Kategorie-Archiv: Begegnungen

„Ich kam per Zufall zur Barockmusik“

Anna Bonitatibus über ihre Titelpartie in Agrippina, ihre Liebe zu Händel und Rossini – und ihre Anfänge in Süditalien. Eine Begegnung in Zürich

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„What do you think of her?“, sagte die Schriftstellerin, bei der ich in Venedig zu Besuch war, im Jahr 2003. Sie hatte eine neue CD mit Händels Oper Deidamia aufgelegt, kaum dass wir in ihrer Wohnung waren, sie liebt Händel. In einem ihrer Krimis, Acqua Alta – Commissario Brunettis fünfter Fall, lauscht der fieseste Typ der schönsten Arie aus Alcina. Nun aber hörten wir, wie Anna Bonitatibus den Ulisse in Deidamia sang. Nicht nur Donna Leon war begeistert von der Mezzosopranistin, mit der ich nun im Opernhaus zusammensitze. „Interessant, wie die Dinge so ihren Lauf nehmen“, sagt sie amüsiert, als ich ihr von der Begegnung erzähle. In all den Jahren hat die Sängerin ihren Weg über die Bühnen der Welt fortgesetzt, der sie nicht zum ersten Mal nach Zürich führt.

Und auch nicht zur ersten Produktion der Agrippina an diesem Haus. „2009 sang ich hier den Nerone in dieser Oper, eine Kastratenrolle. Wenn du Nerone singst, beobachtest du die meiste Zeit auch Agrippina, deine Mutter, diese atemberaubende, kalte, sonderbare Frau. Und als ich neulich zu den Proben ankam, dachte ich, verrückt, jetzt hat es Nerone geschafft, in ein und demselben Opernhaus, Agrippina zu werden, König anstelle seiner Mutter!“ Sie lacht laut in dem kleinen Garderobenzimmer. „Und es dauerte nur sechzehn Jahre“, meine ich. „Ja, es braucht Zeit, um an die Macht zu kommen…“ Macht, sagt Anna Bonitatibus, ist das eigentliche Thema des Librettos, das sie für das beste hält, das Händel je in Töne setzte, mit 24 Jahren noch am Beginn seiner Karriere.

Bis heute ist umstritten, ob Kardinal Vincenzo Grimani es schrieb – bei der Uraufführung 1709 in Venedig blieb der Librettist anonym. „Aber das Teatro San Giovanni Grisostomo wurde von Grimanis Familie gebaut, in ihrem Palazzo in Venedig. Natürlich schrieb er das, und zwar anonym, weil das Libretto die Fallen und Strategien im Vatikan darstellt. Es ist ein politischer Plot. Dieser Kardinal sagt die Wahrheit darüber, wie man im Vatikan an die Macht gelangt, wie vorsichtig man sein muss, um nicht erdolcht zu werden. Selbst kleine Rollen haben mit dem Streben nach Macht zu tun. Agrippina ist ein Netz, in dem jeder in die Falle gehen kann, in dem jeder Charakter etwas über die anderen Charaktere erzählt. Es ist sozusagen eine kollektive Oper.“

In Rom hätte sie zu der Zeit nicht aufgeführt werden können, Frauen durften dort nicht auf die Bühne. „In Venedig war das erlaubt, zudem waren in Rom, wo Händel vorher war, Opern und Musik im Theater für Jahre mit einem Bann belegt, als Buße, nachdem es ein riesiges Erdbeben gegeben hatte. Dort schrieb er das Oratorium Il trionfo del tempo e del disinganno, das er dann für die Musik von Agrippina verwendete.“ Es scheint nichts zu geben, was Anna Bonitatibus über diese Oper nicht weiß. Sie nennt die Namen aller Sänger der Uraufführung, als sei sie erst neulich mit ihnen aufgetreten. „Haben Sie etwa für alle Händelopern die Sänger im Kopf?“ „Nein. Ich sang einige Rollen und merkte, wie sehr er die italienische Schule des Singens bewunderte. Er holte auch italienische Sänger nach London. Sein Xerxes, Serse, war der Kastrat Cafarelli, und in dieser Partie nahm ich wahr, wie Händel dessen neapolitanischen Akzent in die Musik brachte…“ Sie singt zwei, drei Takte, glasklar, „das ist so neapolitanisch! Diese Art, Sänger in den Kompositionsprozess zu integrieren, ist noch nicht genug erforscht.“

