Kategorie-Archiv: Begegnungen

“Ich möchte dem Publikum helfen zu verstehen, was passiert”

Die britische Komponistin Laura Rossi erzählt von ihrer Arbeit für das Ballett “Atonement” in Zürich – und dem Weg dorthin

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Rare Situation, eine Geschichte in Tönen zu hören, die man noch nicht gelesen hat. Ich weiß nur in Grundzügen, worum es in Ian McEwans Roman Abbitte von 2001 geht, als ich im Probensaal am Kreuzplatz sitze und der Philharmonia Zürich lausche. Der Dirigent Jonathan Lo steuert die Musikerinnen und Musiker erstmals durch den zweiten Teil des Balletts, das nach dem Buch entsteht, und die Partitur klingt schon so klar, dass sich wie von selbst Bilder einstellen – nicht nur, wenn Militärtrommeln auf die Soldaten der britischen Armee schließen lassen, die 1940 aus Dünkirchen evakuiert werden. Verdichtungen, Entspannungen, großangelegte rhythmische Patterns, Registerwechsel, undurchdringliche Cluster, idyllische Linien… Man hört, dass es um Konflikte, Begegnungen, um Liebe geht. Und dass es, last but not least, eine Filmkomponistin ist, die da ein paar Meter hinter dem Dirigenten in ihrer grossen Partitur mitliest und immer wieder fröhlich ins Orchester schaut.

Laura Rossi ist für zwei Tage aus London nach Zürich gekommen, um hier Details mit Jonathan Lo und Cathy Marston klären zu können, der Choreografin, die dieses Projekt ersann und sich ausdrücklich Laura Rossi als Komponistin wünschte. «Was sie darauf brachte, war Battle of the Somme», meint Laura, als wir nach der Probe zusammensitzen. Blendend gelaunt und rasend schnell sprechend, fasst sie mit «footage, 74 minutes» erstmal nur sehr knapp zusammen, was es mit ihrem besonderen Kinohit auf sich hat. Im Vereinigten Königreich kennt praktisch jeder den dokumentarischen Stummfilm von einer der grauenhaftesten Schlachten des Ersten Weltkriegs, zu der im Juni 1916 zwei britische Kameramänner an die Somme im Norden Frankreichs geschickt wurden. Über hundert französische und britische Divisionen und fünfzig deutsche Divisionen standen einander gegenüber. Schon am ersten Tag verloren mehr als 19.000 Briten das Leben, unter ihnen viele Freiwillige.

Laura hat zu diesen blutigen Ereignissen eine familiäre Beziehung, denn ihr Urgrossonkel Fred hat sie mit grossem Glück überlebt. «Er gehörte als 20-jähriger Bahrenträger zur 29. Division, die auch im Film vorkommt, und hat ein Kriegstagebuch geführt. Er starb, als ich zehn Jahre alt war.» Obwohl im Stummfilm, vor der Schlacht und in ihren ersten neun Tagen aufgenommen, auch Granattrichter und Tote zu sehen sind – neben fröhlich winkenden jungen Männern, die in der Sommersonne zur Front marschieren –, durfte er schon im selben Jahr im UK gezeigt werden und hielt den Rekord an den Kinokassen, bis ihm Star Wars 1977 den Rang ablief. 2016, hundert Jahre nach der Schlacht, bekam Laura Rossi den Auftrag, eine neue Musik zum Film zu schreiben, live vor der Leinwand aufzuführen, was dann hundert Orchester, Profis wie Amateure, mit grösstem Erfolg taten. Mit der Folge, dass Cathy Marston die besondere Sensibilität auffiel, mit der das komponiert ist.

«Atonement ist meine erste Ballettmusik, und ich möchte unbedingt eine weitere schreiben», meint Laura, die ungern auf die Stummfilme, Spielfilme und TV-Serien festgelegt wird, für die sie arbeitet. Genauso wichtig ist ihr, was sie «concert music» nennt, eigenständige Musik. Für das Ballett zu schreiben ist gewissermaßen ein Weg zwischen beidem und «auf jeden Fall schwieriger als Kino, weil die Musik alles trägt». Wie ist sie da herangegangen? «Ich habe McEwans Buch gleich ein paar Mal gelesen, um da tief hineinzukommen, und dann gab es eine Menge von Zoom-Meetings mit Cathy, sie in Zürich, ich in London. Bei ihr ist Briony, die Hauptfigur, als Erwachsene keine Schriftstellerin, sondern Choreografin, aber die Charaktere bleiben dieselben.» Briony ist, im Jahr 1935, als Dreizehnjährige als erste am Tatort gewesen, als ihre Cousine vergewaltigt wurde, und hat wider besseres Wissen jenen Robbie bezichtigt, den ihre ältere Schwester Cecilia liebt.

