Kategorie-Archiv: Begegnungen

“It was so… booaah… you know?”

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Charles Castronovo kam als Einwandererkind in New York zur Welt, inzwischen ist er einer der Stars der MET – und lebt in Berlin. Wir treffen uns in Zürich, wo er als Riccardo in Verdis “Maskenball” gastiert.

Es ist die alte Geschichte, “vorrei e non vorrei”, halb will sie und halb nicht. Aber es ist komplexer, Riccardo ist nicht Don Giovanni. Er ist egoistisch, doch sensibel er auch. Er und Amelia, Gemahlin seines Freundes und Sekretärs, kennen sich schon länger, und die Lage ist ohnehin brisant, man will ihm, dem Politiker, ans Leben… Den ganzen Vormittag wird an diesem Duett geprobt, wohl Verdis größtes Liebesduett überhaupt, das mit Amelias „Si, t´amo“ noch nicht endet. Millimeterarbeit am kleinen Kuss, den die Regisseurin Adele Thomas sich wünscht, immer wieder auf die Probebühne springend, zeigend, wie sie sich Amelias Ambivalenz in ihrer Haltung ausdrücken könnte, wie weit Riccardo seinen Zylinder von sich werfen könnte, wenn er ihr ganz nah ist…

Dieser Riccardo ist eins mit seinen Tönen. Sie scheinen seine Schritte wie seine Blicke zu lenken. Der sanfte Sechsachteltakt, in dem er, „Non sai tu…weisst du nicht…“, von seiner Zerrissenheit singt, wie sollte sie dem widerstehen? Mal abgesehen davon, dass er aussieht wie der perfekte Liebhaber. „Stoß ihn weg“, sagt die Regisseurin, „aber nicht zu heftig…“ Und was denkt sich der, der hier alles aufs Spiel setzt? „Sorry that this happened…but…come on!“ So fasst Charles Castronovo beim Proben Riccardos obsessiven Leichtsinn zusammen, den er in jeder Geste, in der ganzen Haltung realisiert, gerade so, wie das von Verdi komponiert ist. Vor kahlen Holzwänden agieren die Sänger, statt des Orchesters spielt eine Pianistin, man macht Witze, aber die Luft knistert.

„Riccardo is a tricky charakter“, meint der 49-jährige nach der Probe. „Nicht die sympathischste aller Rollen, aber musikalisch unbeschreiblich. Es ist nicht leicht, auf seiner Seite zu sein, auch wenn er am Ende, wenn er stirbt, aufrichtig sagt, dass Amelia treu blieb. Aber sie haben einander ja ihre Liebe gestanden!“ Was Charles Castronovo, der die Rolle schon in München und an der MET sang, ein bisschen unfair findet, ist etwas anderes: „Man singt so viel und technisch anspruchsvoll, und am Ende kriegt man nicht so viel Applaus wie für andere Rollen. Cavaradossi in Tosca hat 35 Minuten zu singen, ein symphatischer Charakter, der getötet wird – und die Leute drehen durch! Riccardo, das sind 80 Minuten, und schwieriger. Und da heißt es dann nur ,Bravo, good job‘…“

Er lacht, so ist das nun mal. Er hat mehr als genug andere Rollen. Aber auch der Riccardo steht auf einer Liste, die Charles vor bald drei Jahrzehnten anfertigte, noch in Kalifornien, „die liegt jetzt irgendwo in einer Kiste. Alle Rollen, die ich in meiner Karriere singen wollte, dazu das Alter, in dem ich das wohl tun würde.“ Diese Daten habe er mit „weird math“ ermittelt, einer etwas kühnen Statistik, die seinem brennenden Interesse an Sängerbiographien folgte, Tenöre natürlich. „Am Ende jeder Biographie, sei es Bergonzi, Corelli, Gedda, steht, wann sie ihre Rollendebüts hatten. Der erste Nemorino, der erste Cavaradossi… Das schrieb ich mir auf und guckte, wo ich hinpasse. Franco Corelli zum Beispiel sang Cavaradossi zuerst mit, sagen wir mal, 30, ich habe aber eine viel leichtere Stimme, also: 40! Einiges auf der Liste traf ich, einiges kam später.“

