“Das könnte von mir sein…”

Ein Treffen am Campo dei Frari mit Claudio Monteverdi und dem Librettisten Francesco Busenello, aus Anlass der neuen Züricher Produktion von “L´incoronazione di Poppea”

Ich bin ein paar Minuten zu früh. Draußen auf ihn warten? Oder drinnen schon Plätze sichern? Und wenn die Bottega del caffé schon voll ist, so wie alle Stühle davor auf dem Campo dei Frari? Die Maisonne knallt auf den Platz, die Touristenströme sind schütterer geworden, man sucht den Schatten. Oder den Markusplatz, nicht diese Ecke des Viertels San Polo. Nochmal auf den Zettel gucken, die Fragen! Idiotische Fragen, es war kaum Zeit zum Vorbereiten. Aber bei diesem Mann kämen sich wahrscheinlich selbst die Musikologen schlecht vorbereitet vor, die seine Musik erforscht haben. Also rein! Lasciate ogni speranza… Alle Tische besetzt, keiner mit ihm. Bravo.

„Professore!” Meint der mich? Ein Mann um die sechzig am Tischchen beim Fenster, rundlich, gemütlich, schelmisches Gesicht, offenes Hemd in Pink, ungewöhnlicher Bart: unter der Nase bis zu den Backen schwingend, überm Kinn ein schmaler Knebelbart, wie, nun ja, im früheren 17. Jahrhundert. Ich trete näher, er nennt meinen Namen, stellt sich vor: „Francesco Busenello, Avvocato, Rechtsanwalt, in Ihrer Sprache. Ich habe sie ein wenig studiert. Als ich Zeit hatte. Sehr viel Zeit…“ Er lächelt verschmitzt. „Eccelenza!“, sage ich, endlich ist der Groschen gefallen, „es ist mir eine Ehre, den Dichter…“ Er hebt abwehrend die Hände. „Heute bin ich Ihr Übersetzer.“

Der Maestro lasse sich gern Zeit, immer noch, nach all den Jahren, „man musste ihn ständig zum Komponieren anhalten und die fertigen Teile aus den Händen reißen, und nach dem Mittagessen wollte er seine Ruhe haben…“ Der Advokat, der Dichter, der Librettist kichert, dass ihm der Bauch wackelt. „Er ist immer noch so. Dabei hat er es nicht weit bis hier. Buona cioccolata!“ Er hebt die von Sahne gekrönte Tasse zum Mund. „Rido, mentre mi porti un sì bel dono.“ Oh je, das ist jetzt der Test. Das ist… Seneca? Er lächelt spitzbübisch. „Nun, was ich ihn sagen lasse. Lachend empfange ich solch edle Gabe… in Wirklichkeit trank er das Gift später, wir haben aus sieben Jahren einen Tag gemacht!“ Er kichert wieder, ich schaue zum Tresen, man holt sich die Getränke wohl selbst; der Barista schaut zum Eingang und macht ein ganz sonderbares Gesicht, ein bisschen, als komme überraschend Staatsbesuch. Ein hochgewachsener älterer Herr in einem eleganten hellen Sommeranzug ist es, und während sein Anzug eher ans Jahr 1900 erinnert, ist der Bart… Busenello springt auf und strahlt. „Maestro!“ Er reicht Monteverdi gerade bis zur Brust. Der beugt sich lächelnd herab und umarmt den Freund. Sie siezen sich, soviel verstehe ich. Inzwischen bin ich auch aufgestanden. Die Leute im Café schauen herüber. Sie kennen ihn nicht, aber diese Erscheinung! Diese Matte von grauem Bart!

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Normaler Händedruck, fest. Ich weiß nicht, wie man sich 1643 zu begrüßen hatte, aber die späteren Sitten scheinen ihn nicht zu irritieren, er bewegt sich so gelassen, als wäre er Stammgast. Als er sitzt, erscheint der Barista am Tisch, es geht also doch. Zwei Capuccino. Ich habe ein Vakuum im Kopf, aber Busenello plaudert drauflos, ich verstehe „viola da brazzo“, während er auf mich weist. Der Komponist blickt mich an und fragt, das verstehe ich, wer mein Instrument gebaut habe. Baritonal klingt er. „Es ist eine Kopie nach Gasparo da Salò“, sage ich. „Da Salo! Egli era prodigioso“, sagt er anerkennend. Er muss es ja wissen, er hat in Mantua als Bratscher angefangen, in der Kapelle der Familie Gonzaga.

