Kategorie-Archiv: Begegnungen

“Liebe heißt, jemanden frei sein zu lassen”

Eine Sopranistin, die kurz vorm Auftritt Zeit für ein Gespräch hat? Rosa Feola gibt einem dann sogar noch Belcanto-Unterricht. Ein Baseler Treffen vor der “Wahnsinnsarie”

Noch eine Stunde bis zum Schminken, zweieinhalb Stunden bis zu den ersten Tönen des Orchesters, fünf Stunden bis zu einer der strapaziösesten Szenen, die es für Sopranistinnen gibt. Aber die Frau, die am Abend die Lucia in Gaetano Donizettis berühmtester Oper singen wird, schlendert ganz entspannt in die nachmittagsstille Kantine des Theaters Basel. „Sie werden Sie leicht erkennen“, hat der Mann an der Pforte gesagt, „sie hat dunkle Haare und ist sehr hübsch.“ Rosa Feola, ein Glas Tee in der Hand, ist außerdem sehr gut gelaunt und scheint sich direkt darauf zu freuen, jetzt über sich und ihre Rollen zu sprechen, zu denen auch die Gilda im Züricher „Rigoletto“ gehört und Mozarts „Gärtnerin“.

rosa-feola-2

Besteht nicht die Gefahr, dass all diese Frauen, von Donizetti bis Verdi, von Mozart bis Rossini, von Bellini bis Puccini und dazu noch Bizet, in ihrem Kopf durcheinander geraten? Sorry, falls das eine dumme Frage ist…. Sie lacht. „Das hat mich auch gerade eine Freundin gefragt! Nein, die Rollen sind so verschieden, dass ich nicht durcheinander geraten kann“, sagt sie auf Englisch, „und es hilft mir, dass die meisten auf Italienisch sind. So kann ich tiefer einsteigen.“ Ab wann steigt sie denn an einem Aufführungstag wie heute ein? Wacht sie morgens schon als Lucia auf? „Ich habe mal versucht, schon Stunden vorher in die Stimmung zu geraten“, meint sie. „Das hat nicht funktioniert. Danach war ich gestresst, und man ist doch sowieso schon gestresst!“

Sie werde es heute machen wie immer. „Ein halbe Stunde Aufwärmen, nur die wichtigsten Stücke wiederholen. In diesem Fall ein kleines Stück von der ersten Arie, dann etwas vom Duett mit dem Tenor, was für mich das Schwierigste ist, sehr legato und rein – und nach der Pause haben wir die Wahnsinnsszene.“ Genauer gesagt, die Wahnsinnszene schlechthin, ein Solo von fast zwanzig Minuten, in dem die virtuosen Wendungen des Belcanto zu Fragmenten einer zerstörten Seele werden. Diese Szene besiegelte 1835 den Triumph der Uraufführung von Lucia di Lammermoor in Neapel, der Opernmetropole des italienischen Südens. Eine halbe Stunde Fahrt nordöstlich von dort liegt das Städtchen San Nicola la Strada, in dem Rosa Feola 1986 zur Welt kam.

„Ich fing mit Musik an, als ich fünf oder sechs war, sang im Kinderchor, und ein Cousin gab mir Klavierunterricht. Aber meine Eltern hatten mit Musik nicht so viel zu tun, auch wenn meine Mutter eine Naturstimme hat, eine lyrische!“ Es war eine Tante, die fand, Rosas Stimme sollte ausgebildet werden. Sie nahm privat Gesangsunterricht, ihr Diplom bekam sie als Externe im Konservatorium von Salerno. Am Klavier machte sie nach dem vorletzten Examen Schluss: „Stopp, nicht weiter! Ich habe mich als Pianistin nicht wohl gefühlt. Aber zuhause spiele ich gern, ich kann die Opern alleine lernen, die ersten Schritte. Zum Perfektionieren gehe ich dann nach Rom zu meinen Lieblingspianisten.“ Nach Rom führte auch der Weg aus Salerno. Ein Kommilitone hatte ihr geraten, bei Renata Scotto vorzusingen.

