Kategorie-Archiv: Begegnungen

“Adrenalin ist die einzige Droge, die ich brauche”

Knapp vier Wochen vor der Premiere der Zürcher “Götterdämmerung” packt Siegfried aus: Klaus Florian Vogt vor seinem Rollen-Debüt

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In Norddeutschland, wo er herkommt, würde man sagen, er hat die Ruhe weg. Das ist vielleicht sogar eine Grundvoraussetzung für diese Art von Berufsleben. Da kommt in Zürich kurz vor der Bühnenprobe für die Götterdämmerung, erster Aufzug, dritte Szene, die Anfrage aus Paris, ob er da als Lohengrin einspringen kann am nächsten Tag. Kurzer Austausch mit dem Intendanten in der Cafeteria, ob das gehen könnte. Klaus Florian Vogt ist völlig gelassen. Während man in der Pariser Oper wahrscheinlich nervös auf den Nägeln kaut, wirkt das Thema bei ihm, als müsse nur geklärt werden, ob ein Stuhl links oder rechts steht. Sie lassen das erstmal offen und kümmern sich in der Probe um Komplizierteres, nämlich wie Siegfried als Unsichtbarer seiner Brünnhilde – von der er vergessen hat, dass sie seine Braut ist – glaubwürdig den Ring entreissen kann. Immer mit Klavier und Gesang, denn die Bewegungen müssen ja der Musik folgen, und mit endlos viel Geduld.

Ehe es um die Emotionen gehen kann, in dieser Szene so vielschichtig wie selten, muss die Choreografie gebastelt werden, und in diesem Modus klingt es noch wie eine freundliche Ansage, wenn Vogt, sanfter Hüne in Jeans und mit dem Tarnnetz auf dem blonden Haar, an Gunthers Stelle singt: «In deinem Gemach musst du dich mir vermählen!» Da hört man aber schon die Klarheit in dieser Stimme, aus der er so unendlich viele Farben holen kann. Dass die Emotionen auch in einer Probe so hochkochen können wie sonst nur in den besten Momenten einer Aufführung, dazu kommen wir später, im Foyer, wo Klaus Florian Vogt mir erstmal von seinem Weg zum Siegfried erzählt, der sich bei unserem letzten Treffen vor neun Jahren durchaus schon abzeichnete. Da sang er gerade den Lohengrin in Bayreuth und sagte auf die Frage, was denn an den Partien des Siegfried und des Tristan so grossen Respekt auslöse: «Das weiß ich auch nicht. Darauf bin ich sehr gespannt.» Er lacht schallend, als ich ihn daran erinnere. «Jetzt ist es soweit mit dem Herausfinden», meint er und ergänzt: «Man sollte vor jeder Rolle Respekt haben.» Vielleicht ist er ein bisschen ernster geworden, ansonsten eher reifer als älter, so durchtrainiert, wie er da sitzt. Aber wenn er lacht, bricht es jählings hell und übermütig aus ihm heraus.

Seinen ersten Tristan singt er nächstes Jahr an der Semperoper, in Bayreuth auch beide Siegfrieds, den im Siegfried und den in der Götterdämmerung, für die er dann schon seine Erfahrungen aus Zürich mitbringt. Das schwere Heldenfach? «Das wird so genannt, ja. Ich seh’ das nicht so, ich singe ja den Siegfried technisch nicht anders als den Lohengrin, lauter oder so. Ich gehe von der Figur aus, von der Orchesterfarbe, von der jeweiligen Situation, und von da kommt der Stimmausdruck.» Aber es seien nun mal große und lange Partien, «und wenn man noch nicht so erfahren ist und die Stimme technisch noch nicht so gereift, lässt man sich von so einem dicken Orchesterklang hinreissen, dagegen anzugehen, und das ist eine große Gefahr. Dass man überzieht, forciert. Dadurch wird man müde, und das ist nicht so erstrebenswert.» Er lacht wieder. «Mit mehr Erfahrung spürt man besser, wie weit man gehen kann. Beim Siegfried war es so, dass es irgendwann keine Passage mehr gab, wo ich mir hätte Sorgen machen müssen, oh, das ist ja so hoch oder so lang oder so laut… Darauf habe ich gewartet.» Dazu komme so etwas wie beim Krafttraining. «Wenn man mehr Muskeln will, muss man neue Reize setzen, zum Beispiel die Gewichte erhöhen oder die Frequenz. Das ist auch mit der Muskulatur so, die die Stimme hält.»