«Ich muss an die Emotionen herankommen, ehe ich die Musik schreibe, und dafür mache ich auch Zeichnungen, mit Bleistift, auch bei concert music, und dann gehe ich ganz altmodisch mit Notenpapier ans Klavier.» Gibt es bestimmte Muster, auf die sie dann zurückgreift? «Nein. Ich versuche immer, frei zu sein, mich nur von der Geschichte und den Charakteren inspirieren zu lassen. Mit jedem Projekt fängt man ganz von vorn an. Ich habe Versuche, die ich niemandem zeigen würde.» Sie lacht. Entwürfe zu verschiedenen Szenen hat sie, in digitale Orchesterklänge umgesetzt, an Cathy Marston geschickt, und in der Diskussion wuchs nach und nach zusammen, was nun die Philharmonia Zürich spielt. Wobei den Rollen auch Soloinstrumente zugeordnet sind – für Briony das Klavier, für Cecilia die Geige, für Robbie das Cello. Zwei dieser Instrumente beherrscht Laura selbst, Klavier und Geige, dazu Bassgitarre.

Damit kam sie überhaupt zur Musik – abgesehen davon, dass ihr italienischer Vater ein Profipianist war und ihre englische Mutter als Amateursängerin auf der Bühne stand. Als Bassistin und Pianistin spielte Laura, in Birmingham geboren und in der Grafschaft Devon aufgewachsen, schon zu Schulzeiten in einer Big Band mit, für die sie auch komponierte, als Geigerin sammelte sie Erfahrung in einem Jugendorchester. Da lag es nahe, an der Universität von Liverpool eine Mischung aus Pop, Jazz und Klassik zu studieren. Weil der Kurs nicht zustande kam, stieg sie ganz in die Klassik ein, Komposition und Orchestrierung inklusive, und leckte Blut, als es auch um Filmmusik ging. Am London College of Music hat sie das Fach bis zum Master Degree studiert; mit Shakespeare stieg sie in die Praxis ein: Für sieben frühe Stummfilme zu seinen Stücken, Silent Shakespeare, schrieb sie Musik für Klavier, Gitarre und Streichquartett. Man hört da mit Debussy auch einen der Komponisten heraus, von denen sie besonders viel über das Orchestrieren lernte: Bernstein und Strawinsky, aber auch Jazzarrangeure wie Count Basie und Nelson Riddle. Und sie bewundert Ennio Morricone. «Er hat eine einzigartige Fähigkeit, alle Emotionen einer Szene in seiner Musik direkt zusammenzuführen, da kann die Musik sogar für sich stehen.» Gibt es Standards, an die sich Filmkomponisten heute halten müssen? «Nein, es ist eine besonders gute Zeit, es gibt nicht den einen Trend. Es gibt grosse Orchesterpartituren, experimentelle kleine Besetzungen, elektronische Partituren, Pop und Jazz…» Künstliche Intelligenz als Konkurrenz fürchtet sie nicht. «Das wird sich auf Hintergrundmusik beschränken und es die Leute eher mehr schätzen lassen, wenn sie das Menschliche eines echten Komponisten fühlen, die Einzigartigkeit einer großen Filmpartitur.»

Natürlich kommt es vor, dass TV-Regisseure enge Vorgaben machen. Aber für die Polizeiserie Redemption auf ITV konnte die Komponistin sogar einen Song verwenden, den ihre jetzt 16 Jahre alte Tochter Marcella schrieb. Derzeit arbeitet Laura an einem Stück für einen riesigen Kinderchor – 1000 Stimmen! – und zwei Orchester des Londoner Stadtteils Ealing, in dem sie mit ihrer Familie lebt. Kinderbuchautor Michael Rosen hat den Text geschrieben, in der Royal Albert Hall wird das Werk demnächst uraufgeführt. Und der Erste Weltkrieg lässt sie weiterhin nicht los: Nach der Musik zu Battle of the Somme und einer weiteren zum 1917er Stummfilm zur Schlacht an der Ancre ist jetzt die Schlacht von Arras an der Reihe, wieder ein Auftrag des Imperial War Museum in London.