Das sprudelt alles aus ihr heraus in gepflegtem Englisch, es interessiert sie nun mal brennend, viel mehr, als von ihrem Debüt an der Scala 1999 und anderen Triumphen zu erzählen. Dass Händels Favorit Cafarelli war, ist ihr um so wichtiger, als es sie zu ihrem anderen Lieblingskomponisten führt, zu Gioachino Rossini. „Da gibt es im Barbiere die Unterrichtsszene, wo Rosina singt, und Don Bartolo sagt: ,Quando cantava Caffariello quell’aria portentosa… Die Arie, die damals Caffariello so wunderschön gesungen hat‘. Das ist auch in der Vokalisierung eine Hommage an diese Art zu singen. Es gab noch Kastraten, und Rossini bewunderte ihre Kunst. Rosina singt da etwas, das im Stil nicht nach 1816 klingt, und zugleich ist sie die neue Diva, der die Zukunft gehört.“

Anna landet auch bei Rossini, als ich sie nach ihren eigenen Anfängen frage. „Ich bin die dritte von sechs Töchtern, ,terza sorella´, wie in La Cenerentola…“ Sie singt kurz die Worte des Alidoro aus Rossinis Oper und lacht. „Immer, wenn ich das später sang, dachte ich, passt perfekt!“ Sie war aber keineswegs das Aschenbrödel, sondern die einzige, die dem Musikunterricht im süditalienischen Städtchen Potenza treu blieb. Mit vierzehn bekam sie ihr eigenes Klavier, „so eins wie das hier“, sie zeigt auf das Instrument neben sich, „das habe ich noch.“ Sie studierte Klavier bis zum Diplom, „dazu kamen etwas Komposition, Partituren, Kammermusik, dann natürlich ernsthaft Gesang.“

„Und wie haben Sie Ihre Stimme entdeckt?“ „Wissen Sie, dass Sie der erste sind, der mich das fragt? Ich glaube, ich habe immer gesungen. Es gibt ein Foto von mir mit vier Jahren vor einem Mikrofon. Mit fünf wurde ich für einen Wettbewerb angemeldet, aber ich war zu scheu. Später wurde ich immer bei Schulfesten gefragt, und der Chorleiter sagte: Du hast eine Stimme, du solltest das studieren, und ich folgte dem Rat.“ Ihre Eltern unterstützten sie, „keine Musiker, aber sensibel für die Künste, sehr warmherzige, einfache Menschen“, eine Lehrerin und ein Transportunternehmer. Als nach dem Diplom in Genua die Karriere der Sängerin begann, spielte Händel für sie noch keine Rolle. „Ich bin per Zufall zur Barockmusik gekommen. Jemand fragte mich, offenbar war es gut, und ich wurde wieder gefragt. Sorry, mehr weiß ich nicht!“ Sie lacht. „Ich würde auch gar nicht von Barockgesang sprechen, es ist Oper. Es ist für eine Bühne geschrieben, mit starken Libretti, mit Darstellung.“