Castronovos Obsession mit der Geschichte seiner Vorgänger, der lyrischen Tenöre mit Tendenz zum Dramatischen, hat viel zu tun mit seinem Weg zur Oper, der ziemlich amerikanisch verlief. Eigentlich muss man sogar zurückgehen bis zu Charles´ sizilianischem Großvater. „Der sagte immer, wie kommt es nur, dass wir keinen Sänger in der Familie haben? Naja, wenn Sie hören würden, wie der sizilianische Teil meiner Familie spricht…“ Er gibt rauhe, röchelnde Laute von sich. „Es klingt wie ein Mafiafilm. Da kann keiner singen. Und auf Seiten meiner Mutter, in Ecuador, da wissen sie, wie man tanzt, aber es gibt keine Musiker.“ Die Einwandererkinder verliebten sich blutjung in New York. Charles´ Mutter war 19 Jahre alt, als er in Queens zur Welt kam. Dann zog man um an den Rand von Los Angeles. Der junge Vater belud mit dem Gabelstapler die LKW, die Kalifornien mit Lebensmitteln versorgten, und der einzige Fetzen Oper, den sein Junge hörte, ohne es zu wissen, war eine Arie aus Rossinis Barbiere, dirigiert vom Fernsehhasen Bugs Bunny.

Charles sang gut und gern, liebte die Beatles und Led Zeppelin und wollte Rockstar werden. Die Band hatte er bald und eine Gitarre, „aber ich hatte nicht diesen Sound für Rock, die Stimme war zu sauber.“ Die war aber im Schulchor willkommen, er durfte da auch Soli singen. Dann gab ihm der Vater eines Freundes, aus Bologna eingewandert, Opernfan, ein paar CDs. Er hörte den Anfang von Otello. „Evviva, evviva, babababaa, babababaa“, er singt die Takte vor Otellos Einsatz, „I couldn´t believe it, it was so… booaah… you know?“ Und dann: Plácido Domingo. „I heard it, I felt it and I said, that´s what I will do.“ Für ihn war das der Rock´n´Roll der Klassik.

„Da war ich sechzehn. Von der Highschool ging ich dann an die Uni und studierte Gesang.“ Es hielt ihn da nicht lange. Bis auf zwei, drei ältere Gleichgesinnte war er an der California State University allein mit seiner Besessenheit, dauernd Opern zu hören, Klavierauszüge zu lesen und über Sänger zu reden. „Und ich wollte auf der Bühne sein!“ Nach einem Jahr Studium sang er für den Opernchor in Los Angeles vor, das ging gut, und da entdeckte man ihn für kleinere Rollen. „Meine erste war Baron Rouvel in Giordanos Oper Fedora. Raten Sie, wer die Hauptrolle sang. Domingo!“ Wie ein Schwamm, sagt er, habe er zwei Jahre lang alles aufgesogen, was er von all den großen Kollegen auf der Bühne der Los Angeles Opera lernen konnte. „Es war eine tolle Zeit, und ich bekam Geld, genug für mich mit 23, 24 Jahren. Am Ende hatte ich hundert Vorstellungen gehabt!“

Danach kreuzten sich in New York zwei junge Sängerlaufbahnen. Wie Charles Castronovo ist auch Eric Cutler ins Förderprogramm der MET aufgenommen worden, etwa gleichaltrig, auch er das Kind von „ganz normalen Leuten“, für die Oper so weit weg wie der Nordpol war. „Verrückt, und nun singen wir als Tenöre rund um die Welt!“ Charles´ Basis wurde bald Europa. 90 Prozent seiner Auftritte finden hier statt, und in Berlin kaufte er schon vor achtzehn Jahren eine Wohnung, „als das fast nichts kostete. Seit sieben Jahren lebe ich da full time, und ich bin froh, dass meine beiden Söhne in Deutschland aufwachsen, sie sind elf und siebzehn. Ich will nicht dramatisch werden, aber als ich sieben Jahre alt war – wir lebten nicht in der besten Gegend von Los Angeles – sah ich, wie auf einen Jungen drei Meter von mir entfernt geschossen wurde. Ein Vierzehnjähriger, wir hatten gerade mit dem gesprochen. Ich erinnere mich daran wie an einen Film.“