Dieser Student wurde später ihr Ehemann, und auch die Begegnung mit der großen alten Dame der italienischen Oper war eine fürs Leben. „Ich war 22, das ist zehn Jahre her“, sagt Rosa, fast ungläubig über das, was seitdem geschah. „Ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, professionell zu singen. Ich liebte die Oper und versuchte etwas für mich selbst. Aber auf der Bühne zu stehen, als Solistin?“ Die anderen Kandidaten warnten sie vor Signora Scotto an jenem Tag. Sie sei übel gelaunt. Als Rosa „Si, mi chiama Mimì“ und „Bel raggio lusinghier“ gesungen hatte, stand die 74jährige Diva auf, applaudierte und sagte: „Okay, du wirst Mimì singen, aber nicht jetzt.“ Und dann ging es richtig los.„Sie sagte mir, öffne den Gaumen und singe mit der Maske.“ Rosa Feola legt die Hände an die Wangen. „Alle Linien aus derselben Position, verstehen Sie das?“ „Naja, ich bin nur Bratscher, aber ich kann´s mir denken…“

Sie lacht. „Und ich war Tänzerin! Ich hatte auch Ballett gelernt und nahm all die Bewegungen in mein Singen rein, dauernd waren Hände und Beine in Bewegung, also sagte sie mir, bitte kontrolliere deinen Körper. Also wurde ich sehr straight, sehr kontrolliert.“ Und sie arbeitete einen Monat lang mit ihrer Lehrerin täglich an derselben Arie der Corinna aus Rossinis Il viaggio a Reims: „Ombra ameno“. Denn in dieser Rolle würde sie auf der Bühne debütieren – zwischen lauter Stars. „Sie saß neben dem Pianisten und sang, während ich sang, ohne Stimme. Ich verstand, wie man es richtig macht, durch Imitation dessen, was ihr Gesicht zeigte. Es war wie Telepathie, das ist etwas, das ich nie vergessen werde.“

So wurde Rosa in die Geheimnisse des Belcanto eingeweiht, jener Kunst schönster, im legato verbindender Tonbildung, die Rossini schon 1858 verloren sah. „Du musst dich fragen, wo die Linie beginnt und wo sie endet. Nicht einfach Wort für Wort, sondern Satz für Satz. Und du musst das wichtigste Wort finden. For example ,You are a wonderful woman ‘ – which is the most important word? You, wonderful, or woman?“ Gut, dass ich kein Sänger bin – ich würde alle drei betonen. „Wichtig ist“, sagt sie lachend, „niemals ein Akzent am Ende!“

Bei Operalia, dem wichtigsten aller Sängerwettbewerbe, setzte Rosa Feola 2010 ihre Akzente sehr nachhaltig. „É strano…“ aus La Traviata war ihre Arie in der letzten Runde, und damit kam zum zweiten Platz und dem Zarzuela-Preis noch der Publikumspreis und genug Geld, um nicht alles singen zu müssen, was man ihr anbot. „Es gibt heute viel, viel mehr Sänger als früher. Da ist die Konkurrenz groß, und für viele keine Zeit, ihre Stimme zu schützen.“ Wenn nun morgen ein Angebot käme, die Mimì zu singen? „Wissen Sie, was ich an dieser Lucia di Lammermoor hier mag? Es gab fünf Wochen Probe. Es war ein Rollendebüt, da möchte ich wirklich vorbereitet sein. Also, bei fünf Wochen Proben würde ich ich Ja sagen. Aber bei Madame Butterfly – nein, danke, das ist zu früh!“