In Atonement prägt der Krieg nur zeitweise das Geschehen. Da ist der Komponistin vor allem das private Drama nahegegangen. Was mit einem unschuldigen Sommertag beginnt, «ganz einfache Klaviermusik», führt bald «zu den dunkelsten Stellen, zur Vergewaltigung», und am Ende des Buchs wie des Balletts ist Briony – «wie meine Grossmutter», sagt Laura – eine alte, demente Frau, deren Erinnerungen sich verwirren. Welche komplexen Klänge sie dafür fand, das sei hier nicht verraten. Nur die Maxime der Komponistin: «Ich möchte dem Publikum helfen zu verstehen, was passiert.»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 111 der Oper Zürich, April 2024, und ist auch auf der Website des Hauses zu lesen. “Atonement” hatte am 28. April Premiere in der Oper Zürich, in Anwesenheit des Autors Ian McEwan. Das Foto von Laura Rossi ist der Website der Komponistin entnommen.

“I want to help the audience understand what is happening”

British composer Laura Rossi talks about her work for the ballet ‘Atonement’ in Zurich – and how she got there

It’s a rare situation to hear a story in sound that you haven’t yet read. I only know the outline of what Ian McEwan’s 2001 novel Atonement is about as I sit in the rehearsal hall at Kreuzplatz and listen to the Philharmonia Zürich. Jonathan Lo steers the musicians through the second part of the ballet, which is based on the book, for the first time, and the score sounds so clear that images come to mind as if by magic – not only when military drums suggest the soldiers of the British army being evacuated from Dunkirk in 1940. Condensations, relaxations, large-scale rhythmic patterns, changes of register, impenetrable clusters, idyllic lines…

You can hear that it’s about conflicts, encounters and love. And that, last but not least, it is a film composer who is reading along in her large score a few metres behind the conductor and keeps looking happily into the orchestra. Laura Rossi travelled from London to Zurich for two days to clarify details with Jonathan Lo and Cathy Marston, the choreographer who conceived this project and expressly wanted Laura Rossi to be the composer. “What brought her to me was Battle of the Somme,” says Laura when we sit down together after the rehearsal. In a dazzling mood and speaking at breakneck speed, with “footage, 74 minutes” she summarises very succinctly what her special cinema hit is all about.

In the UK, practically everyone knows the silent documentary film about one of the most horrific battles of the First World War, which two British cameramen were sent to the Somme in the north of France to film in June 1916. Over a hundred French and British divisions and fifty German divisions faced each other. On the very first day, more than 19,000 British soldiers lost their lives, including many volunteers. Laura has a family connection to these bloody events, as her great-granduncle Fred was very lucky to have survived them. “As a 20-year-old stretcher-bearer, he belonged to the 29th Division, which also appears in the film, and kept a war diary. He died when I was ten years old.”

Although the silent film, shot before the battle and in its first nine days, also features shells and dead bodies – alongside cheerfully waving young men marching to the front in the summer sun – it was allowed to be shown in the UK in the same year and from then on held the record at the box office until Star Wars overtook it in 1977. In 2016, one hundred years after the battle, Laura Rossi was commissioned to write a new score for the film to be performed live in front of the screen, which a hundred orchestras, both professional and amateur, did with great success. As a result, Cathy Marston was struck by the special sensitivity with which the music was composed.

Atonement is my first ballet score, and I really want to write another one,” says Laura, who is reluctant to be pinned down to the silent films, movies and TV series she works for. Just as important to her is what she calls “concert music”, autonomous music. In a way, writing for ballet is a path between the two and “definitely more difficult than a film score because the music carries everything.” How did she approach it? “I read McEwan’s book a few times to get deep into it, and then there were a lot of Zoom meetings with Cathy, she in Zurich, me in London. With her, Briony, the main character, is not a writer as an adult, she is a choreographer, but the characters remain the same.”

As a thirteen-year-old in 1935, Briony was the first on the scene when her cousin was raped and, against her better judgement, she accused the Robbie that her older sister Cecilia loves. He is released from prison after enlisting as a soldier – whether he survives remains to be seen. “I have to get to the emotions before I write the music, and for that I also make drawings, in pencil, even for concert music, and then I go to the piano the old-fashioned way with music paper.” Are there certain patterns that she then falls back on? “No. I always try to be free, to be inspired only by the story and the characters. With every project, you start from scratch. I have experiments that I wouldn’t show anyone.” She laughs. She sent drafts of various scenes, converted into digital orchestral sounds, to Cathy Marston, and the discussions gradually resulted in what the Philharmonia Zurich now plays. The roles are also assigned solo instruments – the piano for Briony, the violin for Cecilia and the cello for Robbie. Laura masters two of these instruments herself, piano and violin, plus bass guitar.

