“Liebe heißt, jemanden frei sein zu lassen”

Eine Sopranistin, die kurz vorm Auftritt Zeit für ein Gespräch hat? Rosa Feola gibt einem dann sogar noch Belcanto-Unterricht. Ein Baseler Treffen vor der “Wahnsinnsarie”

Noch eine Stunde bis zum Schminken, zweieinhalb Stunden bis zu den ersten Tönen des Orchesters, fünf Stunden bis zu einer der strapaziösesten Szenen, die es für Sopranistinnen gibt. Aber die Frau, die am Abend die Lucia in Gaetano Donizettis berühmtester Oper singen wird, schlendert ganz entspannt in die nachmittagsstille Kantine des Theaters Basel. „Sie werden Sie leicht erkennen“, hat der Mann an der Pforte gesagt, „sie hat dunkle Haare und ist sehr hübsch.“ Rosa Feola, ein Glas Tee in der Hand, ist außerdem sehr gut gelaunt und scheint sich direkt darauf zu freuen, jetzt über sich und ihre Rollen zu sprechen, zu denen auch die Gilda im Züricher „Rigoletto“ gehört und Mozarts „Gärtnerin“.

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Besteht nicht die Gefahr, dass all diese Frauen, von Donizetti bis Verdi, von Mozart bis Rossini, von Bellini bis Puccini und dazu noch Bizet, in ihrem Kopf durcheinander geraten? Sorry, falls das eine dumme Frage ist…. Sie lacht. „Das hat mich auch gerade eine Freundin gefragt! Nein, die Rollen sind so verschieden, dass ich nicht durcheinander geraten kann“, sagt sie auf Englisch, „und es hilft mir, dass die meisten auf Italienisch sind. So kann ich tiefer einsteigen.“ Ab wann steigt sie denn an einem Aufführungstag wie heute ein? Wacht sie morgens schon als Lucia auf? „Ich habe mal versucht, schon Stunden vorher in die Stimmung zu geraten“, meint sie. „Das hat nicht funktioniert. Danach war ich gestresst, und man ist doch sowieso schon gestresst!“

Sie werde es heute machen wie immer. „Ein halbe Stunde Aufwärmen, nur die wichtigsten Stücke wiederholen. In diesem Fall ein kleines Stück von der ersten Arie, dann etwas vom Duett mit dem Tenor, was für mich das Schwierigste ist, sehr legato und rein – und nach der Pause haben wir die Wahnsinnsszene.“ Genauer gesagt, die Wahnsinnszene schlechthin, ein Solo von fast zwanzig Minuten, in dem die virtuosen Wendungen des Belcanto zu Fragmenten einer zerstörten Seele werden. Diese Szene besiegelte 1835 den Triumph der Uraufführung von Lucia di Lammermoor in Neapel, der Opernmetropole des italienischen Südens. Eine halbe Stunde Fahrt nordöstlich von dort liegt das Städtchen San Nicola la Strada, in dem Rosa Feola 1986 zur Welt kam.

„Ich fing mit Musik an, als ich fünf oder sechs war, sang im Kinderchor, und ein Cousin gab mir Klavierunterricht. Aber meine Eltern hatten mit Musik nicht so viel zu tun, auch wenn meine Mutter eine Naturstimme hat, eine lyrische!“ Es war eine Tante, die fand, Rosas Stimme sollte ausgebildet werden. Sie nahm privat Gesangsunterricht, ihr Diplom bekam sie als Externe im Konservatorium von Salerno. Am Klavier machte sie nach dem vorletzten Examen Schluss: „Stopp, nicht weiter! Ich habe mich als Pianistin nicht wohl gefühlt. Aber zuhause spiele ich gern, ich kann die Opern alleine lernen, die ersten Schritte. Zum Perfektionieren gehe ich dann nach Rom zu meinen Lieblingspianisten.“ Nach Rom führte auch der Weg aus Salerno. Ein Kommilitone hatte ihr geraten, bei Renata Scotto vorzusingen.

Dieser Student wurde später ihr Ehemann, und auch die Begegnung mit der großen alten Dame der italienischen Oper war eine fürs Leben. „Ich war 22, das ist zehn Jahre her“, sagt Rosa, fast ungläubig über das, was seitdem geschah. „Ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, professionell zu singen. Ich liebte die Oper und versuchte etwas für mich selbst. Aber auf der Bühne zu stehen, als Solistin?“ Die anderen Kandidaten warnten sie vor Signora Scotto an jenem Tag. Sie sei übel gelaunt. Als Rosa „Si, mi chiama Mimì“ und „Bel raggio lusinghier“ gesungen hatte, stand die 74jährige Diva auf, applaudierte und sagte: „Okay, du wirst Mimì singen, aber nicht jetzt.“ Und dann ging es richtig los.„Sie sagte mir, öffne den Gaumen und singe mit der Maske.“ Rosa Feola legt die Hände an die Wangen. „Alle Linien aus derselben Position, verstehen Sie das?“ „Naja, ich bin nur Bratscher, aber ich kann´s mir denken…“