Und von Rossini zu Händel sei es nicht weit. „Es gibt so viele Parallelen! Ich sehe sie wie zwei starke Säulen am Beginn der Jahrhunderte, von ihnen aus wurde vieles anders. Kein Meyerbeer ohne Rossini, kein Verdi. Kein Gluck und Mozart ohne Händel. Und beide haben sich selbst oft recycelt. Es musste ja schnell produziert werden! Was sie auch verbindet, ist die opera seria. Rossini wird immer noch als Komponist der opera buffa gehandelt, was ich wirklich hasse. Welche buffa? Von seinen 40 Opern waren 25 seria, fünfzehn Farcen und semiseria. Er war glücklich, als er in Neapel mit fantastischer Besetzung experimentieren konnte. Zelmira, Otello, Maometto Secondo, all das, bis hin zu Guillaume Tell für Paris – und keiner macht das!“

Immerhin, wende ich ein, ist Rossinis späte Petite Messe solenelle von 1863 oft zu hören. „Ich frage mich oft, was das ist. Es klingt wie eine Oper mit einem geheimen Text. Ich glaube, er war Atheist, das ist meine persönliche Ansicht. Natürlich – wenn wir uns dem letzten Kapitel des Lebens nähern, werden wir spirituell, das hat auch seine Ironie. Der Text ist sakral, aber es geht um das Wissen, das Rossini in seinem Leben gesammelt hatte. Er hat immer komponiert, das mit den ,stillen Jahren‘ glaube ich nicht. Ich glaube, er hat viel über neue Wege des Komponierens nachgedacht. Oh, wir sollten über Händel sprechen, oder? Wenn Sie mich anfangen lassen, höre ich nicht mehr auf!“

Dann bräuchten wir für Händel ein paar Tage… Stattdessen sprechen wir über Beethovens italienische Lieder, die sie im eigenen Verlag herausgibt. Und über die historisch informierte Interpretation, die sie nicht daran hindert, frühe Barockaufnahmen mit riesigen Orchestern zu bewundern. „Es ist so wichtig zu entdecken, was diese Musik diesen Leuten sagte! Wir glauben gern, wir wüssten alles. So falsch! Wir wissen das, was wir bis jetzt zusammenbrachten. Ich bin immer bereit, meine Meinung zu ändern.“ Sie schnippt mit den Fingern. „Altern ist ein Prozess, bei dem mehr Fragen als Antworten entstehen.“ Hinter ihr Gesangsideal macht sie aber kein Fragezeichen, sondern schreibt es mir auf, so, wie Rossini es von Petrarca übernahm und seiner letzten Schülerin aufschrieb: „Quel cantar che nell‘anima si sente. Gesang, der in der Seele zu hören ist.“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien – geringfügig kürzer – im Magazin der Oper Zürich, MAG 119, Februar 2025, und ist auch auf der Website des Hauses zu lesen. Agrippina hat Premiere am 2. März 2025. Das Orchestra La Scintilla spielt unter der Leitung von Harry Bicket, Regie führt Jetske Mijnssen. Das Foto (Oper Zürich) zeigt Anna Bonitatibus bei den Proben.

 

 

“Alle Beziehungen in diesen Opern sind completely toxic”

Elena Stikhina hat eine steilsten Sängerkarrieren der jüngsten Jahre hingelegt. Eine Begegnung mit der russischen Sopranistin während der Proben zu “Manon Lescaut” in Zürich

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Bis heute ist sie stolz auf die weite Reise, die ihr Vater zu ihr unternahm, kurz bevor er starb. «Es ist so eine Erleichterung, dass er mich noch auf der Bühne erleben konnte», sagt Elena Stikhina. 6 000 Kilometer Luftlinie sind es von ihrem Geburtsort Lesnoi im Ural bis nach Wladiwostok am Pazifik, wo vor gut zehn Jahren ihre Karriere begann, wo ihr Vater sie als Zarin Militissa im Märchen vom Zaren Saltan von Nikolai Rimski-Korsakow sah und hörte – und wusste, dass er sich um seine Tochter keine Sorgen machen musste. Am neuen Opernhaus der Stadt, dem drittgrößten in Russland, war sie gerade fest engagiert worden, wenig später sang die 28-Jährige dort schon die Titelpartie der Tosca.