That’s how she got into music in the first place – apart from the fact that her Italian father was a professional pianist and her English mother was an amateur singer on stage. Born in Birmingham and raised in the county of Devon, Laura played bass and piano in a big band at school, for which she also composed, and gained experience as a violinist in a youth orchestra. It was therefore an obvious choice to study a mixture of pop, jazz and classical music at the University of Liverpool. Because the course didn’t materialise, she went all-in on classical music, including composition and orchestration, and licked blood when it came to film music. At the London College of Music, she studied the subject up to a Master’s degree; with Shakespeare, Laura got into the practice: She wrote music for piano, guitar and string quartet for seven early silent films based on his plays, Silent Shakespeare.

You can also hear Debussy in it, one of the composers from whom she learnt a great deal about orchestration: Bernstein and Stravinsky, but also jazz arrangers such as Count Basie and Nelson Riddle. And she admires Ennio Morricone. “He has a unique ability to bring all the emotions of a scene together directly in his music, so the music can even stand on its own.” Are there standards that film composers have to adhere to today? “No, it’s a great time to be a film composer, there’s no one trend. There are big orchestral scores, experimental chamber scores, electronic scores, pop and jazz…” She is not afraid of artificial intelligence as competition. “It will be limited to background music and will make people appreciate it even more when they feel the human element of a real composer, the uniqueness of a really great film score.”

Of course, it happens that TV directors set tight guidelines. But for the police series Redemption on ITV, the composer was even free to use a song written by her now 16-year-old daughter Marcella. Currently Laura is working on a piece for a huge children’s choir – 1000 voices! – and two orchestras in the London borough of Ealing, where she lives with her family. Children’s author Michael Rosen has written the text and the work will soon be premiered at the Royal Albert Hall. And the First World War is still on her mind: after the music for Battle of the Somme and another for the 1917 silent film about the Battle of the Ancre, it is now the turn of the Battle of Arras, another commission from the Imperial War Museum in London.

In Atonement, the war only occasionally characterises the events. Primarily the private drama got close to her heart while composing. What begins with an innocent summer’s day, “very simple piano music”, soon leads “to the darkest parts, to the rape scene”, and at the end of both the book and the ballet, Briony is an old woman with dementia whose memories become confused – “like my grandmother”, says Laura. The complex sounds she found for this shall not be revealed here. Only the composer’s maxim: “I want to help the audience understand what is happening.”

English version by deepl, revised by the author

 

“Mich reizen Figuren mit einer größeren Fallhöhe”

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Mojca Erdmann, Wahlschweizerin aus Hamburg, singt Kafka in Zürich. Dort erzählt sie (nicht nur) von ihrer Doppelrolle in Haubenstock-Ramatis selten gespielter Kafka-Oper “Amerika”

«Haben Sie mal die Noten gesehen?» «Nein.» «Ich hab’ sie mitgebracht.» Mojca Erdmann holt im Café den Klavierauszug aus ihrer Tasche. Sofort zur Sache, nach Amerika, mitten hinein in diese irre Montage aus den 1960ern, nach der von Buhs, Gelächter und Handgemengen umtosten Uraufführung in Berlin bislang nur zwei Mal produziert, eine Herausforderung ohnegleichen. «Was ist das eigentlich?», habe sie sich gefragt, als sie die Noten zum ersten Mal sah. «Ich habe viel neue Musik gemacht, aber so etwas ist mir noch nicht untergekommen.» Wir blättern im Klavierauszug. Auf manchen Seiten stehen keine Noten, man sieht grafische Gebilde, Linien und Schraffuren zwischen den Taktstrichen, auf anderen gibt es Notenlinien, mal nur drei, auf denen ungefähre Höhen für Sprechgesang notiert sind, denen jählings Töne auf fünf Linien folgen können, ganz präzis, vom b eine grosse Septime runter zum h… Um die zu treffen, ist ein absolutes Gehör hilfreich, wie Mojca Erdmann es hat, aber allein damit kommt man nicht hinein in ein Werk wie die Amerika­-Oper von Roman Haubenstock­-Ramati nach Kafka. «Ich habe erstmal den Roman gelesen», meint die Sopranistin, «und da ich in Zürich wohne, konnte ich mich mit Michael Richter treffen, dem Studienleiter des Opernhauses, und die Noten mit ihm durchgehen.» In Blau hat sie die Passagen markiert, die sie live singt, in Rot die, die von ihrer Stimme aufgenommen und zugespielt werden, die Figur Klara singt mit sich selbst. Uff. Und was sind das für Charaktere, Klara und Therese?