Und das Amerika von heute? Es ist der Tag der Präsidentschaftswahl, an dem wir in Zürich zusammensitzen. Noch ist alles offen. „Ich liebe mein Land, aber ich muss sagen, dass ich in den letzten Jahren kein gutes Gefühl hatte, was den Zustand dieses Landes betrifft.“ Er sagt noch viel mehr dazu, nicht weniger leidenschaftlich, als wenn er über die Helden seiner Zunft spricht, über den jungen Carreras, über Giuseppe di Stefano, über Pavarotti, dem er dankbar ist, dass er als Riccardo beim gemeinsamen hohen C am Ende des Duetts mit Amelia auch mal einbrach. „Wenn sogar der König der hohen Cs Fehler macht… Ich brauche nicht perfekt zu sein. Verdi hat dieses C nicht geschrieben, und ich habe es in der Metropolitan nach vier Vorstellungen weggelassen.“

Ja, die Wahlen. Auch in der Zürcher Inszenierung von Un ballo in maschera wird gewählt. „Governor of Boston“ steht auf den Flyern mit Riccardos Porträt, die auf der Probebühne verstreut liegen. Charles Castronovo greift sich einen, als er auf Erika Grimaldi zugeht, auf Amelia, hält ihn mit beiden Händen vor sich und zerreißt ihn. Es wirkt völlig spontan, und vieles steckt darin. Das Zerreissen einer Karriere, eines Kleides, einer Konvention. „Di che m‘amo!“ „Im Konzert singe ich nie so gut wie auf der Bühne“, hat er nach der Probe gestanden. „Ich brauche die Bewegung, die Reaktionen. I prefer to act on stage!“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien in kürzerer Fassung im MAG 117 der Oper Zürich, November 2024. “Un ballo in maschera” hat am 8. Dezember 2024 Premiere in der Inszenierung von Adele Thomas, musikalisch geleitet von Gianandrea Noseda. Das Probenfoto von Toni Suter zeigt Erika Grimaldi (Amelia) mit Charles Castronovo (Riccardo).

Einer für die Zerrissenen

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Bariton Bo Skovhus im Zürcher Kantinengespräch über Schnittkes “Leben mit einem Idioten”, den Weg von Kopenhagen nach Wien, über Reifeprozesse und Rezitative und ein Fax von Wolfgang Rihm

Eines schönen kalten Morgens im Jahr 1987, zur Weihnachtszeit, klingelt in Kopenhagen das Telefon bei Bo Skovhus. Der junge Mann nimmt den Hörer ab, hört jemanden auf Deutsch reden, irgendetwas mit Oper und Wien, lacht und legt gleich wieder auf. „Ich war am Abend vorher mit meinen Freunden unterwegs gewesen und dachte, die machen sich einen Spaß mit mir.“ Das Telefon klingelt erneut. Dieselbe Stimme, diesmal spricht der Mann englisch. Die Volksoper Wien fragt an, ob er zum Vorsingen kommen möge. Sie suchen einen neuen Don Giovanni, ein unbeschriebenes Blatt. Sie zahlen alles, Flug, Hotel… „Ich war noch nie bei einem Vorsingen! Und ich hab´ da vorgesungen.“