Abgesehen davon sei Wagner ja keineswegs nur laut. «Klar gibt’s laute Stellen! Ein richtig fettes Orchester-Fortissimo, das liebe ich!» Da jubelt noch der Hornist im Sänger mit, der im Graben der Hamburgischen Staatsoper früher selbst solche Fortissimi blies. «Aber es ist viel schöner, wenn es ganz grosse Gegensätze gibt. Wagner schreibt sehr oft piano, und gerade bei Parlando-Stellen macht er das Orchester wirklich leise, wie bei dem verträumten Waldweben im Siegfried, nur so eine Fläche unter der Stimme, das darf auch was Zartes haben. Ich sehe uns in solchen Momenten ein bisschen wie als Märchenerzähler. Ja, wir erzählen eigentlich ein Märchen, und wenn ich was erzähle, möchte ich, dass mein Gegenüber das versteht. Bei Wagner sind Text und Musik wirklich ineinander verwoben und gleichberechtigt zu singen. Wenn man seine Melodieführung und die Pausen genau befolgt, merkt man, dass der ganze Text sehr organisch ist. Es gibt wenige Stellen, wo man Gefahr läuft, sich die Zunge zu brechen. Für mich ist das alles wunderbar singbar.»

Aber einfaches Märchendeutsch ist es ja nicht gerade. «Es ist im Ring schon deswegen schwer zu verstehen, weil die Geschichte so kompliziert ist! Es ist wichtig, diesen Text für sich selbst, aber auch für das Publikum zu entflechten, sonst versteht man ja gar nichts mehr. Das ist ein Großteil der szenischen Arbeit, dass wir uns untereinander klar machen: Was sagt der eigentlich? Das ist mit Andreas Homoki als Regisseur so, dass man es am Ende versteht. Ich bin unheimlich froh, diese beiden Siegfrieds mit ihm zu machen, weil er sehr nah am Stück bleibt, weil man die Grundlinien dieses Charakters versteht und sein Verhältnis zu den anderen. Wenn man gleich beim Rollendebüt etwas Verdrehtes machen muss, kriegt man diesen Zugriff nie. So habe ich für die beiden Partien ein tolles Gerüst, in dem ich die mit der Zeit auch erweitern kann.»

Wie unterscheiden sich denn die beiden Siegfrieds? Immerhin hat Richard Wagner den Siegfried nach dem zweiten Aufzug 1857 erstmal liegen lassen, Tristan eingeschoben und ab 1869 dann den Ring fertig komponiert. Manche finden, der Held sei in der Götterdämmerung ganz anders geworden, es seien sogar zwei so verschiedene Partien, dass der Sänger sich umstellen müsse. Das findet Vogt nicht, anders als sein Kollege Stephen Gould, der jetzt so früh gestorben ist. «Das hat mir Stephen auch erzählt. Natürlich ist von der Anlage der frühere Siegfried anders, viel mehr spielerische Elemente, und beim späteren geht es in der Harmonik viel weiter. Aber ich glaube nicht, dass man den anders singen muss. Es wird immer gesagt, das ist der erwachsene Siegfried. Quatsch, der hat genau dieselbe Frische und Direktheit. Man könnte sich sogar vorstellen, dass zwischen dem Ende des Siegfried und dem Beginn der Götterdämmerung nur eine Nacht mit Brünnhilde liegt. Wovon soll der denn reifer und erfahrener geworden sein? Dagegen spricht auch, dass er auf die ganzen Betrügereien reinfällt. Der glaubt gar nicht, dass es böse Menschen gibt.»