Mit der Gilda im Rigoletto ist Rosa indessen so vertraut, dass sie mit Regisseuren gern diskutiert. „Ich kann es anders machen, als ich es mir vorstelle, aber ich muss wissen, warum. Das Publikum merkt es, ob du wirklich glaubst,was du machst.“ Und wie ist es mit den angestaubten Rollenbildern? Welche Frau würde sich heute ihrem Vater zuliebe als Mann verkleiden wie Gilda? Und in westlichen Gesellschaften wird keine mehr zwangsverheiratet wie Lucia… „Sind Sie sicher? Es passiert auch in unserer Zeit, dass Frauen nicht die Kraft haben zu sagen, hey, dass bin nicht ich! Dafür muss man sehr stark sein. Ich lebe im Süden Italiens. Da ist es ziemlich neu, dass eine Frau nicht zuhause bleibt, wie der Mann das wünscht, sondern arbeiten geht.“ Ihre Eltern hätten zuerst große Schwierigkeiten damit gehabt, sie alleine reisen zu lassen.

Und was Gilda betrifft: „Sie hat einen Vater, der sie zu sehr schützt und sie damit in den Tod treibt. Das ist sehr realistisch. Wenn du auf die falsche Weise liebst, kannst du jemanden ersticken. Die richtige Weise, Liebe zu zeigen, ist, jemanden frei sein zu lassen.“ Nur noch sieben Minuten bis zum Make-up, und inzwischen ist die Kantine laut und voll. Wir reden im Fahrstuhl weiter und in der Garderobe, über ihre jüngeren Bruder, die ihr in die Musik nachgefolgt sind, der eine als Sänger, der andere als Geiger, „sehr gute Brüder“, sagt sie, „nicht wie dieser…“ Sie macht eine verächtliche Handbewegung und meint den bitteren Enrico, der heute abend seine Schwester in den Wahnsinn treiben wird.

Und dennoch ist es Lucia, die triumphiert. Rosa  Feola singt und spielt all die Männer an die Wand, die diese Lucia in der Basler Inszenierung von Anfang an zum Opfer, zur manipulierten Patientin machen. Welche blühenden, nuancierten Töne, welche Innigkeit und Intensität!  Man vergisst vollkommen, wieviel Kontrolle, Bewusstsein, Balance dahinter stehen, man überhört, aus wie vielen bewährten Bausteinchen Donizetti einst in vier Wochen diese Partie schuf – da ist nur diese Frau, die um ihre Liebe kämpft und in klaren, lebenden Tönen das findet, was man ihr verwehrt. „Für Lucia“, hat Rosa Feola am Nachmittag gesagt, „muss ich mich melancholisch fühlen.“ Jetzt weiß ich, warum sie damit nicht schon morgens anfängt.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 65, dem Magazin der Oper Zürich, im Januar 2019, vor der Wiederaufnahme des Rigoletto mit Rosa Feola als Gild. Das Foto wurde von Jay Nordlinger im August 2019 in Salzburg gemacht.

“Meine Stimme muss mit mir leben”

Angelika Kirchschlager probt in Zürich die schrägste Rolle ihres Lebens und erzählt, warum die Tischlerei dem Weltruhm vorzuziehen ist

An den Streifen arbeiten sie etwas länger. „Stripes, perhaps…“, Mrs. Lovett sieht den Mann ihrer Träume von der Seite an. „Du in einem schönen Marineanzug, und ich… gestreift, vielleicht.“ Keine Antwort, aber wenn ein Typ wie Bryn Terfel den Kopf wendet, ist das schon ein Ereignis. Gesteigert dadurch, dass neben dem reglosen Hünen Angelika Kirchschlager alias Mrs. Lovett vor Lust und Leben vibriert, als sie sich ein Leben an der Küste ausmalt. Jetzt mal mit Fragezeichen: „Stripes, perhaps?” Sie blickt kokett. Das bringt den Regisseur Andreas Homoki auf eine Idee. „Sag es, als wäre es was ganz Unanständiges. Stripes…“ Oh ja, das ist es. Jetzt sind sie schon ein ziemlich süßes Paar, der reaktionsgebremste Serienmörder Mr. Todd und seine Helferin.