So erzählt mir Bo Skovhus 37 Jahre später, wie es losging mit seiner Karriere. Wir sitzen in der Kantine der Oper Zürich, wo er die Partie des „Ich“ in Alfred Schnittkes Leben mit einem Idioten probt, weit, weit entfernt von jenem Beginn, der allerdings, wie Schnittkes letztes Werk, auch etwas Irreales hat, als Eingriff unberechenbarer Mächte. Aber der hatte natürlich eine Vorgeschichte. Skovhus, geboren im 10.000-Seelen-Städtchen Ikast, 250 Autokilometer und zwei Ostseebrücken weit entfernt von Kopenhagen, im Westen, war über Schulchor und Blasmusik zum Singen gekommen und schließlich, nach Überwinden elterlicher Vorbehalte, ans Opernstudio der dänischen Hauptstadt.

„Im Sommer dieses Jahres hatte ich eine Masterclass besucht, mit zwei tollen Sängern, Walter Berry und Sena Jurinac.“ Mit der serbischen Sopranlegende verstand sich der 25-jährige gut, „ich hab´ sie gefragt, was muss ich tun? Ich möchte weg aus Dänemark!“ Denn sehr viele Auftrittsmöglichkeiten boten die Häuser in Aarhus und Kopenhagen nicht. „Gib mir deine Telefonnummer.“ Und die wählte dann jemand in Wien, wo 1988 der junge Däne nach dem Vorsingen in die Direktion gebeten wurde. „Vierter Stock. Da stand an der Tür nur: Eberhard Wächter. Den Namen kannte ich.“ Wächter sang den Don Giovanni in der grandiosen Aufnahme mit Giulini, die der Student besaß. „Ich ging rein und fragte ihn, ob er auch gerade für Don Giovanni vorgesungen hätte.“

Wächter lachte schallend. Er war Ende 50 und nicht mehr Sänger, sondern Direktor der Volksoper. Er engagierte den jungen Bariton, „und wenn das schief gegangen wäre, dann wäre ich Arzt geworden.“ Es ging aber nicht schief. Der steile Aufstieg zu den großen Bühnen der Welt, der dann folgte, unterscheidet sich allerdings von vergleichbaren Karrieren in einem wichtigen Punkt. Skovhus interessiert sich, jenseits von Mozart bis Strauss, brennend auch für die Opern, die nicht zu den Kassenschlagern gehören (und doch oft das Potential dafür haben), deren Musiksprachen Dur und Moll und Kantilene hinter sich lassen und deren Helden oft alles andere als Helden sind – wie jener Wozzeck, mit dem ich Bo Skovhus zum ersten Mal erlebte. Bebend vor Präsenz, gefangen in Zwängen, alles wahr machend, was Peter Konwitschny in seiner – inzwischen legendären – Hamburger Inszenierung ersann. 1998 war das, aber weit weg ist es nicht.

„Es war immer die Frage, ist Wozzeck ein Mörder oder nicht? Die Gesellschaft zwingt ihn zu dieser Tat“, sagt Skovhus. „Da gibt es eine Parallele zum Leben mit einem Idioten. Wer begeht eigentlich den Mord an der Frau, wie kommt es dazu? Immer ist der Chor dabei und beobachtet und kommentiert, was in diesem Haus passiert und mit diesem eigentlich stinknormalen Paar. Plötzlich kommt eine dritte Person in diese Ehe, die alles auf den Kopf stellt.“ Das ist der „Idiot“, dem „Ich“ gegenübersteht, der Ehemann. „Ich habe irrsinnige Schwierigkeiten, mich da hineinzufinden“, gesteht Skovhus, „denn hier gibt´s keine Handlung, nur Bruchstücke. Da müssen wir schauen, dass wir´s irgendwie verbinden.“