So prägt auch das Konzept einer Rolle den Umgang mit der Stimme, die Farben, die er findet. Wie ist das bei der Partie, die ihm vor 20 Jahren den internationalen Durchbruch bescherte, dem Lohengrin? Gibt es verschiedene Lohengrins in ihm? «Ganz viele! Und die werden oft vermischt», sagt er. «Ich habe da inzwischen eine Schatzkiste von Ausdrucksmöglichkeiten. Da kommen auch immer noch neue dazu.» Und wenn mit Tristan die Heldenwelt komplett ist, wird ihm nicht die Aussicht auf noch zu erobernde Gipfel fehlen? «Das ist nicht, was mich antreibt, sondern da eine Tiefe zu entdecken. Jeder Abend, den man mit den Wagnerpartien durchlebt, ist ja schon selbst das Erklimmen eines Gipfels.» Es gibt aber noch etwas, das Klaus Florian Vogt antreibt. «Adrenalin ist die vielleicht einzige Droge, die ich brauche. Das brauchen Sportler ja auch, um eine Höchstleistung zu bringen.» Und das gebe es nicht nur mit Publikum, sondern auch in den Proben. «Man muss in Proben ja erforschen, wo kann ich hingehen, emotional. Da passiert es schon, dass es mit einem durchgeht…» Ein bisschen zusätzliches Adrenalin hat er sich für den nächsten Tag auch schon gesichert. Nach der Vormittagsprobe, auf der besteht Regisseur Andreas Homoki, wird er nach Paris fliegen und abends den Lohengrin singen. Wer dirigiert denn? «Weiss ich nicht!» Er lacht. «Wird schon jemand da sein!».

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 106 der Oper Zürich, Oktober 2023, außerdem online auf der Website des Hauses. Der Screenshot aus dem Trailer zur Götterdämmerung – Premiere war am 5. November 2023 – zeigt Klaus Florian Vogt neben Lauren Fagan (Gutrune).

“Ein guter Musiker zu sein ist in jeder Generation gleich schwierig”

Eine Pariser Begegnung mit dem Geiger Augustin Hadelich, der nach seinem Steilstart in den USA auch in Europa zu den Großen zählt

Gerade ist ein Wolkenbruch aufs septemberwarme Paris niedergegangen, vom Eiffelturm im Südosten sieht man nur das untere Drittel, den Rest verhüllen Wolken. Wir treffen uns im Hotel gegenüber der tortenförmigen Maison de la Radio an der Seine, Augustin Hadelich wird es nicht weit zur Probe haben. Als erstes hole ich eine CD aus der Tasche. Normalerweise lasse ich mir keine Tonträger signieren, aber «Echoes of Paris» ist nicht nur ein Juwel, es passt so gut. Und mich interessiert, wie der Geiger darauf kam, zusammen mit Robert Kulek die Sonate von Francis Poulenc aufzunehmen, in dieser Stadt vor 80 Jahren uraufgeführt, während der Besetzung durch die Wehrmacht und ausdrücklich Federico García Lorca gewidmet, den spanische Faschisten ermordeten. Es ist eine der besten, sensibelsten Aufnahmen des Stücks. «Das ist ein Teil des Repertoires, das im deutschsprachigen Raum lange total ignoriert wurde», sagt Hadelich, als wir uns in eine Sesselnische gesetzt haben. «Ich fand die Sonate umwerfend, ergreifend, interessant.» Poulenc selbst war sehr skeptisch damit, warum? «Wahrscheinlich war er mit dem letzten Satz nicht zufrieden. All die Ideen, die da zusammenkommen – es ist ein bisschen zu viel Material, aber es funktioniert doch sehr gut. Es ist aber schwierig zu wissen, wie frei man spielen soll – er will keine rubati haben», also flexiblen Umgang mit dem Tempo, «aber die Musik lädt dazu ein, wenn da Momente direkt aus dem Caféhaus kommen». Über so etwas denkt Augustin Hadelich sehr viel nach. Was wollen Komponisten wirklich? Was ist eigentlich «Interpretation»?

