Leipziger Tetralogie IV: Taxifahrt zum Gipfelwerk

Zu seinem 250. Jubiläum 1993 spielte das Gewandhausorchester das „Offertorium“ von Sofia Gubaidulina mit Gidon Kremer als Solist – eine fulminante Erstaufführung im Leipzig der frühen „Wende“-Jahre. Der Mitschnitt zeigt, wie autarke Musik den Nerv jeder Zeit treffen kann.

Viele Geschichten beginnen im Taxi, aber selten die eines Violinkonzerts. Das Neue Gewandhaus zu Leipzig war noch im Bau, 1977, als knapp zweitausend Kilometer weiter östlich ein junger Geiger, unterwegs in Moskau, sich vom Beifahrersitz nach hinten wandte und sagte: „Sofia, warum schreiben Sie nicht mal ein Violinkonzert?“ Er war dreißig Jahre alt und schon weltberühmt, Gidon Kremer. Die 46-jährige Frau auf dem Rücksitz war fast nur Insidern bekannt. Sofia Gubaildulina, 1931 in Tschistopol geboren, lebte in einer Moskauer Zweizimmerwohnung, schlug sich mit Filmmusik durch, ging aber eigensinnig ihren Weg als Komponistin, ohne Rücksicht auf staatskonforme Ästhetik. Eine „Quelle im Verborgenen“ hatte Kremer zu hören geglaubt bei einer der wenigen Aufführungen ihrer Musik, er wollte mehr davon hören, gern etwas spielen.

Sie gestand, vor so einem Projekt habe sie Angst. Er sagte ein paar aufmunternde Worte und vergaß die Sache. Sie nicht. „Für mich waren diese Worte etwas besonderes“, erinnert sich Sofia Gubaidulina. „Gerade im Spiel von Gidon habe ich zum ersten Mal gespürt, dass in der Kunst die Möglichkeit existiert, sich zu opfern. Sich selbst hingeben für den Ton, für Einzelheiten. Sich selbst opfern für die Liebe, in diesem Fall die Kunst.“ Sie begann, für ihn zu schreiben, Unterstützung suchend bei einem Großen, bei dem sie „Opferung im Zentrum der geistigen Aktivität“ sah und der der Welt selbst ein „Musikalisches Opfer“ geschenkt hatte: Johann Sebastian Bach. Das „königliche Thema“, von dem er ausging, würde in ihr Violinkonzert hineinführen und sich darin verlieren. Sie nannte es Offertorium und arbeitete daran zwei Jahre lang.

Als Kurt Masur am 11. März 1993 in Leipzig den Einsatz gibt und eine gedämpfte Posaune das d spielt, dem im Fagott ein f folgt, in der Trompete das a und im Horn das Abwärtsintervall b-cis, die DNA des Offertorium, da ist die Welt längst eine andere geworden seit jener Taxifahrt. Die DDR, in der das Gewandhaus 1981 eröffnet wurde, gibt es nicht mehr und ebenso wenig die Sowjetunion, die Gidon Kremer schon 1980 verlassen hat. Die fertige Partitur, ihm gewidmet, hat ihn in jenem Jahr im Westen erreicht und überrascht, er hat sie begeistert studiert, schon 1981 in Wien uraufgeführt und, noch wichtiger, gegen den zähneknirschenden Widerstand der Deutschen Grammophon, seines Labels, eine Aufnahme durchgesetzt. Sie ist 1989 erschienen, dem Jahr, als den Deutschen zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Revolution gelang.

Hier muss nicht wieder erzählt werden, welche Rolle der Kapellmeister des Gewandhausorchesters, Kurt Masur, in ihrem unblutigen Verlauf gespielt hat. Der 66-jährige befindet sich auf dem Gipfel seines Ansehens, als es 1993 ein rundes Jubiläum des Orchesters zu feiern gilt: Am 11. März 1743 haben Leipziger Bürger „das Große Concert angeleget“. Aus einem Ensemble sechzehn festbestallter Musiker, die zunächst in bürgerlichen Wohnzimmern, dann in einem Gasthaus konzertieren, ist seitdem ein Orchester mit 185 Mitgliedern geworden, denen einer der akustisch besten Konzertsäle der Welt zur Verfügung steht. Das Festkonzert dort beginnt mit Richard Wagners Meistersinger-Vorspiel, das von eben diesem Orchester unter der Leitung des Komponisten 1862 uraufgeführt wurde, es endet mit einem Auftragswerk von Siegfried Matthus, einer Sinfonie mit Chor und Sopran.