«Klara ist im Grunde eine reiche Tochter, verwöhnt, brutal, sehr narzisstisch, wirklich das Gegenteil von Therese. Die ist ein Hilfsmädchen im Hotel Occidental, sehr schüchtern, sie erzählt Karl Rossmann ihre ganze Lebensgeschichte. Es ist interessant, diese verschiedenen Frauen schauspielerisch herauszuarbeiten.» Mojca Erdmann selbst hat keine der Eigenschaften, die sie da schildert. Sie wirkt alles andere als selbstbezogen, ohne Diva-­Allüren, vollkommen arbeitsorientiert, freundliche warme Stimme. Und wenn sie, im Gegenteil, so zurückhaltend wäre wie Therese, könnte sie schwerlich längst auf eine Bühnenkarriere zurückblicken, die so reich an Wagnissen ist.

Denn tintenfrische Partien lebender Komponisten zu gestalten, ist auch dann ein Wagnis, wenn diese Künstler so etabliert sind wie Wolfgang Rihm und Aribert Reimann, die beide – und nicht als einzige – für sie geschrieben haben, von Liedern bis zu ganzen Opern. Rihms Proserpina wurde 2009 in Schwetzingen vor allem deswegen ein Erfolg, weil die damals 33­-Jährige die Rolle der in einer antikischen Ehehölle gefesselten Heldin mit grandioser Präsenz und Selbstverausgabung realisierte. Mit der Opernfantasie Dionysos setzten beide 2010 die Zusammenarbeit in Salzburg fort, es wurde die «Uraufführung des Jahres». «Es ist schon toll, wenn man mit den Komponisten sprechen kann», meint sie. «In Dionysos gab es wenige Stellen, wo ich Wolfgang fragte: Kann man hier was ändern? – Ja, schlag mir was vor … wunderbar, machen wir so.» Nun könnte man ja denken, kein Wunder bei einer Sopranistin, die selbst die Tochter eines Komponisten ist, Helmut W. Erdmann aus Emden.

«Nein, durch meinen Vater gab es gar nicht so viel Einfluss, betreffend neue Musik. Er ist auch Flötist, und wir mussten immer leise sein, wenn er Flöte übte…» Sie lacht. Wichtiger war, dass sie schon als Sechsjährige bei den Hamburger Alsterspatzen mitsang, im Kinderchor auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper stand und das Reisen lieben lernte. Der Chor trat in Spanien, Japan, den USA auf, «mit zehn habe ich im Disneyland gesungen. Aber Singen war für mich Spass, ich wollte Geige studieren.» Dann riet ein Musiklehrer der 14­-Jährigen wegen ihrer schönen Stimme, sie solle doch mal Unterricht nehmen, und so wurde sie Schülerin der damals 27-­jährigen Evelyn Herlitzius, die dann eine der grossen dramatischen Sopranistinnen wurde. «Ab da war mir klar, dass die Stimme mein Instrument ist.» Geige studierte Mojca Erdmann aber trotzdem neben dem Gesang, zur Sicherheit. «Ich wusste durch meinen Vater, dass es nicht einfach ist, als Musiker zu überleben. Geige spielte ich auch schon, seit ich sechs war, und wusste, da kann ich als Orchestermusikerin oder Geigenlehrerin mein Geld verdienen. Ich wollte aber weg von zu Hause und habe in Köln vier Semester lang beides studiert.» Wieder Glück: Ihr Gesangsprofessor war Hans Sotin, legendärer Wagner-­Bass, der Gurnemanz schlechthin, und er riet der 21­-jährigen dringend zu, als sie mitten im Studium nach einem Vorsingen in Berlin das Angebot bekam, ins Ensemble der Komischen Oper zu gehen, mit Intendant und Regisseur Harry Kupfer.

«Das war für mich eine unglaublich wichtige Zeit, das Laufenlernen auf der Bühne, zwischen erfahrenen Kollegen. Wie es ist, im Betrieb einzuspringen, nach sechs Stunden Proben noch eine Vorstellung zu singen und dabei die Kräfte einzuteilen.» Von den kleineren Rollen, den Despinas und Ännchens, kam sie zu den grösseren, andere Häuser wurden auf sie aufmerksam. Kent Nagano holte die 29-­Jährige als Gast an die Staatsoper, wo er My way of life dirigierte, ein aus Fragmenten des verstorbenen Tōru Takemitsu gefügtes Musiktheater, «das war eine Collage, an die mich Amerika ein bisschen erinnert». Danach wagte sie den Sprung ins Freiberufliche – und später den nach Zürich. «Ich wollte nach einer Trennung ein neues Kapitel starten, nach elf Jahren in Berlin, und bin allein hierher gereist und habe eine Wohnung gesucht, während des Vulkanausbruchs auf Island. Das war unglaublich kompliziert, weil ich auch noch eine Vorstellung in Wien singen musste.» Die Aschewolken des Eyjafjallajökull legten bekanntlich den Flugverkehr im April 2010 lahm. Aber es klappte, sie fand eine Wohnung zwei Minuten vom See, «es war eine super Entscheidung».