sweeney_todd_c_monika_rittershaus_278.640x0

„Mrs. Lovett“, meint ihre Darstellerin beim Treffen in der Probenpause, „ist sehr schräg. Die´s ned allaa, wie man in Österreich so schön sagt. Sie ist nicht ganz alleine. Die hört immer wen“, sie tippt sich an den Kopf. „Ich versuche, sie so normal wie möglich zu spielen, weil sie mich an so viele Menschen erinnert, die herumlaufen und ziemlich wahnsinnig sind, aber gar nicht so auffällig. Ich will ihr wirklich viel Leben einhauchen. Es ist die Musik, die sehr genau festlegt, wie crazy sie wirklich ist.“ Immerhin ist Mrs. Lovett eine, die dem blutrünstigen Barbier in Steven Sondheims Musical beim Entsorgen seiner Opfer hilft, indem sie sie zu schmackhaften Fleischtörtchen verarbeitet. In diese Rolle begibt sich nun eine Sängerin hinein, die trotz ihrer enormen Erfahrung sagt: „Ich lerne so intensiv und viel wie damals, als ich mit neunzehn Jahren begonnen habe, Gesang zu studieren. Wie ein Kind, das gehen lernt!“

Dass dieses „damals“ nicht erst vorgestern war, daraus macht Angelika Kirchschlager überhaupt keinen Hehl. Sie habe jetzt, sagt sie, „genau das richtige Tempo für eine Mittefünfzigjährige, die seit fast dreißig Jahren on the road ist.“ Dabei ist sie nicht mal 53, und wenn sie in ihrer neuesten Rolle den zwei Wochen älteren Bariton Bryn Terfel anbaggert, kommt sie auf höchstens dreißig. So, wie ihre Mrs. Lovett ihr „Yoo-hoo“ singt, möchte man auch gleich gern ein neues Leben am Meer beginnen. „Die Musik ist unglaublich genau auf die Sprache geschrieben“, sagt sie, „und ich bin eigentlich eine verkappte Schauspielerin, die halt auch noch singen muss“, sie lacht schallend.

Nette Untertreibung. Kirchschlagers Octavian im Grazer Rosenkavalier des Jahres 1992 war die Sensation, mit der eine Weltkarriere begann, und als nächster „Leuchtturm“, wie sie solche Wendepunkte nennt, folgte 2002 die Titelrolle in der Londoner Uraufführung von Sophie´s Choice, einer Oper, in der Nicholas Maw die Nöte einer jungen Überlebenden von Auschwitz auf die Bühne bringt. „Tremendously impressive“ nannte der Guardian die Sängerin, die sich damit von der Zeit der Hosenrollen verabschiedete. Mit denen war sie glücklich: „Das sind junge Männer, die ein Problem mit dem Leben haben, Octavian, Cherubino, Idomeneo, Sesto. Die haben mich mehr fasziniert als die Mädels, die ich in der Zeit sang. Despina, Zerlina, Rosina, das sind die Lustigen. Und von der Hosenrolle bin ich direkt zur verrückten Frau umgestiegen, Carmen und Mélisande. Einige Partien gingen schon in Richtung von Mrs. Lovett.“

Zur Opernbühne kam Kirchschlager auch, „weil ich fürs Klavierspiel keine Nerven hatte. Von acht bis achtzehn habe ich am Mozarteum Klavier gelernt. Wir mussten zweimal im Jahr einen Klassenabend machen, aus Noten spielen war nicht erlaubt. Ich bin zweimal pro Jahr ausgestiegen und steckengeblieben.“ Die Salzburgerin zog nach Wien und studierte an der Hochschule Gesang – und sie hatte nie wieder Probleme mit dem Auftritt ohne Noten. „Aber das Singen kam nicht aus dem Nichts. Wir haben zuhause viel gesungen, es gibt sogar eine Tonaufnahme mit mir als Dreijähriger. Mit zehn Jahren stand ich im Kinderchor zum ersten Mal auf einer Opernbühne, und am Gymnasium gab es einen tollen Chor.“