Und in der Mitte steht eine der bedeutendsten Kompositionen des späten 20. Jahrhunderts – denn das ist Gubaidulinas Offertorium. Bohrend und tanzend, heiser und aggressiv, singend, kämpfend, fortspinnend führt darin die Geige das Orchester durch Klangwelten von magischer Kraft. Wie Trompetenschreie ineinanderschmelzen oder Posaunen scratchen, wie sich lichte Inseln über dunklen Weiten bilden, wie ein Streicherchoral von einer rätselhaften Chiffre aus Klavier, Harfe und Gong im Ungewissen gehalten wird, das alles entfaltet sich in einer Partitur von einzigartiger Sogkraft, mit der die Komponistin so spät wie schnell bekannt geworden ist. Die westliche Avantgarde, lange in Hinterfragungsritualen verzettelt, bestaunt die Gewissheit, mit der hier Neues geschieht, ohne neue Techniken und Tonsysteme. Adornos Forderung nach „Materialfortschritt“ erscheint daneben historisch geworden, und man begreift nicht mehr, warum es je die Kategorie woman composers gab.

Sofia_Gubaidulina_July1981_Sortavala_©DSmirnovDie Komponistin im Juli 1981, zwei Monate nach der Uraufführung des Offertorium.

Sofia Gubaidulina, die seit 1992 in der Nähe von Hamburg lebt, inzwischen wohlversehen mit Aufträgen und, unter anderem, dem Staatspreis der neuen Russischen Föderation, ist selbst nach Leipzig gereist, um den Geiger zu hören, der ihr Werk der Welt bekannt gemacht und ihr Leben verändert hat. Gidon Kremer, jetzt 46 Jahre alt, ist in bester Form – was im Mitschnitt dieses Abends auch deswegen besonders deutlich wird, da die Tontechniker des Gewandhauses das Orchester zugunsten des Solisten gedrosselt haben. Man hört jedes Körnchen Kolophonium auf den Haaren seines Bogens – den er mitunter delikater führt als in seiner Erstaufnahme des Konzerts. Dafür aber verliert eine so überwältigende Passage wie das piu mosso des Orchesters nach Ziffer 14 ihre Wucht und Schärfe. Die Wucht, was die aufsteigenden dunklen Wogen der Streicher betrifft, die Schärfe in der gellenden Trompetendissonanz danach.

Das ist tatsächlich eine Frage der Aufnahmebalance, von der man den Eindruck hat, dass sie in den Minuten danach korrigiert wird. Der Orchesterklang an sich hat eher noch mehr Leben als die folgenreiche Ersteinspielung mit dem Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von Charles Dutoit. Vor allem scheinen die Musiker mit dem Solisten direkt im Kontakt zu sein. Da ist nichts zu spüren vom In-Gang-kommen-müssen, das manche Traditionsorchester hören lassen, wenn es auf neue Wege geht – und das zu diagnostizieren sich der Kritiker der Süddeutschen Zeitung an diesem Abend offenbar fest vorgenommen hat: Von Kremer, wird er schreiben, ließen sich die Musiker „kaum mitreißen, ihre gepflegte Routine zu verlassen.“ Was sie, dank der autarken Rückbindung der Komponistin an den Fundus der Musikgeschichte, tatsächlich nicht verlassen müssen, ist die in 150 Jahren gewachsene Vertrautheit dieses Ensembles mit den großen, emphatischen Bögen der Romantik, offen oder verborgen, mit einer unmittelbar sinnlichen Klangentfaltung, für die ihr Dirigent mehr steht als für das „Sprechende“.