Von da an sind die grossen Frauenrollen von Giacomo Puccini nicht mehr wegzudenken aus der geradezu schwindelerregend steilen Karriere, die Elena Stikhina jetzt zum zweiten Mal ans Opernhaus Zürich führt – als Titelheldin in Manon Lescaut. «Üblicherweise wird Manon als etwas raffinierte Frau gezeigt», meint sie vor der Probe, «bei uns ist sie ein Teenager, ziemlich rock’n’rollish, sie macht immer das Gegenteil von dem, was man von ihr erwartet. Das ist dann auch ihr Drama. Barrie versucht, zu zeigen, wie sich ihr Charakter ändert, so dass die Leute am Ende mit ihr leiden. Ich finde es grossartig. Er verlangt Emotionen in jedem Moment, es gibt nicht eine Sekunde, die nicht ausgefüllt wäre.»

Mit Barrie Kosky hat sie schon mehrmals zusammengearbeitet, «er macht nie, was wir sonst sehen. Wenn da ein Limit ist, eine Linie, geht er immer darüber hinaus.» Besonders beeindruckt hat sie das im vergangenen Jahr in Amsterdam, als sie die Suor Angelica in Puccinis Trittico sang, jene nach einem Fehltritt ins Kloster geschickte Frau, die dort vom Tod ihres unehelichen kleinen Kindes erfährt. «Nachdem sie für ihr Kind gesungen hat, ist sie so emotional, dramatisch, verrückt, dass sie in dieser Produktion die Asche ihres Sohnes aus der Urne über sich schüttet. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Es war auch für mich herzzerbrechend, das so zu singen. Natürlich, wenn du zu emotional wirst, könnte es schwierig werden mit dem Singen. Aber wenn du die Balance findest, wie ein Akrobat auf dem Seil, gibt dir die Emotion mehr Farben.»

Schwester Angelica, Manon Lescaut, Tosca, Madama Butterfly, die Sklavin Liù in Turandot – fast alle Heldinnen in Puccinis Opern und vielen anderen Opern, die Elena singt, müssen am Ende sterben. «Sterben Sie gern auf der Bühne?» «Ja! Das ist sehr schön. In dem Moment, wo du stirbst, kannst du die Rolle verlassen und wieder du selbst sein. Du atmest den Charakter aus. Ausserdem ist es sehr emotional, auf der Bühne zu sterben, und Puccini weiß etwas vom Drama. Er weiß, dass Frauen auf der Bühne leiden sollten.» Das hat auch zu tun mit dem Frauenbild des 19. Jahrhunderts, weit von unserem entfernt. Wie kommt es, dass einem diese Gestalten immer noch so nahe gehen?

«Alle Beziehungen in diesen Opern sind completely toxic», meint sie, durchweg englisch sprechend. «Und wir sollten nicht vergessen, diese Frauen sind alle sehr jung. Salome ist dreizehn, Tschaikowskis Tatjana auch, unsere Manon ist auch noch sehr jung. Wenn man mit dreizehn, fünfzehn, siebzehn liebt, und die Liebe zerbricht, denkt man, das ist das Ende der Welt. Es ist die erste oder zweite Liebeserfahrung überhaupt. Teenager wissen nicht, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen können, sie sind extrem und revolutionär.» Auch das, meint sie, gebe den Gestalten ihre anhaltende Aktualität.

Und natürlich die Musik. Puccini ist der Sängerin besonders nahe, nicht nur der intensiven Gefühle wegen, auch, weil das Orchester oft die Stimme «verdoppelt», «und weil er immer komfortabel für die Stimme schreibt. Auch wenn es schwierig wird, ist es immer mit dem Atem geschrieben.» Aber sie singt ja nicht nur Puccini. Sie hat Strauss’ Salome an der Scala und in Zürich verkörpert, Wagners Senta im Mariinski in St. Petersburg, in Paris feierte man sie als Tatjana in Eugen Onegin, an der MET singt sie Verdis Amelia und Leonora – eine gewaltige Bandbreite, oder? «Not for me», sagt sie lachend. «Man hat nur eine Stimme, aber die Frage ist, wie man sie benutzt. Meine erste Lehrerin sagte, deine Stimme soll dein Freund sein. Dann kannst du machen, was du willst.»