Dazu kommt noch, dass Alfred Schnittke über Stimmen nicht viel wusste. „Er sagte selbst, ich habe eine Oper geschrieben, aber keine Ahnung davon. Das merkt man total. Wenn man die Aufnahme von der Uraufführung 1992 hört und die Noten anschaut – da stimmt gar nichts, so viel wurde geändert. Ich bin wohl der erste, der versucht, es so zu singen, wie es da steht. Ich habe eine sehr gute Höhe und komme da durch, manchmal im Falsett.“ Skovhus ist auch physisch der Mann für Himmelfahrtskommandos, groß und durchtrainiert, und er liebt zerrissene Gestalten wie etwa Aribert Reimanns Lear. „Ein unglaublich tolles Stück, das hält sich. Genau wie die Eroberung von Mexico von Rihm. Die haben beide so gut geschrieben!“ Ein Fax von Wolfgang Rihm hat er sich aufgehoben. „Ich sagte ihm bei den Proben in Salzburg, wenn ich so viel gesungen habe, komme ich am Schluss nicht mehr auf das tiefe Fis. Dann kam nach zwei Stunden ein Fax mit Noten. Er hatte die letzten vier Takte umkomponiert!“

Dass man sogar bei Mozart etwas umkomponieren darf, erlebte er mit Nikolaus Harnoncourt. „Er sagte, die Rezitative dürft gar nicht singen, nur sprechen! Aber für die Sängerin, die im Figaro den Cherubino gesungen hat, waren ein paar Töne zu hoch notiert, um sie natürlich zu sprechen. Dann oktavieren Sie´s, hat er gesagt. Das konnte nur er sich erlauben!“ Skovhus sang damals, 2006 in Salzburg, den Grafen. „Um die Rezitative kümmern sich heute nur noch wenige“, meint er. „Meist wird viel gestrichen, damit wir so schnell wie möglich wieder ,zur Musik‘ kommen, und das ist total falsch.“ Wie man Rezitative zum Leben bringt, das vermittelt Bo Skovhus nun selbst den jungen Sängern der Opernstudios etlicher Theater. Und dass es nicht nur um „schöne Töne“ geht.

Dabei ist er ziemlich gnadenlos mit dem jungen Sänger, der er selbst war. „Ich war noch nicht dreißig, als ich mit Helmut Deutsch Die schöne Müllerin aufgenommen habe. Als ich das später wieder hörte, dachte ich, das bin nicht ich, das muss die falsche CD sein! Es klang völlig belanglos. Vielleicht ganz nett und schön, aber ohne Charakter.“ An Schuberts Winterreise hat Bo Skovhus sich erst mit Fünfzig getraut. „Ich glaube, man muss etwas im Leben erlebt haben, um einen Zugang dazu zu finden.“ Inzwischen singt er diesen Zyklus öfters mit Akkordeon statt Klavier, nicht nur, weil das so gut zum Lied Der Leiermann passt. „Man kann es im Park machen, unter einem Baum, man hat die Freiheit, rauszukommen zu Leuten, die normalerweise nicht in ein Konzert gehen.“

Dass auch viele Leute normalerweise nicht in die Oper gehen, hält Skovhus vor allem für ein Geldproblem. „Es ist so teuer! Da haben sie in Wien eine gute Lösung. Es gibt in der Staatsoper 700 Stehplätze, die zwischen sieben und zehn Euro kosten. Das bringt schon viel, auch ein ganz anderes Publikum.“ Diese Stehplätze gab es schon, als er 1991 erstmals in diesem Haus auf der Bühne stand. Eberhard Wächter war sein Mentor, Korrepetitor, Freund und außerdem Staatsoperndirektor geworden und ließ ihn den Silvio im Bajazzo singen – neben Superstars wie Carreras und Capucilli. „Ich erinnere mich, als wir aus dem Bühneneingang kamen, lagen da die Leute auf ihren Matten. Sie warteten tagelang, um Stehplätze zu bekommen! Ein Riesending. Sowas gibt´s heute nicht mehr.“ Er lacht. „Jetzt rede ich von damals wie so´n Alter, furchtbar.“