Das kann man eher vermissen im Meistersinger-Vorspiel, in dem zu Beginn des Abends stattlich und monumental eher die Leistungsfähigkeit des Orchesters zelebriert worden ist, als dass klingend über Quellen, Bedingungen und Ziele eines deutschen Komponisten im Jahre 1862 nachgedacht würde, geschweige denn über den Missbrauch der Meistersinger als einer „nationalen“ Musik im „Dritten Reich“. Nicht wenige Gäste wundern sich, dass der berühmteste aller Gewandhauskapellmeister, Felix Mendelssohn, als Komponist ausgerechnet im Jubiläumskonzert fehlt. Auch seinetwegen hat Leipzig hat an diesem Tag guten Grund zu jenem Stolz, den Richard von Weizsäcker anschließend mit charmanter Ironie anspricht: „Leipzig ist Musik“, habe er auf Plakaten gelesen. „Das ist ein stolzes Wort, bei dem man spürt, wie im Kampf mit der Bescheidenheit die Wahrheitsliebe schließlich gesiegt hat.“ Das Publikum reagiert mit beifälligem Gelächter. Und die Musiker, um zu Gubaidulinas Konzert zurückzukommen, machen es sich nicht bequem: Es ist enorm spannend, was man da erlebt.

„Spannend“ ist übrigens eines der meist gebrauchten Adjektive im Leipzig der frühen 1990er, dem einzigen der in dieser Serie von Konzertrückblicken gestreiften Jahrzehnte, das der Autor selbst in Leipzig erlebt hat – 1994 als „Westler“ hingezogen für drei Jahre, im eigenen Verständnis weniger als Westler denn als Musikjournalist, den die in die Gegenwart verlängerte Musikgeschichte dieser Stadt eher anzog als das Abenteuer einer Umbruchzeit. Wer sie „spannend“ nannte, wollte sich ihrer Dramatik entziehen, doch der entging keiner im Chaos unterschiedlicher Mentalitäten , zwischen brodelndem Aufbruch einerseits und verrottenden Bauten andererseits – darunter noch das ehemalige Wohnhaus des Gewandhauskapellmeisters Felix Mendelssohns -, zwischen karriereversessenen „Wessis“ und um ihre Identität ringenden „Ossis“, deren wenigste sich, wie die Gewandhausmusiker oder Thomaner, von jahrhundertealter Tradition getragen sehen konnten. Vor diesem Hintergrund war der Slogan „Leipzig ist Musik“ auch eine Selbstvergewisserung.

Eine solche hat Kurt Masur für das Festkonzert denn auch in Auftrag gegeben, eine Sinfonie, die geradezu theatralisch die Entwicklung des Gewandhausorchesters nachzeichnet – in seiner nach Köpfen zählbaren Größe. Zuerst sind es sechzehn Musiker, die spielen, wie im Gründungsdokument von 1743 verzeichnet, das in einem Vorspruch zur Gitarre die Thomanerknaben singend verlesen, am Ende sind es 180 Musiker plus Orgel, Sopranistin und ganzem Chor. Komponist dieser aufwändigen Dreiviertelstunde ist Siegfried Matthus, 1934 geboren, drei Jahre nach Sofia Gubaidulina also, aber anders als sie nicht auf Einsamkeiten im Schatten sozialistischer Kunstdoktrin zurückblickend. Einst Meisterschüler von Hanns Eisler, seit 1985 selbst Kompositionsprofessor an der Berliner Akademie der Künste, hat er sich mit der DDR gut zu arrangieren gewusst.