Sie lacht. „Und ich war Tänzerin! Ich hatte auch Ballett gelernt und nahm all die Bewegungen in mein Singen rein, dauernd waren Hände und Beine in Bewegung, also sagte sie mir, bitte kontrolliere deinen Körper. Also wurde ich sehr straight, sehr kontrolliert.“ Und sie arbeitete einen Monat lang mit ihrer Lehrerin täglich an derselben Arie der Corinna aus Rossinis Il viaggio a Reims: „Ombra ameno“. Denn in dieser Rolle würde sie auf der Bühne debütieren – zwischen lauter Stars. „Sie saß neben dem Pianisten und sang, während ich sang, ohne Stimme. Ich verstand, wie man es richtig macht, durch Imitation dessen, was ihr Gesicht zeigte. Es war wie Telepathie, das ist etwas, das ich nie vergessen werde.“

So wurde Rosa in die Geheimnisse des Belcanto eingeweiht, jener Kunst schönster, im legato verbindender Tonbildung, die Rossini schon 1858 verloren sah. „Du musst dich fragen, wo die Linie beginnt und wo sie endet. Nicht einfach Wort für Wort, sondern Satz für Satz. Und du musst das wichtigste Wort finden. For example ,You are a wonderful woman ‘ – which is the most important word? You, wonderful, or woman?“ Gut, dass ich kein Sänger bin – ich würde alle drei betonen. „Wichtig ist“, sagt sie lachend, „niemals ein Akzent am Ende!“

Bei Operalia, dem wichtigsten aller Sängerwettbewerbe, setzte Rosa Feola 2010 ihre Akzente sehr nachhaltig. „É strano…“ aus La Traviata war ihre Arie in der letzten Runde, und damit kam zum zweiten Platz und dem Zarzuela-Preis noch der Publikumspreis und genug Geld, um nicht alles singen zu müssen, was man ihr anbot. „Es gibt heute viel, viel mehr Sänger als früher. Da ist die Konkurrenz groß, und für viele keine Zeit, ihre Stimme zu schützen.“ Wenn nun morgen ein Angebot käme, die Mimì zu singen? „Wissen Sie, was ich an dieser Lucia di Lammermoor hier mag? Es gab fünf Wochen Probe. Es war ein Rollendebüt, da möchte ich wirklich vorbereitet sein. Also, bei fünf Wochen Proben würde ich ich Ja sagen. Aber bei Madame Butterfly – nein, danke, das ist zu früh!“

Mit der Gilda im Rigoletto ist Rosa indessen so vertraut, dass sie mit Regisseuren gern diskutiert. „Ich kann es anders machen, als ich es mir vorstelle, aber ich muss wissen, warum. Das Publikum merkt es, ob du wirklich glaubst,was du machst.“ Und wie ist es mit den angestaubten Rollenbildern? Welche Frau würde sich heute ihrem Vater zuliebe als Mann verkleiden wie Gilda? Und in westlichen Gesellschaften wird keine mehr zwangsverheiratet wie Lucia… „Sind Sie sicher? Es passiert auch in unserer Zeit, dass Frauen nicht die Kraft haben zu sagen, hey, dass bin nicht ich! Dafür muss man sehr stark sein. Ich lebe im Süden Italiens. Da ist es ziemlich neu, dass eine Frau nicht zuhause bleibt, wie der Mann das wünscht, sondern arbeiten geht.“ Ihre Eltern hätten zuerst große Schwierigkeiten damit gehabt, sie alleine reisen zu lassen.

Und was Gilda betrifft: „Sie hat einen Vater, der sie zu sehr schützt und sie damit in den Tod treibt. Das ist sehr realistisch. Wenn du auf die falsche Weise liebst, kannst du jemanden ersticken. Die richtige Weise, Liebe zu zeigen, ist, jemanden frei sein zu lassen.“ Nur noch sieben Minuten bis zum Make-up, und inzwischen ist die Kantine laut und voll. Wir reden im Fahrstuhl weiter und in der Garderobe, über ihre jüngeren Bruder, die ihr in die Musik nachgefolgt sind, der eine als Sänger, der andere als Geiger, „sehr gute Brüder“, sagt sie, „nicht wie dieser…“ Sie macht eine verächtliche Handbewegung und meint den bitteren Enrico, der heute abend seine Schwester in den Wahnsinn treiben wird.

Und dennoch ist es Lucia, die triumphiert. Rosa  Feola singt und spielt all die Männer an die Wand, die diese Lucia in der Basler Inszenierung von Anfang an zum Opfer, zur manipulierten Patientin machen. Welche blühenden, nuancierten Töne, welche Innigkeit und Intensität!  Man vergisst vollkommen, wieviel Kontrolle, Bewusstsein, Balance dahinter stehen, man überhört, aus wie vielen bewährten Bausteinchen Donizetti einst in vier Wochen diese Partie schuf – da ist nur diese Frau, die um ihre Liebe kämpft und in klaren, lebenden Tönen das findet, was man ihr verwehrt. „Für Lucia“, hat Rosa Feola am Nachmittag gesagt, „muss ich mich melancholisch fühlen.“ Jetzt weiß ich, warum sie damit nicht schon morgens anfängt.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 65, dem Magazin der Oper Zürich, im Januar 2019, vor der Wiederaufnahme des Rigoletto mit Rosa Feola als Gild. Das Foto wurde von Jay Nordlinger im August 2019 in Salzburg gemacht.