Da sie außer im Winter täglich im See schwimmt, können auch die sportlichen Anforderungen der Amerika-­Inszenierung sie nicht schrecken. Es gibt Kampfszenen, in denen Kopfnüsse und Ohrfeigen genau sitzen müssen, Jiu­-Jitsu ist dabei, break dance, «und Bewegungsabläufe Richtung Tai­-Chi, es braucht viel Kontrolle, weil es sehr langsame Bewegungen sind, und dann das hohe C zu singen … da sind wir noch dran!» Dazu kommen noch die Finessen des Sprechgesangs. «Es ist spannend, mit Sebastian Baumgarten zu arbeiten, der vom Schauspiel kommt und anders mit Worten arbeitet. Man kann auch gegen den Text sprechen», Sebastian hatte so einen Beispielsatz: «Ich bring dich um!» Sie sagt ihn und lässt die letzte Silbe mal eben in die Höhe hüpfen. Ein irrer Effekt.

Fällt es ihr leicht, sich in die Kafka­-Figuren einzufühlen? «Ich kann schnell umdenken und mich nach einer Vorstellung sofort über völlig andere Dinge unterhalten. Natürlich wird man in eine Rolle immer etwas von seinem eigenen Erleben reinbringen. Das ist dann aber die Rolle und nicht Mojca» – übrigens wird der Name, auf ihre slowenische Mutter zurückgehend, wie «Moiza» ausgesprochen. Welche Rollen sind ihr am nächsten? «Figuren mit einer größeren Fallhöhe. Ich war nie ein grosser Fan von Zerlina und Despina. Ich mag Bergs Lulu und Vitellia in Mozarts La clemenza di Tito, die an den Rand ihrer Emotionen getrieben werden. In Hamburg habe ich letztes Jahr die Blanche in Poulencs Dialogues des Carmélites gesungen, das war schon sehr, sehr intensiv. Wenn da am Ende während des Chorals eine Nonne nach der anderen geköpft wird, gingen wir mit Tränen in den Augen auf die Bühne, zusammen ins Ende.» Ebenfalls sehr nah ist ihr die Salome, zu der ihr viele rieten. Ein konzertanter Auftritt mit dieser Partie entfiel wegen Corona. Dafür machte sie im Lockdown eine Aufnahme von Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire, mit Zubin Mehta am Pult, Daniel und Michael Barenboim und dem Flötisten Emmanuel Pahud. «Eine unglaubliche Atmosphäre», sagt Mojca Erdmann. «An den Umgang mit Sprechgesang in Pierrot Lunaire erinnert mich Amerika besonders.»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erschien im MAG 109 der Oper Zürich, Februar 2024, ebenso auf der Website des Hauses. Die Premiere von Amerika ist am 3. März 2024, es dirigiert Gabriel Feltz, Sebastian Baumgarten inszeniert. Foto: Screenshot aus dem Video mit Schönbergs Pierrot Lunaire ((c) Helios Films/Pierre Boulez Saal), das 2021 in Berlin entstand. Ein Ausschnitt aus dieser noch nicht veröffentlichten Produktion ist im VAN-Interview mit Mojca Erdmann zu finden.

“Was man da hineinsteckt, das ist man ja selbst”

Als sie mit 15 Jahren ihre erste Oper erlebte, schlief Marlis Petersen ein. Später wurde sie eine der spannendsten Sängerdarstellerinnen unserer Zeit – jetzt probt sie die “Lustige Witwe” in Zürich.

Es ist einer dieser Momente, die es nur auf Proben gibt. Vier, fünf Mal schon haben Hanna und Danilo, Marlis Petersen und Michael Volle, die unverhoffte Wiederbegegnung eines nicht unkomplizierten Paares in Paris geprobt, der Hüne mit dem mächtigen Charakterkopf, die zierliche schmale Frau. Ein Dialog, der fast mit einem Kuss endet. Aber nur fast, es muss ja spannend bleiben. Immer wieder lässt Regisseur Barrie Kosky die beiden neu ansetzen, und irgendwann entspannen sie sich, indem sie plötzlich auf Schwäbisch blödeln. «Wir kommen ja aus dem gleichen Eck in Schwaben», hat Marlis Petersen vorher erzählt, «aber es ist das erste Mal, dass wir szenisch gemeinsam etwas machen.»Screenshot 2024-02-05 200052

Es gibt noch weitere Parallelen zwischen den beiden Sängern, auch wenn der Bariton acht Jahre älter ist als die Sopranistin. Beide haben über die Kirchenmusik zum Gesang gefunden und keineswegs auf direktem Weg zur Bühne. «Als ich die erste Oper gesehen habe, mit fünfzehn, bin ich eingeschlafen», sagt Marlis Petersen und lacht hell auf im Zimmer mit den zwei Klavieren, wo wir zusammensitzen. «Das war Rigoletto, da hat die Oper Pforzheim bei uns in Tuttlingen gastiert.»