Ihm vertraute man für das 200. Jubiläum des Pariser Sturms auf die Bastille im Sommer 1989 eine Oper über den Volkstribunen Mirabeau an, zeitgleich in beiden deutschen Staaten uraufgeführt, ehe dem Gedenken der französischen Revolution überraschend eine reale deutsche Revolution folgte. Auch hier war Matthus involviert, denn zum 40. Jahrestag der DDR wurde in Leipzig eine seiner Kompositionen gespielt. „Am Abend des 9. Oktober 1989, dem Höhepunkt der großen Demonstrationen in Leipzig, wurde vom Gewandhausorchester (…) mein Konzert für Trompete, Pauken und Orchester aufgeführt. Mit den Demonstranten, vorbei an dem unheimlichen Aufgebot von Polizei und Armee, bahnte ich mir den Weg zum Aufführungsort“, erinnert sich Matthus im Programmheft vom März 1993. Seiner Zeitzeugenschaft wegen hat er auch dieses 1989er Paukenkonzert zitiert in seiner Sinfonie zum Jubiläum.

Dass diese „Gewandhaus-Sinfonie“ nicht ins Repertoire finden würde, mag auch der Komponist geahnt haben, der von einer „unendlich schweren Aufgabe“ sprach. Durch Fokussierung auf einen repräsentativen Anlass wird kreatives Potential eher begrenzt als freigesetzt, und der programmatische Weg vom Gründungsdokument bis zum Gebet eines Franz von Assisi, der die Musik als „Werkzeug des Friedens“ besingt, vom beflissenen Beschwören des B-A-C-H-Motivs bis zur Entfesselung aller Orchesterkräfte überfordert sogar das Konzept einer großen Erzählung, wie sie hier angestrebt wird – und im Rückblick tapfer bis anachronistisch wirkt. Denn während manche schon die Harmonie auf Erden in Sichtweite wähnten, begann die globale Gesellschaft sich in diesen Jahren zu destabilisieren und in einer digitalen Revolution neu zu formatieren.

Um so interessanter ist der Mitschnitt als Zeitdokument, als Versuch, noch einmal die im 19. Jahrhundert entstandene Fortschrittsperspektive einzunehmen – in diesem Fall eine bürgerliche und nicht marxistische. Darin werden alle musikalischen Mittel, so virtuos sie gehandhabt sind, zu Versatzstücken – was zumindest ein englischer Kritiker schon 1993 so wahrnimmt. Andrew Clark, für die Financial Times zum Festkonzert angereist wie Kollegen aus Frankreich, der Schweiz, von vielen deutschen Medien, konstatiert höflich die „Faszination des Merkwürdigen“, hört aber „etwas Kleinteiliges, durchschossen von verblasster modernistischer Kolorierung, das kaum den Geist erhebt“. Wenn aber nach schier alpensymphonischen Auftürmungen und dröhnendem Orgelakkord im Finale die Sopranistin Regina Klepper anrührend die Worte des Franziskus singt, vom Komponisten behutsam und nicht fern von Mahler gesetzt, dann weicht das angestrengt Affirmative. Und im einsamen hohen Schlusston h der Solovioline ist Matthus seiner Kollegin nicht fern.

Im Offertorium spannt Gidon Kremer das finale, höchste d als zerbrechlichen Faden, der über sanftestem Paukengrollen nicht reisst, nicht einmal endet, sondern über die erklingende Musik hinauszuweisen scheint. Ein Ende im erzählendem Sinn kann diese Partitur ohnehin nicht haben. Sie hat eine Entwicklung, aber mehr noch ereignet sie sich. „Manchmal“, sagte Sofia Gubaidulina drei Jahre vor dem Leipziger Konzert, „habe ich zuerst einen geheimnisvollen Klang im Kopf, der ist ganz undefinierbar, aber es ist, als ob das ganze Werk gleichzeitig erscheint. Das ist wie ein Geschenk vom Himmel, und ich muss antworten.“ Ist das auch anachronistisch? Oder doch eine Antwort auf eine sich zerlegende, so viele Gewissheiten in Frage stellende Welt? Als eine solche Antwort, das kann man dem Mitschnitt anhören, wurde das Offertorium schon 1993 gebraucht.

Dieser Text erschien im Gewandhaus-Magazin Nr.99, im Sommer 2018, und ist urheberrechtlich geschützt. Der Sammelbegriff “Leipziger Tetralogie” wurde für diese Website hinzugefügt. Foto: Dmitri N. Smirnow