Wie genau dieser Geiger, jetzt 39 Jahre alt, die Noten liest, besser gesagt die Partituren, das zeigt sich auch, als wir zum Violinkonzert von Antonín Dvořák kommen, das er mit der Philharmonia Zürich spielen wird. «Das ist ein Stück, das eine schlechte Interpretation nicht überlebt.» Was, unter anderem, mit der Klangbalance zu tun habe. «Es ist ungewöhnlich, dass die Geige oft in der Mittellage spielt – vielleicht, weil Dvořák Bratscher war. Die Überleitung zum zweiten Satz ist unglaublich schön, an der Stelle, an der sonst die Reprise des ersten Satzes käme. Über der tiefen Geigenstimme spielen die Bläser eine Art Choral, das ist natürlich ein einkomponiertes Balanceproblem. In der Praxis müssen die Bläser pianissimo spielen und der Geiger ziemlich laut…» Er mag auch die Art, in der Dvořák Virtuosität einsetzt. «Das ist sehr effektvoll geschrieben, manche Stellen sind wahnsinnig schwer. Aber nicht unabsichtlich schwer. Bei Brahms und Beethoven ist ganz klar, dass sie ihre Violinkonzerte am Klavier komponiert haben. Das liegt super angenehm für Pianisten», – wie Hadelich weiss, da er auch Pianist ist –, «aber wir brechen uns die Finger». Er lacht. «Dvořák weiss schon, was er macht. Der grosse virtuose Moment kommt ziemlich früh, das ganz hohe A, vor dem die Geiger Ehrfurcht haben – ob man da hochkommt?» Er hebt die Linke und lässt den kleinen Finger in die Luft schnappen. «Danach kann man erstmal aufatmen.» Erstmal. «Es gibt ein paar Stellen, die zum Schwierigsten in der Literatur gehören. Joseph Joachim wollte es nicht spielen, angeblich wegen der Form. Aber das Konzert von Bruch, bei dem Dvořák sich die Form und den Beginn mit den Kadenzen abgeguckt hat, spielte er ja. Vielleicht hatte er keine Lust auf diesen Oktavenlauf am Ende des ersten Satzes…»

Dass ich Hadelichs CD­-Aufnahme des Konzerts noch nicht kenne, ist ihm ganz recht. «Es gibt ein Youtube­-Video, da habe ich es noch besser gespielt. Ich habe sowieso ein Problem mit meinen alten Aufnahmen.» Und ausgerechnet so eine habe ich mitgebracht, den Poulenc von 2010! Aber der ist, wie sich herausstellt, ein besonderer Fall. Und das alles hängt mit den Instrumenten zusammen. So gern Augustin Hadelich nur über die Werke spricht, so persönlich wird er beim Beschreiben seiner neuen grossen Liebe, der Guarneri del Gesù «Leduc», auf der er seit drei Jahren spielt. «Die Stradivari, die ich vorher hatte, war ein ziemlich unnachgiebiges Instrument und sehr wetterfühlig. Da musste ich vorsichtig sein, dass der Klang nicht abgewürgt wird, und habe mit relativ wenig Bogen gespielt. Auf der Gesù kann man gar nicht genug Bogen nehmen. Mit je mehr Einsatz man spielt, desto mehr gibt sie einem. Sie fühlt sich einfach so verlässlich an.»

Besonders die Mittellage sei wunderbar, «wo die Stradivaris ein bisschen Probleme haben», sie klinge voller, interessanter. Selbst Unausgeglichenheiten nimmt er hin, etwa einen beträchtlichen «Wolf» auf der G­-Saite, also den Ton, der die Eigen­frequenz des Instruments so trifft, dass er ausser Kontrolle geraten kann, sich um eine Oktave überschlagen, heulen oder stumm bleiben. «Henryk Szeryng, der sie vor mir spielte, hat mit dem Wolf gekämpft und den Steg verschoben. Bei mir ist sie normal eingestellt. Sie ist jetzt besser drauf, voller und gesünder.» Ändert sich das Instrument mit dem Spieler? «Da bin ich skeptisch. Es ist eigentlich der Geiger, der sich auf das Instrument einstellt. Ich kann jetzt dreimal soviel rausholen an Farben und Volumen wie vor drei Jahren.» Er sei glücklich mit ihr. Auch die Vorvorgängerin mochte er, auf der er den Poulenc einspielte, eine frühe Stradivari, «ganz warm und weich, sehr wenig hohe Frequenzen». Vielleicht hat seine Neigung zum dunkleren Klang mit seinem ersten Lehrer zu tun, überlegt Hadelich. «Mein Vater hat mich unterrichtet, aber Cello gespielt, das hat mich immer beeinflusst.» In dem toskanischen Dorf, wo er 1984 zur Welt kam, gab es keinen Geiger, «meine Eltern hatten nicht mal einen Plattenspieler, ich weiss gar nicht, warum». Sie waren aus Deutschland nach Italien gezogen, um alternative Landwirtschaft zu betreiben. Weil Augustins Vater aus einer musikalischen Familie kam, lernten die drei Söhne Instrumente – die älteren Cello und Klavier, «und ich bekam dann eine Geige, ich habe mir die nicht ausgesucht. Es klingt ja nicht besonders gut, wenn man damit anfängt. Schrecklich! Erst später, als ich einen guten Geiger hörte, merkte ich, wie schön das klingen kann.»