Das „ch“ in „furchtbar“ spricht er im Rachen, wie ein Wiener. Tatsächlich ist Skovhus immer in Wien geblieben, er hat eine Wienerin geheiratet – und ist froh, dass seine Tochter Ärztin geworden ist und nicht auch Sängerin. „Es ist so schwer geworden für junge Sänger, wir haben es einfacher gehabt. Als ich anfing, war der Eiserne Vorhang noch unten, erst in den 90ern kamen die vielen guten Sänger aus dem Osten. Und die Plattenfirmen hatten noch Geld. Für die Lustige Witwe mit John Eliott Gardiner wurde vierzehn Tage lang der große Musikvereinssaal gemietet, für eine Stunde Musik! Wahnsinn. Heute ist man froh, wenn es überhaupt noch einen Livemitschnitt gibt.“ Aber die „unglaubliche Glut“ der Wiener, diese Kulturbesessenheit, die sei immer noch da.

Nostalgisch ist er gar nicht, eher unternehmungslustig und gespannt. Nach dem Leben mit einem Idioten in Zürich wartet in Berlin schon György Kurtágs Fin de partie auf ihn. „Kompliziert?“ Er lacht. „Nicht nach diesem hier!“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und zuerst erschienen im MAG 116 der Oper Zürich, Oktober 2024. Eine erweiterte Fassung ist zu lesen in VAN 466, 30.10.2024. Das Probenfoto von Monika Rittershaus zeigt Bo Skovhus als “Ich” flankiert von Matthew Newlin (links) und Campbell Caspary, beide in der Rolle des “Idioten”. Die Premiere von Alfred Schnittkes “Leben mit einem Idioten” findet am 3. November 2024 in Zürich statt. Es dirigiert Jonathan Stockhammer, Regie führt Kirill Serebrennikov.

“Ich habe immer das Gefühl gehabt, ich gehöre hierher”

Warum sie Halle liebt und sich für Clara Schumann einsetzt: Ein Gespräch mit Ragna Schirmer, der Pianistin des Zürcher Balletts “Clara”

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Wohl niemand ist Clara Schumann in jüngster Zeit so nahe gekommen wie Ragna Schirmer. Ihre Hände legten die beiden Pianistinnen ineinander, die ältere und die jüngere, und sahen einander an. «Und wenn mir dann diese lebensgroße Puppe zuschaut und mir die Hand auf die Schulter legt beim Spielen… ich hatte das Gefühl, ich habe wirklich zusammen mit ihr auf der Bühne gestanden.» So geschehen im fast schon legendären Puppentheater der Stadt Halle, der Viertelmillionenstadt 40 Kilometer nordwestlich von Leipzig, in der Ragna Schirmer seit bald drei Jahrzehnten lebt. 1996 ist sie aus Niedersachsen hierher gezogen, nach Sachsen-Anhalt, «in den Osten». «Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass ich hierher gehöre», sagt sie, «auch wenn mein Wirkungskreis grösser ist.» Jetzt reicht er bis nach Zürich, wo die Pianistin im Ballett Clara mitspielt – im Orchestergraben, aber in der musikalischen Hauptrolle.

Die berühmteste Pianistin des 19. Jahrhunderts, die ihren Gemahl Robert Schumann um 40 Jahre überlebte, ist seit längerem eine Art Verbündete, Vertraute, Schwester für die gut eineinhalb Jahrhunderte nach ihr geborene Musikerin. Nicht, dass Ragna Schirmer nur noch für Clara da wäre! Sie geht mit großem Repertoire auf Konzertreisen, macht Aufnahmen und bildet seit fünfzehn Jahren Hochbegabte in Halle aus. Aber spätestens seit sie zu Claras 200. Geburtstag die Programme recherchierte, mit denen die Kollegin auftrat, und sie auf historischen Flügeln spielte, seit sie im Zwickauer Robert-Schumann-Haus sämtliche 1312 Konzertzettel auswertete, die Frau «Miles & More» Schumann aufgehoben hat, ist die bei ihr besonders präsent.