Wie hat sie ihre Stimme entdeckt? «Das war nicht ich. Ich lernte Klavier an der Musikschule in Lesnoi, das war nicht gerade meine Passion. Ich wurde in der Schule aber immer wieder gebeten, zu singen, und stieß dann auf eine Lehrerin, die ein grosser Opernfan war, eine Pianistin mit einer riesigen CD-Sammlung. Sie hatte soviel Oper im Blut, das war wie ein Virus. Bis dahin hatte ich Operngesang gar nicht als Beruf ernstgenommen, und sie öffnete mir eine Welt. Aber was mich wirklich zur Oper brachte… Wenn du Gesangsunterricht hast, kommt irgendwann der Punkt, dass du diese Vibrationen im Körper spürst, wenn du singst. Und danach beginnst du süchtig zu werden. Du kannst nicht leben ohne das, was da in deinem Blut vorgeht, dieses Adrenalin!»

Ihr Vater, ein Ingenieur, liebte die klassische Musik und verehrte die Mezzosopranistin Olga Borodina, und er unterstützte den Berufswunsch seiner Tochter. Am Moskauer Konservatorium sorgte Elena Stikhina für einen Skandal, als sie es wagte, die Lehrerin zu wechseln. «So etwas ist in Russland nicht erlaubt, ein Lehrer ist eine Autorität! Aber eine Menge guter Stimmen wurden von Lehrern verdorben, das passiert auch weiterhin.» Den besten Rat, meint sie, habe ihr Makvala Kasrashvili gegeben, die sie nach ihrem Studienabschluss unterrichtete. «Sie sagte, ich kann dich nicht lehren, wie man singt. Ich kann dir den Weg zeigen. Aber wie man singt, das lernst du von dir selbst.»

Natürlich lernte sie auch von den Sängern, die sie in Aufnahmen und Vorstellungen hörte, aber ein Vorbild hatte sie nie. «Alle inspirieren mich, aber keiner von uns ist perfekt. Es gibt ein russisches Stück über eine Dame, die heiraten will. Sie kann sich für keinen der Kerle entscheiden und sagt, ich nehme vom einen die Nase, vom andern die Augen – sie kompiliert die alle!» Unvergesslich ist ihr vor allem der wohl letzte Auftritt der legendären Mezzosopranistin Irina Archipova, 1925 geboren, in einem Konzert. «Sie war schon ziemlich alt. Sie sang ein paar Barockarien, und ich war überrascht, wie rein und schön ihre Stimme war. Sie stand da und sang, und es war wie ein Zauber, wie wenn du von jemandem aus weiter Vergangenheit berührt wirst.»

Was Elena Stikhina vorantrieb, waren ziemlich hochfliegende Träume, die keineswegs alle sofort in Erfüllung gingen. «Von Anfang an,» sagt sie, «wollte ich die Liù in Puccinis Turandot singen, eine der schönsten Rollen überhaupt. So rein und natürlich! Letzten Oktober wurde der Traum wahr, an der Berliner Staatsoper.» Ein anderer Traum war das Debüt an der Scala. Die Salome von 2021 war noch kein richtiger Auftritt, «das war während der Pandemie ohne Publikum. Aber jetzt gerade habe ich dort die Leonora in La forza del destino gesungen, und ich war sehr nervös! Dieser Erwartungsdruck!» Da ist sie kritisch mit sich. «Ein bisschen Adrenalin, kontrollierter Stress, das ist gut. Aber wenn einem vom Stress die Kehle austrocknet…» Was hilft dann? «Nicht an die Zukunft denken. Nicht an den vierten Akt. Nur auf den Moment konzentrieren!»

