“Meine Stimme muss mit mir leben”

Angelika Kirchschlager probt in Zürich die schrägste Rolle ihres Lebens und erzählt, warum die Tischlerei dem Weltruhm vorzuziehen ist

An den Streifen arbeiten sie etwas länger. „Stripes, perhaps…“, Mrs. Lovett sieht den Mann ihrer Träume von der Seite an. „Du in einem schönen Marineanzug, und ich… gestreift, vielleicht.“ Keine Antwort, aber wenn ein Typ wie Bryn Terfel den Kopf wendet, ist das schon ein Ereignis. Gesteigert dadurch, dass neben dem reglosen Hünen Angelika Kirchschlager alias Mrs. Lovett vor Lust und Leben vibriert, als sie sich ein Leben an der Küste ausmalt. Jetzt mal mit Fragezeichen: „Stripes, perhaps?” Sie blickt kokett. Das bringt den Regisseur Andreas Homoki auf eine Idee. „Sag es, als wäre es was ganz Unanständiges. Stripes…“ Oh ja, das ist es. Jetzt sind sie schon ein ziemlich süßes Paar, der reaktionsgebremste Serienmörder Mr. Todd und seine Helferin.

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„Mrs. Lovett“, meint ihre Darstellerin beim Treffen in der Probenpause, „ist sehr schräg. Die´s ned allaa, wie man in Österreich so schön sagt. Sie ist nicht ganz alleine. Die hört immer wen“, sie tippt sich an den Kopf. „Ich versuche, sie so normal wie möglich zu spielen, weil sie mich an so viele Menschen erinnert, die herumlaufen und ziemlich wahnsinnig sind, aber gar nicht so auffällig. Ich will ihr wirklich viel Leben einhauchen. Es ist die Musik, die sehr genau festlegt, wie crazy sie wirklich ist.“ Immerhin ist Mrs. Lovett eine, die dem blutrünstigen Barbier in Steven Sondheims Musical beim Entsorgen seiner Opfer hilft, indem sie sie zu schmackhaften Fleischtörtchen verarbeitet. In diese Rolle begibt sich nun eine Sängerin hinein, die trotz ihrer enormen Erfahrung sagt: „Ich lerne so intensiv und viel wie damals, als ich mit neunzehn Jahren begonnen habe, Gesang zu studieren. Wie ein Kind, das gehen lernt!“

Dass dieses „damals“ nicht erst vorgestern war, daraus macht Angelika Kirchschlager überhaupt keinen Hehl. Sie habe jetzt, sagt sie, „genau das richtige Tempo für eine Mittefünfzigjährige, die seit fast dreißig Jahren on the road ist.“ Dabei ist sie nicht mal 53, und wenn sie in ihrer neuesten Rolle den zwei Wochen älteren Bariton Bryn Terfel anbaggert, kommt sie auf höchstens dreißig. So, wie ihre Mrs. Lovett ihr „Yoo-hoo“ singt, möchte man auch gleich gern ein neues Leben am Meer beginnen. „Die Musik ist unglaublich genau auf die Sprache geschrieben“, sagt sie, „und ich bin eigentlich eine verkappte Schauspielerin, die halt auch noch singen muss“, sie lacht schallend.

Nette Untertreibung. Kirchschlagers Octavian im Grazer Rosenkavalier des Jahres 1992 war die Sensation, mit der eine Weltkarriere begann, und als nächster „Leuchtturm“, wie sie solche Wendepunkte nennt, folgte 2002 die Titelrolle in der Londoner Uraufführung von Sophie´s Choice, einer Oper, in der Nicholas Maw die Nöte einer jungen Überlebenden von Auschwitz auf die Bühne bringt. „Tremendously impressive“ nannte der Guardian die Sängerin, die sich damit von der Zeit der Hosenrollen verabschiedete. Mit denen war sie glücklich: „Das sind junge Männer, die ein Problem mit dem Leben haben, Octavian, Cherubino, Idomeneo, Sesto. Die haben mich mehr fasziniert als die Mädels, die ich in der Zeit sang. Despina, Zerlina, Rosina, das sind die Lustigen. Und von der Hosenrolle bin ich direkt zur verrückten Frau umgestiegen, Carmen und Mélisande. Einige Partien gingen schon in Richtung von Mrs. Lovett.“

Zur Opernbühne kam Kirchschlager auch, „weil ich fürs Klavierspiel keine Nerven hatte. Von acht bis achtzehn habe ich am Mozarteum Klavier gelernt. Wir mussten zweimal im Jahr einen Klassenabend machen, aus Noten spielen war nicht erlaubt. Ich bin zweimal pro Jahr ausgestiegen und steckengeblieben.“ Die Salzburgerin zog nach Wien und studierte an der Hochschule Gesang – und sie hatte nie wieder Probleme mit dem Auftritt ohne Noten. „Aber das Singen kam nicht aus dem Nichts. Wir haben zuhause viel gesungen, es gibt sogar eine Tonaufnahme mit mir als Dreijähriger. Mit zehn Jahren stand ich im Kinderchor zum ersten Mal auf einer Opernbühne, und am Gymnasium gab es einen tollen Chor.“