Und sie steht mit ihrem Leben, das im nahen Leipzig begann, auch für das kulturelle Deutschland vor den Desastern des 20. Jahrhunderts, für eine Welt, von der Ragna Schirmer in Mitteldeutschland viel spürt. «Ich glaube schon, dass Orte Energien haben, die bestimmte Dinge passieren lassen. Es hat einen Grund, dass die großen Dichter und Komponisten sich hier ballen. Leipzig, Weimar, Halle, das sind regelrechte Knubbel, auch wenn sich so etwas im Laufe der Geschichte wieder ändern kann.» Die Gegend hat sie schon fasziniert, als sie mit 16 Jahren zum Bach-Wettbewerb nach Leipzig kam, ein Jahr vor der friedlichen Revolution. «Das brodelte ja schon, wenngleich die Wende, so wie sie dann kam, nicht zu ahnen war. Es hätte auch ganz anders kommen können. So, wie es dann gelaufen ist, war für mich schnell klar, ich möchte in den Osten.» An der DDR gebe es nichts zu verklären, sagt sie, «da ist auch ganz viel Unrecht geschehen». Aber ihr imponierte, wie an den Spezialschulen – deren Nachfolger dienen heute der Hochbegabtenförderung – die heranwachsenden Musiker:innen unter sich waren, «unter Gleichgesinnten! Die inspirieren sich gegenseitig, und die beste Freundin muss auch erstmal üben, ehe sie ins Kino geht.»

Ragna Schirmer dagegen fühlte sich in Hildesheim einsam mit ihrer Begabung. Das Klavier hatte sie auf dem Umweg über das Ballett entdeckt, mit vier, fünf Jahren. Sie hörte das Instrument beim Tanz und auch zu Hause, «meine Mutter konnte ein bisschen Chopin und Schubert spielen, und diese Sprache wollte ich sprechen können!» Mit der ersten Lehrerin hatte sie grosses Glück; deren Fingerspitzengefühl hat sie wunderbar in einer der Klavierkolumnen beschrieben, die man auf ihrer Website findet. «Sie hat die Aufgaben dann rasant gesteigert, und ich habe geübt wie ein Wiesel, ich wollte so unbedingt!» Von Elisabeth Schiller ging es zu Heidi Köhler, «sie war Schülerin von Kämmerling und hat noch mal ganz anders Gas gegeben.» Mit dreizehn Jahren gewann Ragna ihre ersten beiden internationalen Wettbewerbe, mit fünfzehn schaffte sie es, beim Busoni-Wettbewerb – Altersgrenze 32 – unter die letzten Zwölf zu kommen. «Da war klar, das will ich zu meinem Leben machen.»

Da war sie auch interessant für Karl-Heinz Kämmerling höchstselbst, den legendären Meistermacher in der Pianistenhochburg Hannover, der Hochschule für Musik und Theater. «Hartes Training, fast sportiv, war die eine Seite. Die andre Seite war der Umgang mit Details. Man konnte zwei Töne von Mozart spielen, und schon rief er dazwischen: Nein, zu laut! Ich habe aber auch gelernt zu opponieren. Als es hieß, wir spielen den dritten Satz von Schumanns Konzert in Tempo 76, hab ich gesagt, ich bin nicht wir.» Zwischendurch studierte sie ein Jahr in Paris, bei Bernard Ringeissen. Der damals 58-jährige Franzose war ganz anders. Während Kämmerling nie selbst spielte oder auftrat, «kam er direkt von der Bühne und hat mir wertvolle Tipps gegeben. Und er war ein liebevoller Mensch.» Als sie mit Johannes Brahms’ Klavierstücken op. 118 nicht weiterkam, keine gestalterische Idee für sich fand, nahm er ihr den Stress: «Ich sollte erstmal gut essen gehen, dann tanzen gehen, spazieren und eine Woche nicht darüber nachdenken. Stimmt, man muss ja auch was erleben! Die Gestaltung kommt aus dem ganzen Leben, den Erfahrungen, die ich mache.»