Tuttlingen, Kreisstadt, näher an Zürich als an Stuttgart – hierhin hat es den Schiffsingenieur Petersen aus Hamburg verschlagen, einen musikalischen Mann mit schöner Stimme, dessen Frau gern Klassik hört. Ihre Tochter Marlis bekommt beizeiten Klavierunterricht. In der Schule und erst recht im Kirchenchor entdeckt sie ihre Stimme – mühelos singt sie Soli, ohne je Gesangsunterricht gehabt zu haben. «Mir war völlig klar, ich muss Gesang studieren! Das durfte ich erstmal nicht, weil die Eltern ihre Zweifel hatten mit der brotlosen Kunst. Der Kompromiss war, dass ich Schulmusik studiert habe, Klavier als Hauptfach.» Das Studium in Stuttgart wird mitfinanziert durch Auftritte mit einer Band, «wir haben die Hits von damals gecovert. Ich habe Keyboard gespielt und gesungen, Whitney Houston, Jennifer Rush, solche Sachen. Ich habe auch in Hamburg bei Cats vorgesungen und hätte die Stelle der Katzenoma haben können, die ‹Memory› singt. Aber dann dachte ich, ich will doch jetzt nicht die alten Katzen singen, und habe mich für die Klassik entschieden!» Aber noch lange nicht für das Theater.

Nun kommt Sylvia Geszty ins Spiel, ungarische Koloratursopranistin, Professorin in Stuttgart. Als Marlis einen ihrer Kurse besucht, hat die Studentin gerade ihre Stimme verloren, «durch einen Gesangslehrer, der mir nicht gutgetan hat. Geszty hat mir in zwei Wochen die Oktave bis zum hohen f aufgemacht und mir war klar, das ist es.» Zwei Jahre studiert sie bei ihr, lernt, die Stimme mit dem Zwerchfell rhythmisch zu stützen, in einen hohen Ton wie in einen Apfel zu beißen, da bricht ein Damm. Und im szenischen Unterricht stellt sich heraus, «dass ich ein natürliches Talent zum Spielen habe. Da brauchte ich gar keinen Unterricht.» Als Marlis 1994 am Theater in Nürnberg vorsingt, mit 26 Jahren, hat sie gleich ein Engagement – und debütiert als Einspringerin. «Eine Operette, Pariser Leben! Drei Tage Proben, und dann stand ich zum allerersten Mal auf der Opernbühne!»

In Nürnberg wird sie auch von ihrem «Lebensruf» erreicht, wie sie es nennt, der Titelheldin von Alban Bergs Oper Lulu, die sie so oft und so intensiv wie keine andere gestalten wird – eine junge Frau, die, eigentlich naiv, eine Reihe von Männern um Verstand und Leben bringt und selbst ein blutiges Ende nimmt. Womit wenig über den ungeheuren Horizont der Musik gesagt ist. «Ich hatte das Gefühl», sagt Marlis Petersen, «das ist einfach die Rolle, die ich ohne Anstrengung verkörpern kann. Eigenartig, gell? Die Ungreifbarkeit dieser Figur hat mich fasziniert. 2015 habe ich dann von ihr Abschied genommen mit zwei Inszenierungen, der von Tcherniakov an der Bayerischen Staatsoper und der von Kentridge an der MET. Es war, als risse ich mir ein Stück Herz heraus. Aber es war nötig, weil das Stück nach achtzehn Jahren schon auf die Seele abfärbte. Es ist einfach immer wieder brutal, wie mit ihr als Frau da umgegangen wird.»

Wie schafft sie es überhaupt, solche extremen Gestalten auf der Bühne wahr zu machen? «Was man da emotional hineinsteckt, das ist man ja selbst, sonst könnte man’s gar nicht. Aber man muss sich auch in Psychologien hineinfühlen, die sehr dramatisch sein können, wie Medea, die ihre eigenen Kinder umbringt. Du musst auf der Bühne zu einem Gefühl kommen, dass du so viel Hass in dir trägst auf jemand anderen, dass du bereit bist, deine eigenen Kinder zu schlachten – damit das Publikum diese Energie versteht. Es ist herausfordernd, diesen Anteilen in sich zu begegnen. Ich glaube, wir haben sie alle. Das Theater ist ein geschützter Raum, wo man diese Gefühle ausleben kann, den Zorn, aber auch die Weichheit, die Tränen, das Staunen. Dort wird jeder berührbar.»