Ein paar mehr gute Geiger verirrten sich aber doch in die Gegend südlich von Pisa. Augustin lauschte Uto Ughis singendem Spiel, Christoph Poppen war mit seinem Quartett unterwegs, Norbert Brainin, Primarius des legendären Amadeus Quartetts, hatte ein Haus in Italien, und sie alle wurden seine Lehrer. Am tiefsten beeindruckte ihn Brainin, Mitte 70, der dem Dreizehnjährigen erklärte, er solle nicht so viel interpretieren, sondern Ballast abwerfen. «Die Musik selbst muss der Grund für ein Crescendo, für Klangfarben sein. Jetzt verstehe ich, was er meinte, damals nicht unbedingt, was ihn frustrierte, aber die Stunden blieben mir in Erinnerung. Er las die Violinkonzerte aus der Partitur, nicht wie so viele Geigenlehrer nur mit der Solostimme in der Hand. Ob man etwas mit dem ersten oder dem zweiten Finger spielt, solche Sachen interessierten ihn nicht.» Es sei damals noch Zufall gewesen, «wie die Leute an ihre Technik kamen». Die werde heute viel besser unterrichtet, daher die zahllosen Geiger:innen, die eine Paganini­-Caprice perfekt spielen können. «Dazu gehört zwar auch Talent, die Fähigkeit, sich sehr schnell Bewegungen einzuprägen. Das fällt nicht allen Menschen leicht, aber vielen. Aber ein guter Musiker zu sein ist in jeder Generation gleich schwierig.» Die Suche nach dem eigenen Weg und dem eigenen Ton sei vielleicht sogar noch schwieriger geworden, weil so viel Mühe entfalle: «Man findet überall auf Knopfdruck jedes Stück sehr gut gespielt, da können sich die jungen Musiker die fertigen Interpretationen abholen.»

Hier in Paris probt er das Violinkonzert von Henri Dutilleux, 1985 von Isaac Stern mit demselben Orchestre National de France uraufgeführt, das nun Augustin Hadelich erwartet. Über dieses Stück spricht er noch viel. Und über Ligeti und Adès. Über Barockbögen und Coronagrotesken. Über die Vorfreude auf Zürich, wo er zuletzt für ein Streaming spielte. So lange reden wir, dass der Eiffelturm zur Gänze wieder in der Sonne steht, als ich das Hotel verlasse.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das MAG 105 der Oper Zürich, September 2023.

“Verwundbar zu sein gehört auch dazu”

Aus Albanien in die Opernwelt: Ein Treffen mit der Sopranistin Ermonela Jaho, die in Zürich die Magda in Giacomo Puccinis “La rondine” singt

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Sie trinkt ihren Espresso ohne Zucker, das Guetzli bleibt liegen, das Wasserglas bleibt lange voll, trotz der Augusthitze im Wintergarten des Café Sphères,es gibt einfach zu viel zu erzählen. Ich muss nicht mal erklären, was das für eine Porträtreihe ist, für die wir uns hier treffen, nachdem sie, Ermonela Jaho, heute schon sechs Stunden Probe hinter sich hat und ich neun Stunden reiste, dank der üblichen „Störungen im Betriebsablauf“ der Deutschen Bahn, von denen die Sängerin erstmals hört, überrascht: „Aber in Deutschland ist man doch so pünktlich!“ „Das ist dreißig Jahre her.“ Sie klopft mir amüsiert tröstend auf den Arm. Ob man vor dreißig Jahren in Deutschland oder in Albanien lebte, das ist ein himmelweiter Unterschied. Und was Ermonela als Kind und Teenager erlebte, das spielt, wie sich herausstellen wird, bis heute eine große Rolle.