Als wir dann noch über die Entwicklung der Darstellungskunst in den letzten Jahrzehnten sprechen, verstehe ich ein Wort nicht. Sie lacht schallend, eine ganze Oktave hindurch. «Regietheater!», ruft sie. «Immer, wenn ich mal ein deutsches Wort benutze, sagen die Leute: What?» Sie hält grosse Stücke aufs Regietheater, «wenn der Regisseur eine Idee zum Stück hat, so wie Barrie.» Aber konventionelle Spektakel mag sie auch. «Es ist immer gut, eine Balance zu haben. Generell. Auch zwischen Theater und Leben.» Das ist jetzt besonders einfach für Elena Stikhina, denn vor einem Jahr ist sie nach Zürich gezogen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das MAG 118 der Oper Zürich, Januar 2025. Manon Lescaut hat am 9. Februar 2025 Premiere, dirigiert von Marco Armiliato und inszeniert von Barrie Kosky. Das Bühnenbild schuf Rufus Didwiszus. Foto: Ksenia Paris

“It was so… booaah… you know?”

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Charles Castronovo kam als Einwandererkind in New York zur Welt, inzwischen ist er einer der Stars der MET – und lebt in Berlin. Wir treffen uns in Zürich, wo er als Riccardo in Verdis “Maskenball” gastiert.

Es ist die alte Geschichte, “vorrei e non vorrei”, halb will sie und halb nicht. Aber es ist komplexer, Riccardo ist nicht Don Giovanni. Er ist egoistisch, doch sensibel er auch. Er und Amelia, Gemahlin seines Freundes und Sekretärs, kennen sich schon länger, und die Lage ist ohnehin brisant, man will ihm, dem Politiker, ans Leben… Den ganzen Vormittag wird an diesem Duett geprobt, wohl Verdis größtes Liebesduett überhaupt, das mit Amelias „Si, t´amo“ noch nicht endet. Millimeterarbeit am kleinen Kuss, den die Regisseurin Adele Thomas sich wünscht, immer wieder auf die Probebühne springend, zeigend, wie sie sich Amelias Ambivalenz in ihrer Haltung ausdrücken könnte, wie weit Riccardo seinen Zylinder von sich werfen könnte, wenn er ihr ganz nah ist…

Dieser Riccardo ist eins mit seinen Tönen. Sie scheinen seine Schritte wie seine Blicke zu lenken. Der sanfte Sechsachteltakt, in dem er, „Non sai tu…weisst du nicht…“, von seiner Zerrissenheit singt, wie sollte sie dem widerstehen? Mal abgesehen davon, dass er aussieht wie der perfekte Liebhaber. „Stoß ihn weg“, sagt die Regisseurin, „aber nicht zu heftig…“ Und was denkt sich der, der hier alles aufs Spiel setzt? „Sorry that this happened…but…come on!“ So fasst Charles Castronovo beim Proben Riccardos obsessiven Leichtsinn zusammen, den er in jeder Geste, in der ganzen Haltung realisiert, gerade so, wie das von Verdi komponiert ist. Vor kahlen Holzwänden agieren die Sänger, statt des Orchesters spielt eine Pianistin, man macht Witze, aber die Luft knistert.

