Sommer in Salzburg ein Triumph, der das Klischee vom Weltruhm über Nacht bestätigte. „Ich verstehe immer noch nicht, was da passiert ist“, sagt sie jetzt. „Es fühlt sich seltsam an. Da kommen auch Ängste hoch.“ Asmik Grigorian, 37 Jahre alt, nackenkurze schwarze Haare, helle Augen, sehr konzentriert, sitzt im Bunker, einer Weltkriegsfestung an der Hamburger Feldstraße, heute ein Kreativzentrum. Gerade hat die Litauerin dort für ihr Elbphilharmonie-Debüt geprobt. Seit ihrer Salome ist sie eine der gefragtesten Sopranistinnen überhaupt.

In Salzburg traf sich das grundstürzende Bilderdenken des Regisseurs Romeo Castellucci mit einer Rollendebütantin, in deren Stimme, Erscheinung, Gestaltung alles zusammenschoss, das Erotische, das Kultische, das Gegenwärtige – und der Traum des Komponisten Richard Strauss von einer Sängerin, die den Körper einer Siebzehnjährigen und die Stimme einer Isolde hat. „Ihre silbrige Stimme brennt in einer Weise, wie Eis brennen kann“, schrieb Jürgen Kesting. Diese Salome bestand mit äußerster Konsequenz und sinnlichem Selbstbewusstsein auf Liebe in einer finsteren, ausweglosen Männerwelt. Wer dabei war, taumelte erschlagen und erfüllt aus der Felsenreitschule.

Den Perfektionismus verdankt sie ihren Eltern

Inzwischen unterzeichnet Asmik Grigorian Verträge für 2024, nächste Saison debütiert sie an der New Yorker Met. Warum also Ängste? „Ich bin Perfektionistin“, sagt sie, als bekenne sie ein Handicap. „Ich weiß, dass ich nicht mit jeder Rolle denselben Erfolg haben kann, unmöglich.“ Angst vor dem Erfolg auch? „Wenn alle Kameras auf dich gerichtet sind, fängst du an, dir Sachen auszudenken, das ist nicht gut. Ich muss alles so machen wie vorher und wirklich an mir arbeiten, um damit klarzukommen.“ Und mit dem Perfektionismus, den sie ihren Eltern verdankt. Beide waren große Sänger.

„Besonders mein Vater war really big“, sagt sie. Gegam Grigorian, 1951 in Armenien geboren, debütierte als Tenor mit 27 Jahren an der Mailänder Scala und hätte da schon eine internationale Karriere starten können. Doch die Sowjetunion ließ ihn nicht reisen. Er ging ans Theater im litauischen Vilnius und lernte Irena Milkevičiūtė kennen, eine phänomenale Koloratursopranistin, bald darauf kam die Tochter der beiden zur Welt. Nach dem Ende der Sowjetunion wurde Gegam im Westen berühmt, ein Jahrzehnt lang sang er auf den Bühnen der Welt. „Er trat in bester Form ab“, sagt Asmik stolz. „Erst nach seinem Tod habe ich es gewagt, zu sagen: Ja, ich bin eine Tochter von Gegam Grigorian.“ Er starb schon mit 65 Jahren, das hat sie sehr erschüttert. Und sie war berührt, dass sein Freund Placido Domingo die Salome besuchte.

Auch wenn Asmiks Weltruhm über Nacht kam – die überragende Technik besaß sie natürlich schon vorher und auch die Erfahrung, um 2017 als Marie im Salzburger Wozzeck zu überzeugen. Wobei ihre Technik keineswegs von früh auf gut war, trotz der Eltern. „Ich wurde sehr früh Mutter, mit 21. Ich musste für den Unterhalt sorgen und machte zu viel, nicht gut vorbereitet.“ Ihre erste Bühnenrolle war die Donna Anna im Don Giovanni, die zweite Violetta in La Traviata. „Wenn du ein großes Gewicht hebst, ohne zu wissen, wie, wirst du dich verletzen.“ Genau das ist passiert. Mit 30 hat sie ihre Stimme neu aufgebaut. Bis heute konsultiert sie jede Woche ihren Lehrer per Skype: alte italienische Schule.

„Besonders für Sopranistinnen ist es eine Herausforderung, dass wir eine Oktave über unserer Sprechstimme singen. Ich möchte soviel wie möglich vom natürlichen Stimmklang bewahren. Dass mehr Leute Popmusik mögen als Oper, hat auch mit den Stimmen zu tun. Wir müssen ohne Mikros einen Klang produzieren, der über das Orchester trägt.“ Das klinge schnell angestrengt. „Wenn du jemanden auf der Straße fragst, was ist Oper, dann… Ouououou“, sie parodiert ein kehliges, vibrierendes Jaulen. „Und das stimmt! Weil wir es so machen! Darum klingen auch so viele einander so ähnlich. Du brauchst dein eigenes Timbre, das macht dich besonders. Die alten Sänger, die guten, hatten das alle.“