Auch für ihre Gestaltung der Magda in Giacomo Puccinis La rondine, über die wir zuerst sprechen, denn bis eben hat sie auf der Probebühne an dem Stück gearbeitet. Magda gelingt gerade das nicht, was Ermonela einst schaffte, gegen beträchtliche Widerstände einen Traum realisieren. „In dieser Oper stirbt keiner“, meint sie, „aber es ist trotzdem dramatisch. Wenn du stirbst, ist das Leben vorbei“, sie klatscht kurz in die Hände wie eine Lehrerin, die „Schluss für heute!“ ruft, „aber leben mit einem Traum, der nie wahr wird, mit diesem Schmerz, das ist dramatischer, als nur zu sterben.“ Magda komme aus der demi-monde wie Violetta in La traviata, der junge Mann, den sie liebt, aus solider Familie, „und vielleicht kommt er auch nicht im richtigen Moment…“

Sie liebt es, wie der Regisseur Christof Loy arbeitet, „an allen Details, allen Personen. Jeder hat seine eigenen Gedanken, seine eigene Art, ans Leben heranzugehen, das ist in unserer Rondine auch so, nicht nur mit den Solistinnen und Solisten, auch mit der Tanztruppe und dem Chor. Es ist irgendwie eine Reise, die wir erleben hinter der Geschichte von Magda und Ruggero, eine Lebensreise. Ich bin ja seit dreißig Jahren unterwegs auf den Bühnen, ich will nicht sagen im world business, aber es passiert nicht so oft, dass ein Regisseur auf diese Weise Leben auf die Bühne bringt.“ Von world business dürfte sie durchaus reden, sie singt, in New York lebend, an den großen Häusern der Welt, und für Arte entstand sogar ein Film über sie und ihre Kolleginnen Barbara Hannigan und Asmik Grigorian, Fuoco sacro, eine Suche nach dem „heiligen Feuer des Gesangs“.

Man könnte auch einfach von Wahrhaftigkeit sprechen, von der Identität von Leben und Kunst, die auf der Bühne gelingen kann, und keineswegs, sagt Ermonela, auf der Bühne allein: „Theater ist eine direkte Verbindung vom Herzen des Künstlers zu dem des Publikums. Verwundbar zu sein gehört auch dazu. Du kannst einem schönen Klang lauschen, fünf Minuten, zehn Minuten. Okay, schön, aber passiert da noch etwas? Die Menschheit existiert noch, weil es den Austausch von Gefühlen gibt, und Oper ist das in groß.“ Ihre Stimme, ihre Mimik ändert sich bei diesen Worten, als stünde sie schon wieder auf der Bühne, überhaupt sind ihr schmales Gesicht, die Melodien und die Farben ihres Sprechens immer eins mit dem, was sie sagt. Mitunter könnte man sie fast ohne Worte verstehen – was auch im Getöse des Cafés sehr hilfreich ist.

Dunkler und schattiger klingt sie, als sie von dem Erlebnis spricht, das sie überhaupt zur Oper brachte, La traviata im Tirana des Jahres 1988, als Ermonela vierzehn Jahre alt war, in der Dämmerung des kommunistischen Regimes, das Albanien vom Rest der Welt isoliert hatte. „Ich wusste nichts über diese Oper, es war meine erste. Da war etwas, das mich so sehr berührte. Violetta, das ist eine gefolterte Seele, a tortured soul. Und wir, in Albanien geboren, haben all die Tragödien des Balkans im Blut. Kinder sind wie ein Schwamm, sie saugen alles auf. Es ist wie ein Archiv. Jeder Mensch hat das und weiß es nicht.“ Das wurde ihr erst später klar. Damals erklärte sie dem älteren Bruder, mit dem sie in die Oper gegangen war: „Ich werde Opernsängerin und ich werde nicht sterben, ohne einmal im Leben Violetta gesungen zu haben.“

Das wäre auch für ein Mädchen unter bequemeren Bedingungen eine kühne Ansage. Ermonela blieb ihr treu, studierte nach dem Zusammenbruch des Regimes Gesang am Konservatorium in Tirana und wurde dort von der Person entdeckt, ohne die es in kaum einer Sängerkarriere geht, die den entscheidenden Schritt ermöglicht. Katia Ricciarelli, italienische Sängerin, die einen Meisterkurs gab, lud sie nach Mantua ein. „Aber es war wirklich hart für mich, 1993 aus Albanien nach Italien zu kommen.“ Zehntausende Albaner waren über das Meer nach Italien geflohen und dort nicht gerade willkommen, „und jeder dort sah mich mit diesem Blick, obwohl ich dabei war, meinen Traum zu realisieren. Warum bin ich kein deutscher oder italienischer Teenager, fragte ich mich, warum muss ich leiden? Meine Therapie war es zu singen.“