„Riccardo is a tricky charakter“, meint der 49-jährige nach der Probe. „Nicht die sympathischste aller Rollen, aber musikalisch unbeschreiblich. Es ist nicht leicht, auf seiner Seite zu sein, auch wenn er am Ende, wenn er stirbt, aufrichtig sagt, dass Amelia treu blieb. Aber sie haben einander ja ihre Liebe gestanden!“ Was Charles Castronovo, der die Rolle schon in München und an der MET sang, ein bisschen unfair findet, ist etwas anderes: „Man singt so viel und technisch anspruchsvoll, und am Ende kriegt man nicht so viel Applaus wie für andere Rollen. Cavaradossi in Tosca hat 35 Minuten zu singen, ein symphatischer Charakter, der getötet wird – und die Leute drehen durch! Riccardo, das sind 80 Minuten, und schwieriger. Und da heißt es dann nur ,Bravo, good job‘…“

Er lacht, so ist das nun mal. Er hat mehr als genug andere Rollen. Aber auch der Riccardo steht auf einer Liste, die Charles vor bald drei Jahrzehnten anfertigte, noch in Kalifornien, „die liegt jetzt irgendwo in einer Kiste. Alle Rollen, die ich in meiner Karriere singen wollte, dazu das Alter, in dem ich das wohl tun würde.“ Diese Daten habe er mit „weird math“ ermittelt, einer etwas kühnen Statistik, die seinem brennenden Interesse an Sängerbiographien folgte, Tenöre natürlich. „Am Ende jeder Biographie, sei es Bergonzi, Corelli, Gedda, steht, wann sie ihre Rollendebüts hatten. Der erste Nemorino, der erste Cavaradossi… Das schrieb ich mir auf und guckte, wo ich hinpasse. Franco Corelli zum Beispiel sang Cavaradossi zuerst mit, sagen wir mal, 30, ich habe aber eine viel leichtere Stimme, also: 40! Einiges auf der Liste traf ich, einiges kam später.“

Castronovos Obsession mit der Geschichte seiner Vorgänger, der lyrischen Tenöre mit Tendenz zum Dramatischen, hat viel zu tun mit seinem Weg zur Oper, der ziemlich amerikanisch verlief. Eigentlich muss man sogar zurückgehen bis zu Charles´ sizilianischem Großvater. „Der sagte immer, wie kommt es nur, dass wir keinen Sänger in der Familie haben? Naja, wenn Sie hören würden, wie der sizilianische Teil meiner Familie spricht…“ Er gibt rauhe, röchelnde Laute von sich. „Es klingt wie ein Mafiafilm. Da kann keiner singen. Und auf Seiten meiner Mutter, in Ecuador, da wissen sie, wie man tanzt, aber es gibt keine Musiker.“ Die Einwandererkinder verliebten sich blutjung in New York. Charles´ Mutter war 19 Jahre alt, als er in Queens zur Welt kam. Dann zog man um an den Rand von Los Angeles. Der junge Vater belud mit dem Gabelstapler die LKW, die Kalifornien mit Lebensmitteln versorgten, und der einzige Fetzen Oper, den sein Junge hörte, ohne es zu wissen, war eine Arie aus Rossinis Barbiere, dirigiert vom Fernsehhasen Bugs Bunny.

Charles sang gut und gern, liebte die Beatles und Led Zeppelin und wollte Rockstar werden. Die Band hatte er bald und eine Gitarre, „aber ich hatte nicht diesen Sound für Rock, die Stimme war zu sauber.“ Die war aber im Schulchor willkommen, er durfte da auch Soli singen. Dann gab ihm der Vater eines Freundes, aus Bologna eingewandert, Opernfan, ein paar CDs. Er hörte den Anfang von Otello. „Evviva, evviva, babababaa, babababaa“, er singt die Takte vor Otellos Einsatz, „I couldn´t believe it, it was so… booaah… you know?“ Und dann: Plácido Domingo. „I heard it, I felt it and I said, that´s what I will do.“ Für ihn war das der Rock´n´Roll der Klassik.