Aber wir wollen ja nicht über Mantua reden. Wie viele Bratschen hat er bei Poppea eingesetzt? Drei? „Wo denken Sie hin?“, antwortet Busenello an des Meisters Stelle. „Das Theater der Familie Grimani hier war kein Hoftheater. Es war zuerst sogar nur eine Bretterbude. Piccola orchestra, o no?“ Ihm würde es auch mit zwei Bratschen gefallen, meint Monteverdi, aber er erinnere sich nicht genau. “Ich war sehr krank nach einer langen Reise, soprafatto da una stravagante debolezza di forze, ich konnte auch vieles gar nicht selbst komponieren, wie Sie wissen.“ „Pur ti miro“, das Schluss-Duett aus Poppea?  „Das hat Ferrari gemacht, sehr gut. Sehr modern.“ Seine braunen Augen funkeln, und Busenello blickt plötzlich finster drein: „Aber der Text!“ Zum ersten Mal höre ich Monteverdi lachen, er packt den Librettisten an der Schulter und redet begütigend, der zieht ein uraltes Bändchen aus dem Jackett, das hinter ihm hängt, blättert von hinten: „Hier, so habe ich es geschrieben, mit Venus und Amor am Schluss, wie es sich gehört.“ So hat er selbst es 1656 drucken lassen in Delle hore ociose, “Aus müßigen Stunden”, fünf Libretti, davon vier für Cavalli. „Hat Cavalli auch etwas zur Poppea beigetragen, Maestro?“ „Die erste Sinfonia, und noch mehr…“ Er betrachtet nachdenklich eine junge Frau, die ihm im Vorbeigehen zulächelt. „Anna Renzi…“, sagt er. „Anna Renzi war auch so schön. Unsere Ottavia.“ „Poppea sang aber noch besser“, meint Busenello, „wegen Anna di Valerio wollten sie das Stück in Paris haben!“

„Da hätte die Truppe noch viel verdienen können. Hunderttausende von Scudi…“ „Was musste man denn bezahlen, im Grimani?“ „Oh, nicht viel“, sagt Busenello, „vielleicht einen halben Scudo. Vier Lire. Soviel wie für eine puttana, eine Straßendirne. Das konnte jeder bezahlen.“ Monteverdi runzelt die Stirn und rechnet ihm etwas vor. „Also gut, nicht jeder. Ein Arbeiter bekam vier Lire am Tag. Keiner von denen hat das für einen bolettino ausgegeben. Das Haus war trotzdem voll.Voll mit cortigiane!“ Er lacht, und der Meister korrigiert: „Cortigiane oneste.“ „Ja, natürlich. Die haben Poppea geliebt! Was ist sie denn anderes als eine Kurtisane!“ „Die Gemahlin von Ottone, dachte ich…“ Busenello zieht mit einem Finger sein rechtes Augenunterlid herab und blickt mich mitleidig an. „Sie werden doch bemerkt haben, dass sie sich gezielt nach oben schläft! Kaum ist sie mit Nero vom Laken gestiegen, stellt sie sich schon den königlichen Mantel vor, den sie tragen wird.“

„Ma imaginario manto…“, langsam und tief singt Monteverdi die Zeile und ergänzt nach kurzem Nachdenken: „Das könnte von mir sein.“ Inzwischen verstehe ich ihn auch so. „Aber Sie verurteilen Poppea nicht?“ „Niemanden. Die Gebräuche der Zeit, in der ich lebe…“ „…sind mir nicht fremd“, vollendet Busenello das Zitat lächelnd. „Korruption bis ins Bett, politische Morde, Regierungen, die viele berauben, um die Taschen weniger zu füllen – lange her, nicht wahr?“ Und Venedig sei ja fast harmlos gewesen, damals. „Jetzt macht die Geldgier die ganze Stadt kaputt. Diese Riesenschiffe!“ „Man hätte weder sie noch die Brücke zum Land bauen sollen“, sagt der Komponist.

„Aber Ihr Markusdom steht noch, Maestro.“ Er streicht sich ein Flöckchen Milchschaum vom Bart. „Haben Sie gehört, was da gespielt wird, gesungen? Selbst Aldegati, dieser Idiot von einem Sänger, würde darüber in Tränen ausbrechen.“ „Und hier gegenüber, die Scuola di San Rocco?“ „Schon besser. Nur hat uns auch San Rocco nicht helfen können, der Beschützer vor der Pest. Sie wissen, mein Freund Striggio…“ Alessandro Striggio, Librettist des Orfeo, war eines von 45.000 Opfern hier, Sommer 1630. „Sind Sie deswegen Priester geworden, im Jahr danach?“ „Auch deswegen.“ Busenello blickt mich warnend an. Als wenn es mir in den Sinn käme, nach den Pfründen eines Geistlichen zu fragen. Er brauchte immer Geld für seine Söhne. Ich wage nicht zu fragen, ob er auch die mitunter trifft, wie den munteren Advokaten. „Il tempo tutto frange“, sagt der Meister unvermittelt, „die Zeit zerbricht alles. Heute lacht man, und dann, morgen, weint man.“ Er blickt auf; die junge Dame von vorhin hat sich unserem Tisch genähert, leise spricht sie mit Busenello und zeigt auf ihr Smartphone. „Sie meint, Sie sähen einem berühmten Komponisten ähnlich! Nein, bitte, signora, kein Foto.“

Sie würde darauf nur einen deutschen Touristen mit drei leeren Tassen vor sich sehen. Wir stehen auf. „Seltsam, dass sie ihn erkannt hat! Normalerweise kann er sich in Italien frei bewegen. Nur nördlich der Alpen wird es schwierig“, Busenello kichert wieder, „Sie spielen zu viel Monteverdi da oben!“

Dieser Text erschien im Magazin der Oper Zürich, MAG 60, Juni 2018, und ist urheberrechtlich geschützt