Auch ihr Einstieg in die Welt des Musicals hat eine Vorgeschichte. „Ich habe sicher schon seit zwanzig Jahren Kurt Weill gesungen, viel Wienerlied, ich war mit Konstantin Wecker zwei Jahre auf Tournee. Der hat ein unglaubliches Charisma. Wenn ich mich mit so einem Menschen auf die Bühne stelle, muss ich mich konzentrieren, meinen Atomkern zum Strahlen zu bringen, als Frau. Ich war sozusagen, Yin und Yang, das weibliche Gegenüber von Wecker, und das hat mich schon wachsen lassen.“ Um ihre Stimme sorgt sie sich beim Grenzerweitern nicht: „Meine Stimme muss mit mir leben und nicht ich mit meiner Stimme.“ Dass, wie sie sagt, auch die Probleme des Lebens zum Farbenreichtum der Stimme beitragen, hört man von anderen Sängern nie. Meist wird da eher die Stimme, das kostbare Instrument, vor dem Leben geschützt.

Natürlich hat sie Verantwortung gefühlt für ihre Gabe. „Ich war immer sehr fleißig. Aber im nächsten Leben würde ich es hundertprozentig nicht wieder machen, weil sehr viel Entbehrung dabei ist. Allein vielen Trennungen von meinem Kind! In meinem nächsten Leben werde ich Tischler, völlig klar!“ Sie könne ihre Laufbahn aber schon deswegen gut annehmen, „weil ich gar nichts erzwungen habe, was nicht gut für mich gewesen sein könnte. Ich hatte keine Hürden. Es war genau mein Leben, aber es wurde mir sozusagen bestimmt. Ich bin vom Beginn des Studiums bis zum heutigen Tag durchgezogen worden durch diesen Beruf von einer Kraft… ich weiß nicht, wer dafür zuständig ist!“

Das Schicksal vielleicht? Einmal ließ es aber doch einen Traum platzen, den Traum von einer Carmen „ohne Rüschenrock und Blume im Haar“. Den wollte Jürgen Gosch mit ihr 2009 in Berlin verwirklichen. Vor den Proben erkrankte er schwer, er starb im selben Jahr. Eine alte Inszenierung wurde ausgegraben, „und ich bin hängengeblieben – mit Rüschenrock und Blume im Haar.“ Hinter ihrem Lachen spürt man die Trauer um den großen Regisseur. Mehr Glück hatte sie mit Stanislas Nordey, der ihr 2006 bei den Salzburger Osterfestspielen die Mélisande auf den Leib inszenierte. „Das hat so viel mit mir zu tun gehabt, ich habe dieses Konzept so geliebt, dass es mir die Rolle für jede herkömmliche Produktion verbaut hat. Beim ersten Octavian war es wiederum so, dass ich den in jede Produktion hineinpflanzen konnte. Der hat sich überall wohl gefühlt.“

Und ihre Mrs. Lovett? Ausnahmsweise hat Angelika Kirchschlager sich zur Vorbereitung diesmal darüber orientiert, wie andere mit dieser Rolle umgingen. „Es wäre ja anmaßend, zu sagen, ich mache es einfach wie in der Oper. Es gibt sehr viele Dialoge und Übergänge wie die, wo man zu sprechen beginnt, während die Musik noch spielt. Damit rückt das Stück näher ans Schauspiel heran. Es macht wahnsinnig Spaß, die Stimme so zu mischen.“ Sängerstimmen hatten die bislang berühmtesten Mrs. Lovetts freilich nicht. Angela Lansbury, die 1979 in der Uraufführung sang, ist ebenso eine Schauspielerin wie Helena Bonham Carter, die im Film an der Seite von Johnny Depp spielte. Hier die raue Matrone, dort die zerbrechliche Elfe, „diese Typen sind so unterschiedlich! Mrs. Lovett gibt einem die Möglichkeit, zu machen, was man will.“