„Da war ich sechzehn. Von der Highschool ging ich dann an die Uni und studierte Gesang.“ Es hielt ihn da nicht lange. Bis auf zwei, drei ältere Gleichgesinnte war er an der California State University allein mit seiner Besessenheit, dauernd Opern zu hören, Klavierauszüge zu lesen und über Sänger zu reden. „Und ich wollte auf der Bühne sein!“ Nach einem Jahr Studium sang er für den Opernchor in Los Angeles vor, das ging gut, und da entdeckte man ihn für kleinere Rollen. „Meine erste war Baron Rouvel in Giordanos Oper Fedora. Raten Sie, wer die Hauptrolle sang. Domingo!“ Wie ein Schwamm, sagt er, habe er zwei Jahre lang alles aufgesogen, was er von all den großen Kollegen auf der Bühne der Los Angeles Opera lernen konnte. „Es war eine tolle Zeit, und ich bekam Geld, genug für mich mit 23, 24 Jahren. Am Ende hatte ich hundert Vorstellungen gehabt!“

Danach kreuzten sich in New York zwei junge Sängerlaufbahnen. Wie Charles Castronovo ist auch Eric Cutler ins Förderprogramm der MET aufgenommen worden, etwa gleichaltrig, auch er das Kind von „ganz normalen Leuten“, für die Oper so weit weg wie der Nordpol war. „Verrückt, und nun singen wir als Tenöre rund um die Welt!“ Charles´ Basis wurde bald Europa. 90 Prozent seiner Auftritte finden hier statt, und in Berlin kaufte er schon vor achtzehn Jahren eine Wohnung, „als das fast nichts kostete. Seit sieben Jahren lebe ich da full time, und ich bin froh, dass meine beiden Söhne in Deutschland aufwachsen, sie sind elf und siebzehn. Ich will nicht dramatisch werden, aber als ich sieben Jahre alt war – wir lebten nicht in der besten Gegend von Los Angeles – sah ich, wie auf einen Jungen drei Meter von mir entfernt geschossen wurde. Ein Vierzehnjähriger, wir hatten gerade mit dem gesprochen. Ich erinnere mich daran wie an einen Film.“

Und das Amerika von heute? Es ist der Tag der Präsidentschaftswahl, an dem wir in Zürich zusammensitzen. Noch ist alles offen. „Ich liebe mein Land, aber ich muss sagen, dass ich in den letzten Jahren kein gutes Gefühl hatte, was den Zustand dieses Landes betrifft.“ Er sagt noch viel mehr dazu, nicht weniger leidenschaftlich, als wenn er über die Helden seiner Zunft spricht, über den jungen Carreras, über Giuseppe di Stefano, über Pavarotti, dem er dankbar ist, dass er als Riccardo beim gemeinsamen hohen C am Ende des Duetts mit Amelia auch mal einbrach. „Wenn sogar der König der hohen Cs Fehler macht… Ich brauche nicht perfekt zu sein. Verdi hat dieses C nicht geschrieben, und ich habe es in der Metropolitan nach vier Vorstellungen weggelassen.“

Ja, die Wahlen. Auch in der Zürcher Inszenierung von Un ballo in maschera wird gewählt. „Governor of Boston“ steht auf den Flyern mit Riccardos Porträt, die auf der Probebühne verstreut liegen. Charles Castronovo greift sich einen, als er auf Erika Grimaldi zugeht, auf Amelia, hält ihn mit beiden Händen vor sich und zerreißt ihn. Es wirkt völlig spontan, und vieles steckt darin. Das Zerreissen einer Karriere, eines Kleides, einer Konvention. „Di che m‘amo!“ „Im Konzert singe ich nie so gut wie auf der Bühne“, hat er nach der Probe gestanden. „Ich brauche die Bewegung, die Reaktionen. I prefer to act on stage!“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien in kürzerer Fassung im MAG 117 der Oper Zürich, November 2024. “Un ballo in maschera” hat am 8. Dezember 2024 Premiere in der Inszenierung von Adele Thomas, musikalisch geleitet von Gianandrea Noseda. Das Probenfoto von Toni Suter zeigt Erika Grimaldi (Amelia) mit Charles Castronovo (Riccardo).