Auch ihr Einstieg in die Welt des Musicals hat eine Vorgeschichte. „Ich habe sicher schon seit zwanzig Jahren Kurt Weill gesungen, viel Wienerlied, ich war mit Konstantin Wecker zwei Jahre auf Tournee. Der hat ein unglaubliches Charisma. Wenn ich mich mit so einem Menschen auf die Bühne stelle, muss ich mich konzentrieren, meinen Atomkern zum Strahlen zu bringen, als Frau. Ich war sozusagen, Yin und Yang, das weibliche Gegenüber von Wecker, und das hat mich schon wachsen lassen.“ Um ihre Stimme sorgt sie sich beim Grenzerweitern nicht: „Meine Stimme muss mit mir leben und nicht ich mit meiner Stimme.“ Dass, wie sie sagt, auch die Probleme des Lebens zum Farbenreichtum der Stimme beitragen, hört man von anderen Sängern nie. Meist wird da eher die Stimme, das kostbare Instrument, vor dem Leben geschützt.

Natürlich hat sie Verantwortung gefühlt für ihre Gabe. „Ich war immer sehr fleißig. Aber im nächsten Leben würde ich es hundertprozentig nicht wieder machen, weil sehr viel Entbehrung dabei ist. Allein vielen Trennungen von meinem Kind! In meinem nächsten Leben werde ich Tischler, völlig klar!“ Sie könne ihre Laufbahn aber schon deswegen gut annehmen, „weil ich gar nichts erzwungen habe, was nicht gut für mich gewesen sein könnte. Ich hatte keine Hürden. Es war genau mein Leben, aber es wurde mir sozusagen bestimmt. Ich bin vom Beginn des Studiums bis zum heutigen Tag durchgezogen worden durch diesen Beruf von einer Kraft… ich weiß nicht, wer dafür zuständig ist!“

Das Schicksal vielleicht? Einmal ließ es aber doch einen Traum platzen, den Traum von einer Carmen „ohne Rüschenrock und Blume im Haar“. Den wollte Jürgen Gosch mit ihr 2009 in Berlin verwirklichen. Vor den Proben erkrankte er schwer, er starb im selben Jahr. Eine alte Inszenierung wurde ausgegraben, „und ich bin hängengeblieben – mit Rüschenrock und Blume im Haar.“ Hinter ihrem Lachen spürt man die Trauer um den großen Regisseur. Mehr Glück hatte sie mit Stanislas Nordey, der ihr 2006 bei den Salzburger Osterfestspielen die Mélisande auf den Leib inszenierte. „Das hat so viel mit mir zu tun gehabt, ich habe dieses Konzept so geliebt, dass es mir die Rolle für jede herkömmliche Produktion verbaut hat. Beim ersten Octavian war es wiederum so, dass ich den in jede Produktion hineinpflanzen konnte. Der hat sich überall wohl gefühlt.“

Und ihre Mrs. Lovett? Ausnahmsweise hat Angelika Kirchschlager sich zur Vorbereitung diesmal darüber orientiert, wie andere mit dieser Rolle umgingen. „Es wäre ja anmaßend, zu sagen, ich mache es einfach wie in der Oper. Es gibt sehr viele Dialoge und Übergänge wie die, wo man zu sprechen beginnt, während die Musik noch spielt. Damit rückt das Stück näher ans Schauspiel heran. Es macht wahnsinnig Spaß, die Stimme so zu mischen.“ Sängerstimmen hatten die bislang berühmtesten Mrs. Lovetts freilich nicht. Angela Lansbury, die 1979 in der Uraufführung sang, ist ebenso eine Schauspielerin wie Helena Bonham Carter, die im Film an der Seite von Johnny Depp spielte. Hier die raue Matrone, dort die zerbrechliche Elfe, „diese Typen sind so unterschiedlich! Mrs. Lovett gibt einem die Möglichkeit, zu machen, was man will.“

Dieses „Was man will“ ist auch ein Zentrum ihrer Arbeit mit Gesangsstudenten. „Ich ermutige sie, eine Meinung zu einer Musik zu haben, Stellung zu beziehen. Man muss sich immer zuerst konzentrieren und erst dann etwas sagen. Das tun die jungen Sänger viel zu selten, weil auch kein Wert darauf gelegt wird. Auf der Suche nach der Technik vergessen sie sich selbst. Daran zu arbeiten, das hat schon fast therapeutische Züge. Wenn sie sich dann wieder selbst spüren, kommen die Farben automatisch dazu. Sich mit sich selbst zu verbinden, das ist, wie wenn man ein Bohrloch macht und das Öl heraussprudelt!“ Kein Wunder also, dass der Zürcher Mr. Todd eine besonders unternehmungslustige Mrs. Lovett an seiner Seite hat. Sie singt, als trüge sie schon längst die stripes.

Dieses Porträt erschien im Magazin des Opernhauses Zürich, MAG 64, November 2018, und ist urheberrechtlich geschützt. Das Foto von Monika Rittershaus (Ausschnitt) zeigt Bryn Terfel und Angelika Kirchschlager in einer Szene aus “Sweeney Todd”. Die Inszenierung von Andreas Homoki hatte am 9. Dezember 2018 Premiere, musikalisch geleitet von David Charles Abbell.