Dieses „Was man will“ ist auch ein Zentrum ihrer Arbeit mit Gesangsstudenten. „Ich ermutige sie, eine Meinung zu einer Musik zu haben, Stellung zu beziehen. Man muss sich immer zuerst konzentrieren und erst dann etwas sagen. Das tun die jungen Sänger viel zu selten, weil auch kein Wert darauf gelegt wird. Auf der Suche nach der Technik vergessen sie sich selbst. Daran zu arbeiten, das hat schon fast therapeutische Züge. Wenn sie sich dann wieder selbst spüren, kommen die Farben automatisch dazu. Sich mit sich selbst zu verbinden, das ist, wie wenn man ein Bohrloch macht und das Öl heraussprudelt!“ Kein Wunder also, dass der Zürcher Mr. Todd eine besonders unternehmungslustige Mrs. Lovett an seiner Seite hat. Sie singt, als trüge sie schon längst die stripes.

Dieses Porträt erschien im Magazin des Opernhauses Zürich, MAG 64, November 2018, und ist urheberrechtlich geschützt. Das Foto von Monika Rittershaus (Ausschnitt) zeigt Bryn Terfel und Angelika Kirchschlager in einer Szene aus “Sweeney Todd”. Die Inszenierung von Andreas Homoki hatte am 9. Dezember 2018 Premiere, musikalisch geleitet von David Charles Abbell.

 

“Das könnte von mir sein…”

Ein Treffen am Campo dei Frari mit Claudio Monteverdi und dem Librettisten Francesco Busenello, aus Anlass der neuen Züricher Produktion von “L´incoronazione di Poppea”

Ich bin ein paar Minuten zu früh. Draußen auf ihn warten? Oder drinnen schon Plätze sichern? Und wenn die Bottega del caffé schon voll ist, so wie alle Stühle davor auf dem Campo dei Frari? Die Maisonne knallt auf den Platz, die Touristenströme sind schütterer geworden, man sucht den Schatten. Oder den Markusplatz, nicht diese Ecke des Viertels San Polo. Nochmal auf den Zettel gucken, die Fragen! Idiotische Fragen, es war kaum Zeit zum Vorbereiten. Aber bei diesem Mann kämen sich wahrscheinlich selbst die Musikologen schlecht vorbereitet vor, die seine Musik erforscht haben. Also rein! Lasciate ogni speranza… Alle Tische besetzt, keiner mit ihm. Bravo.

„Professore!” Meint der mich? Ein Mann um die sechzig am Tischchen beim Fenster, rundlich, gemütlich, schelmisches Gesicht, offenes Hemd in Pink, ungewöhnlicher Bart: unter der Nase bis zu den Backen schwingend, überm Kinn ein schmaler Knebelbart, wie, nun ja, im früheren 17. Jahrhundert. Ich trete näher, er nennt meinen Namen, stellt sich vor: „Francesco Busenello, Avvocato, Rechtsanwalt, in Ihrer Sprache. Ich habe sie ein wenig studiert. Als ich Zeit hatte. Sehr viel Zeit…“ Er lächelt verschmitzt. „Eccelenza!“, sage ich, endlich ist der Groschen gefallen, „es ist mir eine Ehre, den Dichter…“ Er hebt abwehrend die Hände. „Heute bin ich Ihr Übersetzer.“