Was alles hineinspielt in eine Gestalt wie Medea, das hat Marlis Petersen 2010 an der Wiener Staatsoper gezeigt, als Titelheldin in der Uraufführung von Aribert Reimanns Medea. Welche Kraft sie in die berstenden, brechenden Gesangslinien brachte, mit welcher Dringlichkeit sie das leiseste Filigran erfüllte, das ließ einen tatsächlich verstehen, warum sie auf die Katastrophe zusteuerte. «Für mich», sagt sie, «war die Partitur das Komplexeste, was ich jemals in meinen Händen hatte. Es hat einen ganzen Monat gedauert, bis ich das dechiffriert hatte. Und das dann auswendig zu lernen, diese Intensität – da war ich hinterher fix und fertig.» Und trotzdem flog sie direkt nach der letzten Vorstellung nach New York, als Einspringerin an der MET, zwei Tage vor der Premiere von Ambroise Thomas’ Hamlet. Würde sie so etwas wieder tun? «Nein. Das bin ich nicht mehr. Ich habe mich damals überreden lassen.»

Inzwischen ist ihr die griechische Gelassenheit näher. Seit sieben Jahren lebt sie im selbstgebauten Haus zwischen 77 Olivenbäumen in Koroni, an der westlichen Südspitze der Halbinsel Peloponnes. Dorthin zog sie sich auch zurück, als der Lockdown die Bühnen paralysierte. «Ich habe fünf Monate lang nicht mal mehr Musik gehört! Das war für mich sehr heilsam, eine große Tankstelle, aber danach beginnt das Nachdenken. Über die Degradierung der Kunst, den Umgang mit Andersdenkenden. Da hat eine große Spaltung der Gesellschaft begonnen, in der wir mittendrin sind. Da wird viel passieren.»

Marlis Petersen sagt das nicht im Ton einer Kassandra. Nicht die Heroinnen der Antike haben sie nach Griechenland gezogen, sondern Meer und Sonne und Mentalität. Sie findet Veränderungen auch spannend, weil sie Neues mit sich bringen, und eine ihrer liebsten Bühnenfiguren ist die Susanna in Mozarts Figaro – eine selbstbewusste Spielmacherin. «Die hat mich immer beglückt, aber jetzt werde ich dafür zu alt, jetzt müsste ich in dieser Oper die Gräfin singen, und die entspricht mir nicht so», sie lacht. Sie spricht sehr offen über ihre Grenzen und liebt einen Dirigenten wie Kirill Petrenko dafür, dass er sie so respektiert, wie sie ist. «Ohne ihn hätte ich Strauss’ Salome nicht gesungen, die ist mir sängerisch eine Nummer zu dramatisch. Er hat dem Orchester gesagt, wir müssen der Marlis einen musikalischen Anzug schneidern. Das fand ich so berührend!» Berührt hat es sie auch, wie Hans Werner Henze, schon im Rollstuhl, sie nach der Berliner Uraufführung seiner Oper Phädra zu sich heranwinkte. «Für mich ein heiliger Moment. Ich habe gedacht, ohje, jetzt gibt es Kritik oder Lob vom grossen Meister. Und dann macht der seine Jacke auf, holt den Whisky raus und hat ihn mir angeboten! Ich musste so lachen!»

Es ist nicht das Lächeln einer Operettendiva, das im Gesicht der Hanna Glawari spielt, der reichen, jungen, der «lustigen» Witwe auf der Probebühne. Diese Frau hat auch mehr hinter sich als eine komplizierte Beziehung mit Danilo, dem Lebemann aus Pontevedro. Viel mehr. Mit einer gewissen Nachsicht blickt sie auf den Trubel zwischen Geld und Liebe. Eine Diva guckt anders. Es sei denn, eine Diva guckt so wie die auf dem Etikett des Olivenöls, das Marlis Petersen auf dem Peloponnes selbst herstellt. «Diva’s Elixir» steht darauf, und die Sopranistin auf dem Foto darunter wirkt sehr entspannt.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das MAG 108 der Oper Zürich, Februar 2024, und ist auch auf der Website des Hauses zu lesen. Szenenfoto mit Michael Volle (Danilo) und Marlis Petersen (Hanna): Monika Rittershaus. Die Premiere der Lustigen Witwe in der Regie von Barrie Kosky, dirigiert von Patrick Hahn, ist am 11. Februar 2024.