Den Lebensunterhalt ihrer Ausbildung, zuerst in Mantua, dann in Rom, verdiente sie mit Babysitten und Gelegenheitsjobs. „Meinen Eltern habe ich immer gesagt, alles ist prima, ich wollte ihnen Sorgen ersparen. Sie hatten mir eine Erziehung gegeben und mich unterstützt, nun war es an mir, zu kämpfen. Wenn man aus Ländern mit solchen Schwierigkeiten wie Albanien kommt, ist das die positive Seite: Du siehst immer, wie du kämpfen musst, um dich durchzusetzen. Es gab auch Momente, in denen ich dachte, ich höre auf, jetzt reicht´s. Aber wenn ich zwei Tage lang nicht sang, merkte ich, das ist mehr als nur Karriere. Meine Seele braucht das. So machte ich weiter und weiter.“

So lange, bis sie bei einem Wettbewerb auf einer Bühne ihre „Balkan side“ ausspielen konnte, wie sie das nennt. Das ungefiltert Dramatische. „Ich bin auf der Bühne wie ein Tier, das aus dem Käfig kommt“, sagt sie und lacht, „im Leben bin ich viel kontrollierter.“ Mit 26 Jahren hatte sie in Bologna ihr erstes professionelles Engagement als Mimi in La bohème, und von da an ging es so steil aufwärts, dass sie 2008 in London für die erkrankte Anna Netrebko einsprang und triumphierte – in der Rolle ihres frühen Traums, der Violetta. Es ist sozusagen die Rolle ihres Lebens, sie ist inzwischen 310 Mal in Alfredos Armen gestorben, „aber ich bin nicht immer dieselbe Person. Ich habe in mir bestimmte Seiten entdeckt, die ich mit 20 Jahren nicht kannte.“ Als sie dachte, jetzt gäbe es für diese Rolle doch nichts mehr zu entdecken, nach ihrer Violetta an der MET im Januar, da brachte ein junger italienischer Dirigent sie auf neue Ideen, Francesco Ciampa vom Teatro Massimo in Palermo. „Ich fühlte mich, als hätte ich das noch nie gesungen! Aber jetzt werde ich mit Violetta aufhören.“

Was bleibt, ist die Erfahrung von Leiden, die sie zuerst in dieser Gestalt gebündelt fand. Ermenola ist überzeugt, dass sie vor allem deswegen etwas zu sagen hat auf der Bühne, weil sie selbst gelitten hat. „Für mich muss ein Künstler ein kleines Trauma haben. Wir lernen aus Schmerz, und Schmerz verbindet, aber das heißt nicht, dass der Künstler traurig sein muss.“ Auf die Idee käme man bei ihr ohnehin nicht, so aprilhaft wechseln Wolken und Sonne in ihrem Gesicht, so witzig führt sie vor, warum schöner Klang auch mal auf der Strecke bleiben muss. „Wenn im Drama geweint wird, kann ich nicht sagen, oh, lasst uns das schön machen“ – sie sagt das mit süß flötender Stimme und tut, als blicke sie verklärt. „Wenn du weinst, weinst du. Das ist keine Schande. Du musst es wagen, das Publikum mag das.“ Ein Vorbild bis heute ist für sie Maria Callas, „weil sie so viel am Gefühl arbeitet. Natürlich musst du deine Hausaufgaben in der Technik machen, ohne die kann man nichts ausdrücken. Es geht darum, der Stimme die Farben der Seele der Rolle zu geben, die du singst. Und keine Angst haben, sich verletzlich zu zeigen.“ Noch weniger Angst davor hat sie seit Covid. „Wir Künstler sahen, dass wir nicht mehr existierten. Du weißt nicht, was morgen passiert. Seitdem gehe ich  immer auf die Bühne, als wäre es die letzte Aufführung, das ist eine Art Befreiung, und ich weiß dann, ich habe 100 Prozent gegeben, mit all meinen Stärken und Schwächen. Like it or dislike it, but it was honest.“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erschien im MAG 104 der Oper Zürich, September 2023. Das Szenenfoto mit Ermonela Jaho und Benjamin Bernheim machte Admill Kuyler.