Der Maestro lasse sich gern Zeit, immer noch, nach all den Jahren, „man musste ihn ständig zum Komponieren anhalten und die fertigen Teile aus den Händen reißen, und nach dem Mittagessen wollte er seine Ruhe haben…“ Der Advokat, der Dichter, der Librettist kichert, dass ihm der Bauch wackelt. „Er ist immer noch so. Dabei hat er es nicht weit bis hier. Buona cioccolata!“ Er hebt die von Sahne gekrönte Tasse zum Mund. „Rido, mentre mi porti un sì bel dono.“ Oh je, das ist jetzt der Test. Das ist… Seneca? Er lächelt spitzbübisch. „Nun, was ich ihn sagen lasse. Lachend empfange ich solch edle Gabe… in Wirklichkeit trank er das Gift später, wir haben aus sieben Jahren einen Tag gemacht!“ Er kichert wieder, ich schaue zum Tresen, man holt sich die Getränke wohl selbst; der Barista schaut zum Eingang und macht ein ganz sonderbares Gesicht, ein bisschen, als komme überraschend Staatsbesuch. Ein hochgewachsener älterer Herr in einem eleganten hellen Sommeranzug ist es, und während sein Anzug eher ans Jahr 1900 erinnert, ist der Bart… Busenello springt auf und strahlt. „Maestro!“ Er reicht Monteverdi gerade bis zur Brust. Der beugt sich lächelnd herab und umarmt den Freund. Sie siezen sich, soviel verstehe ich. Inzwischen bin ich auch aufgestanden. Die Leute im Café schauen herüber. Sie kennen ihn nicht, aber diese Erscheinung! Diese Matte von grauem Bart!

220px-Classic_Cappuccino

Normaler Händedruck, fest. Ich weiß nicht, wie man sich 1643 zu begrüßen hatte, aber die späteren Sitten scheinen ihn nicht zu irritieren, er bewegt sich so gelassen, als wäre er Stammgast. Als er sitzt, erscheint der Barista am Tisch, es geht also doch. Zwei Capuccino. Ich habe ein Vakuum im Kopf, aber Busenello plaudert drauflos, ich verstehe „viola da brazzo“, während er auf mich weist. Der Komponist blickt mich an und fragt, das verstehe ich, wer mein Instrument gebaut habe. Baritonal klingt er. „Es ist eine Kopie nach Gasparo da Salò“, sage ich. „Da Salo! Egli era prodigioso“, sagt er anerkennend. Er muss es ja wissen, er hat in Mantua als Bratscher angefangen, in der Kapelle der Familie Gonzaga.

Aber wir wollen ja nicht über Mantua reden. Wie viele Bratschen hat er bei Poppea eingesetzt? Drei? „Wo denken Sie hin?“, antwortet Busenello an des Meisters Stelle. „Das Theater der Familie Grimani hier war kein Hoftheater. Es war zuerst sogar nur eine Bretterbude. Piccola orchestra, o no?“ Ihm würde es auch mit zwei Bratschen gefallen, meint Monteverdi, aber er erinnere sich nicht genau. “Ich war sehr krank nach einer langen Reise, soprafatto da una stravagante debolezza di forze, ich konnte auch vieles gar nicht selbst komponieren, wie Sie wissen.“ „Pur ti miro“, das Schluss-Duett aus Poppea?  „Das hat Ferrari gemacht, sehr gut. Sehr modern.“ Seine braunen Augen funkeln, und Busenello blickt plötzlich finster drein: „Aber der Text!“ Zum ersten Mal höre ich Monteverdi lachen, er packt den Librettisten an der Schulter und redet begütigend, der zieht ein uraltes Bändchen aus dem Jackett, das hinter ihm hängt, blättert von hinten: „Hier, so habe ich es geschrieben, mit Venus und Amor am Schluss, wie es sich gehört.“ So hat er selbst es 1656 drucken lassen in Delle hore ociose, “Aus müßigen Stunden”, fünf Libretti, davon vier für Cavalli. „Hat Cavalli auch etwas zur Poppea beigetragen, Maestro?“ „Die erste Sinfonia, und noch mehr…“ Er betrachtet nachdenklich eine junge Frau, die ihm im Vorbeigehen zulächelt. „Anna Renzi…“, sagt er. „Anna Renzi war auch so schön. Unsere Ottavia.“ „Poppea sang aber noch besser“, meint Busenello, „wegen Anna di Valerio wollten sie das Stück in Paris haben!“