Dafür allerdings wurde früher nicht jene schauspielerische Qualität gefordert, die so radikal erst das Regietheater mit sich brachte: „Die Oper brauchte diesen Wandel.“ Bei allem „Riesenrespekt vor den alten Sachen“ liebt Asmik Grigorian das Neue. Sie liebt es, festgefahrene Rollenklischees aufzubrechen, das Schwarz-Weiß, die Opfer, die Heldinnen. „Ich komme natürlich nicht in die Oper und denke, jetzt muss ich aber mal was ändern. Ich öffne die Partitur und fühle, wie ich fühle.“ Und das ändert alles. Neben ihrer Salome wurde klar wie nie, was für ein repressiver Typ der Prophet Jochanaan ist, dem Strauss so edle Klänge schrieb. „Er sagt entsetzliche Dinge“, findet sie. „ Selbst ich als Asmik würde den gern töten.“ Aber er klingt gut! „Das ist genau die Bigotterie. Es klingt gut, aber es ist bullshit.“

“Das acting with your voice verlieren wir gerade”

Gerade denkt sie vor allem über Schostakowitschs mörderische Lady Macbeth von Mzensk nach. „Vielleicht irre ich mich, aber ich denke, man könnte eine ganz andere Geschichte erzählen. Ich glaube, es kann lyrischer gemacht werden. Dabei folge ich den Möglichkeiten meiner Stimme. Ich versuche, so viele Farben wie möglich zu finden von denen, die ich habe. Du kannst nie die Rolle von deiner Stimme trennen. Es gibt viele gute Schauspieler in der Oper, aber das acting with your voice, das verlieren wir gerade.“

Grigorians Selbstzweifel sitzen tief. „Das hat viel mit den Nachwehen des sowjetischen Systems zu tun, das aus Angst, Zwang und Demütigung bestand. Den Künstlern wurde gesagt: Wenn du schlecht singst, bist du ein schlechter Mensch! Ich bin auch sehr streng mit meinen Kindern, aber es darf nie demütigend werden.“ Ihr Sohn ist jetzt sechzehn, ihre Tochter zwei, sie selbst spürt noch immer die frühe Kleinmacherei: „Ich kann die ganze Welt überzeugen, dass ich gut bin, aber das heißt nicht, dass ich selbst daran glaube. Ich muss darüber jeden Tag mit mir selbst reden.“ Sie lacht, erstaunlich grollend. Man ahnt, was für sie das Vertrauen des Salzburger Festspielchefs Markus Hinterhäuser bedeutet, der, rarer Fall, Salome auch für dieses Jahr wieder angesetzt hat. „Ich könnte stundenlang über Markus sprechen. Wie eine Person dir so sehr vertrauen kann! Viele dachten, oh, wie will sie die Salome singen? Er hat nicht mal eine Zweitbesetzung eingeplant, so sicher war er.“

Wie geht es ihr, wenn sie nicht auf der Opernbühne steht, sondern auf dem Konzertpodium wie jetzt in Hamburg mit der Vierzehnten Sinfonie von Schostakowitsch, diesen elf Liedern vom Tod? „Ich erschaffe meine eigene Geschichte. Immer bin ich es und zugleich out of Asmik. Jedes Stück wird ich und ich werde das Stück.“ Matthias Görne, der die Basspartien singt, hat ihr geholfen, den für sie wichtigsten Text auf Deutsch besser zu verstehen, Rilkes Tod des Dichters, die Beschreibung eines Gesichts beim Sterben. „Ich sah das aus sehr großer Nähe“, sagt sie leise. Ihr Vater? „Ja. Dieses Stück wird eines für ihn, über ihn sein.“

Die Elbphilharmonie ist ausverkauft, obwohl nur wenige Konzertgänger die Zweite Sinfonie von Arthur Honegger und die Vierzehnte von Schostakowitsch kennen dürften. 1969 uraufgeführt, kaum gespielt, weil man ein wahnsinnig gutes Kammerorchester – in diesem Fall das Ensemble Resonanz – und viele Proben braucht. Grigorian, erneut im weißen Kleid, beginnt fast streng, wie Distanz nehmend zu Federico García Lorcas tödlicher Sommerglut. „Einhundert heiß Verliebte schlafen für immer…“ Dann wechseln die Perspektiven, die Farben. Sanft und ausweglos singt sie vom Selbstmord, mit dichter Stimme vom todgeweihten, geliebten Soldaten. Dann wirft der Bassist mit Guillaume Apollinaire ein: „Madame, Sie haben eben irgendetwas verloren…“

„Pah, Kleinigkeit! Ach, es war nur mein Herz… Ich lache laut!“ Wie sie lacht, das zerreißt einem das Herz. „Cha“, die erste Silbe des russischen „lache“, hat Schostakowitsch isoliert, Grigorian verliert sich in diesem Laut. Man hört, wie sie in diesem Ton eine ganze kaputte Liebe umfasst, in deren Dunkel noch etwas glüht, bodenlos verzweifelt, absturzgefährdet. Als sie später den Sterbenden erreicht, unendlich behutsam, wird ihre Stimme weich wie „die Innenseite von einer Frucht, die an der Luft verdirbt“. So beschreibt Rilke das in seinem Gedicht. 2100 Zuhörer sind ganz still. Ein letztes kurzes Lied. In die Ovationen hinein lächelt Asmik Grigorian, erleichtert, als sei sie überrascht, überlebt zu haben. Alles gut? Nein, alles wahr.

Dieser Text erschien geringfügig kürzer am 21. Februar 2019 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt. Für die Edition auf dieser Website wurden die Überschrift geändert und Zwischenzeilen hinzugefügt. Foto: Algidiras Bakas