„Ich muss dich lassen…“

Abschied gibt es in der Musik nicht nur da, wo von ihm die Rede ist. Über berühmte Addios, verklingende Töne und einen abfahrenden Zug

Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät?“ Den heitersten Abschied der Musikgeschichte verdanken wir Fred Strittmatter. Er schrieb das Lied für den Abspann der Zeichentrickserie „Der rosarote Panther“, die ab 1973 im ZDF lief. Woche für Woche nahmen die Kinder Abschied vom schlanken Panther Paul, der jedesmal versicherte: „Heute ist nicht alle Tage, ich komm´ wieder, keine Frage“. Das ist ja beim Abschiednehmen auch der Normalfall, und nicht „des Lebewohles letzter Kuss“ (Wotan), geschweige denn das „Avanti a dio!“ bzw. „Ahhh!“, mit dem Titelhelden wie Tosca und Don Giovanni aus dem Leben scheiden – wofür „Abschied“ freilich eine etwas euphemistische Wortwahl ist – oder jenes berühmte „Addio, terra, addio Cielo, e Sole addio“, mit dem Orfeo seiner Euridice in die Unterwelt folgt. Gibt es in der Oper überhaupt Abschiede ohne Mord, Sturz, Höllenfahrt, Tod und Verklärung?

Die findet man in der Musik eher jenseits der Bühne: Bachs Capriccio sopra la lontananza del suo fratello dilettissimo zur Abreise seines Bruders aus Arnstadt schildert die Sorgen und Klagen der Freunde ebenso wie den Postwagen, Beethoven folgt in der Sonate Les Adieux dem Weg der kaiserlichen Familie, die 1809 vor den Franzosen aus Wien floh und 1810 zurückkehrte. Der 16-jährige Chopin schrieb für seinen Warschauer Schulfreund Wilhelm ein elegisches Adieu à Guillaume Kolberg. „Und Haydn!“, rufen jetzt die Oberstudienräte, „die Abschiedssinfonie!“ Ja, und noch rund 60 Werke. Alle Abschiede in der Instrumentalmusik hat vor bald 20 Jahren der niedersächsische Bibliothekar Klaus Schneider gesammelt, im ersten (von vier!) Bänden seines Lexikon Programmusik, welcher alles von „Abenddämmerung“ bis „Zorn“ enthält. Man fragt sich ja mitunter, wem solche Kompendien helfen sollen – voilà!

Ein ähnliches Unterfangen für Lieder würde beim Thema „Abschied“ ausufern: Robert Schumann lässt seine Sänger Abschied vom Walde, von Frankreich und der Welt nehmen, bei Schubert trennen sie sich von der Harfe, der „schönen Erde“ und der „munteren, fröhlichen Stadt“. Zu großem Orchester hört man seit 1908 die Worte „Die Sonne scheidet hinter dem Gebirge, in alle Täler steigt der Abend nieder…“ Und, erraten? „Er stieg vom Pferd und reichte ihm den Trunk des Abschieds dar…“ Das ist Der Abschied in Mahlers Lied von der Erde. Ein trauriger übrigens, denn da sucht einer „Ruhe für mein einsam Herz“. Schon das älteste Abschiedslied, Insbruck, ich muß dich laßen, um 1500 entstanden, wird von einem Vereinsamten gesungen – und später als Choralmelodie berühmt. Schon möglich, dass es längst eine Dissertation Zur Semantik des Abschieds in der Musik gibt – allerdings werden emotionale Phänomene aller Art in der Musik ja nicht nur da berührt, wo sie offenkundig gemeint sind.

Man kann, da schon von Chopin die Rede war, auch seine späte Cellosonate als ein Werk des Abschieds hören, nicht im Hinblick auf sein 1847 schon recht nahes Ende, sondern das seiner Beziehung zu George Sand, als eine große, dialogische Erzählung der gemeinsamen neun Jahre – denn zum ersten Mal und mitten in der Beziehungskrise lässt der Klavierpoet hier zwei Instrumente in den Dialog treten. Allerdings hätte man viel zu tun und noch mehr zu spekulieren, wollte man alle Lebenskrisen schöpferisch tätiger Menschen zu ihren Werken in Bezug setzen, wenn sie es nicht – wie Berlioz oder Berg – gelegentlich selbst tun. Unser Interesse daran ist legitim, aber es spiegelt die Tatsache, dass wir immer auch uns selbst in der Kunst suchen. Und wem nach Abschied zumute ist, wehmütig oder wutentbrannt, demütig oder aufbruchsfroh, der wird ihn in der Musik auch da finden, wo ihre Komponisten einfach nur Kaffee tranken.

Und manches Departieren ist doch besser zu beschreiben als zu vertonen, so, wie Louis Spohr das in seiner Selbstbiographie tut. Er besuchte im Juni 1846 den Freund Felix Mendelssohn, der dem Geiger sein zweites Klaviertrio gewidmet hatte und es in Leipzig mit ihm spielte. Als Mendelssohn mit einigen Freunden am nächsten Tag das Ehepaar Spohr zum Bahnhof begleitete, war er „noch der Letzte, der bei anfangs langsamem Fortschreiten des Zuges noch eine ganze Strecke neben dem Wagen herlief, bis es nicht mehr anging, und seine freundlich glänzenden Augen waren der letzte Eindruck, den die Reisenden von Leipzig mitnahmen…“ Reizvoll, dazu die passende Musik zu suchen. Oder das besagte c-Moll-Trio als Kontrast zu hören, das viel zu dramatisch ist…

Auf eine Weise ist Abschied aber in allen Tönen, unausweichlich, denn es gehört zu ihrem Wesen, dass sie verklingen – sogar in Halberstadt, wo an einer Orgel noch bis zum Jahr 2640 Tag und Nacht John Cages „As slow as possible“ aufgeführt wird, seit 2001 aber auch schon ein paar Töne verklungen sind. Auf extreme Art zögert Cage den Abschied, das Enden einer Musik so hinaus, wie es in kleinerem Format Kadenzen und Koloraturen tun. Selbst wenn Musik noch so bequem verfügbar ist – der Moment des Berührtseins, Erreichtseins, Verstandenseins in den Tönen ist wie eine Begegnung mit einem Menschen, die ihre Dauer hat und nicht wiederholbar ist: Beim nächsten Mal werden beide wieder etwas anders sein und die Umstände auch. Auch das könnte ein Grund dafür sein, warum die Leute weiterhin Konzerte besuchen, anstatt es beim Belauschen ihrer Lieblingsaufnahmen zu belassen: Da findet eine echte Begegnung statt, mit guter Aussicht auf eine Wiederbegegnung.

Dieser Text erschien im Magazin 128 der Berliner Philharmoniker im Juni 2018 zum Heftthema “Goodbye, Sir Simon”. Er ist urheberrechtlich geschützt