„Da hätte die Truppe noch viel verdienen können. Hunderttausende von Scudi…“ „Was musste man denn bezahlen, im Grimani?“ „Oh, nicht viel“, sagt Busenello, „vielleicht einen halben Scudo. Vier Lire. Soviel wie für eine puttana, eine Straßendirne. Das konnte jeder bezahlen.“ Monteverdi runzelt die Stirn und rechnet ihm etwas vor. „Also gut, nicht jeder. Ein Arbeiter bekam vier Lire am Tag. Keiner von denen hat das für einen bolettino ausgegeben. Das Haus war trotzdem voll.Voll mit cortigiane!“ Er lacht, und der Meister korrigiert: „Cortigiane oneste.“ „Ja, natürlich. Die haben Poppea geliebt! Was ist sie denn anderes als eine Kurtisane!“ „Die Gemahlin von Ottone, dachte ich…“ Busenello zieht mit einem Finger sein rechtes Augenunterlid herab und blickt mich mitleidig an. „Sie werden doch bemerkt haben, dass sie sich gezielt nach oben schläft! Kaum ist sie mit Nero vom Laken gestiegen, stellt sie sich schon den königlichen Mantel vor, den sie tragen wird.“

„Ma imaginario manto…“, langsam und tief singt Monteverdi die Zeile und ergänzt nach kurzem Nachdenken: „Das könnte von mir sein.“ Inzwischen verstehe ich ihn auch so. „Aber Sie verurteilen Poppea nicht?“ „Niemanden. Die Gebräuche der Zeit, in der ich lebe…“ „…sind mir nicht fremd“, vollendet Busenello das Zitat lächelnd. „Korruption bis ins Bett, politische Morde, Regierungen, die viele berauben, um die Taschen weniger zu füllen – lange her, nicht wahr?“ Und Venedig sei ja fast harmlos gewesen, damals. „Jetzt macht die Geldgier die ganze Stadt kaputt. Diese Riesenschiffe!“ „Man hätte weder sie noch die Brücke zum Land bauen sollen“, sagt der Komponist.

„Aber Ihr Markusdom steht noch, Maestro.“ Er streicht sich ein Flöckchen Milchschaum vom Bart. „Haben Sie gehört, was da gespielt wird, gesungen? Selbst Aldegati, dieser Idiot von einem Sänger, würde darüber in Tränen ausbrechen.“ „Und hier gegenüber, die Scuola di San Rocco?“ „Schon besser. Nur hat uns auch San Rocco nicht helfen können, der Beschützer vor der Pest. Sie wissen, mein Freund Striggio…“ Alessandro Striggio, Librettist des Orfeo, war eines von 45.000 Opfern hier, Sommer 1630. „Sind Sie deswegen Priester geworden, im Jahr danach?“ „Auch deswegen.“ Busenello blickt mich warnend an. Als wenn es mir in den Sinn käme, nach den Pfründen eines Geistlichen zu fragen. Er brauchte immer Geld für seine Söhne. Ich wage nicht zu fragen, ob er auch die mitunter trifft, wie den munteren Advokaten. „Il tempo tutto frange“, sagt der Meister unvermittelt, „die Zeit zerbricht alles. Heute lacht man, und dann, morgen, weint man.“ Er blickt auf; die junge Dame von vorhin hat sich unserem Tisch genähert, leise spricht sie mit Busenello und zeigt auf ihr Smartphone. „Sie meint, Sie sähen einem berühmten Komponisten ähnlich! Nein, bitte, signora, kein Foto.“

Sie würde darauf nur einen deutschen Touristen mit drei leeren Tassen vor sich sehen. Wir stehen auf. „Seltsam, dass sie ihn erkannt hat! Normalerweise kann er sich in Italien frei bewegen. Nur nördlich der Alpen wird es schwierig“, Busenello kichert wieder, „Sie spielen zu viel Monteverdi da oben!“

Dieser Text erschien im Magazin der Oper Zürich, MAG 60, Juni 2018, und ist urheberrechtlich geschützt