Noch vor ihrem Konzertexamen zog Ragna Schirmer nach Halle, als Klavierdozentin, und da blieb sie auch, als sie mit 28 Jahren eine Professur in Mannheim bekam. «Ich bin immer gependelt, weil ich das Gefühl hatte, in Halle warten noch Aufgaben.» Sie engagierte sich kulturpolitisch, und als «großes Lebensglück» betrachtet sie ihre Zusammenarbeit mit dem Puppentheater. «Da kann ja eine winzige Nuance in der Stimme eine ganze Szene verändern, genauso, wie wenn ich mich als Interpretin für eine andere Dynamik entscheide.» Man könnte sich mit Ragna Schirmer zwei Stunden lang nur über dieses Theater unterhalten, ebenso über Clara Schumann, über Bachs Goldbergvariationen, über das Unterrichten und über den Umgang mit der DDR-Geschichte ihrer Wahlheimat. Zusammen mit dem Schlagzeuger Mathias Daneck und dem Schauspieler Axel Ranisch hat sie VolkseigenTon eingespielt, Lyrik und Musik aus der DDR, von Bert Brecht bis Sarah Kirsch, von Hanns Eisler bis Günter Kochan. «Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir unsere Vergangenheit kennen müssen, die Zusammenhänge von kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen, um die Gegenwart zu verstehen. Auch, um einzuordnen, was momentan geschieht.»

Dass man auch 35 Jahre nach der Wende die Ost-West-Trennung Deutschlands in jeder politischen Grafik förmlich sehen kann, «hat auch damit zu tun, wie die Wende psychologisch gelaufen ist». Von «neuen Bundesländern» zu sprechen, das mache Ostdeutschland zu einem Anhängsel, einem Adoptivkind. «Ich verstehe, dass hier Menschen sagen: Ich bin damals nicht auf die Straße gegangen und habe mein Leben riskiert, um mir dann erklären zu lassen, was ich alles falsch mache.» Differenzierung tue not, und Verstehen. «Durchs Verstehen können wir aktiv daran mitwirken, dass die Zukunft anders wird. Man muss den Blick immer in alle Richtungen lenken, das ist wie beim Musizieren.»

Nein, zur Verklärung neigt sie nicht, auch nicht, wenn es um Clara als Komponistin geht, elf Jahre alt, als ihr Opus 1 gedruckt wurde. «Sie konnte keinen Reifeprozess durchlaufen wie Robert Schumann und hat sich sehr früh auf das verlegt, was sie am besten konnte, nämlich spielen. Mitte zwanzig war sie schon mehrfache Mutter.» Wie sie es hingekriegt hat, nach Roberts Tod sieben Kinder großzuziehen und mit Hilfe von Gouvernanten und Internaten jeweils von Oktober bis März so viel zu konzertieren, dass sie von April bis September nur für die Familie da sein konnte; wie sie den Witwenstatus beibehielt, um ihre Unabhängigkeit zu sichern – das imponiert ihrer Kollegin sehr. Trotzdem schade, meine ich, dass sie mit 43 Jahren ihren jungen Verehrer Theodor Kirchner abblitzen liess. «Der hat ihr Geld verzockt», sagt Ragna Schirmer lachend. Wahrscheinlich weiß sie sogar, wieviel es war…

Sie weiß einfach zu viel, um nur Klavier zu spielen. «Ich liebe es, dem Publikum auch etwas zu erzählen. Ich fand’s immer wahnsinnig anstrengend, wenn da nur dieser große schwarze Konzertflügel steht, man spielt, was man eingeübt hat, und geht wieder weg. Das war mir nicht kommunikativ genug.»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien zuerst im MAG 115 der Oper Zürich, Oktober 2024. Foto: Screenshot aus dem Trailer zu “Clara – Ein Spiel für Ragna Schirmer und Puppen”. Eine Interviewfassung des Gesprächs mit Ragna Schirmer gibt es online bei VAN.