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Raus aus dem Exil!

Komponistinnen sind in Deutschland längst keine Exoten mehr. Doch auf dem Weg zur echten Gleichstellung müssen sich auch die Frauen selbst noch einige harte Fragen stellen

Was sich in dieser Partitur für großes Orchester nachlesen läßt an differenzierter Klangvorstellung, an hochkomplizierter Orchestrierung oder subtiler Rhythmik, an sorgfältiger Gestaltungsarbeit“, das beeindruckte ihn sehr, den Kritiker Hans Josef Herbort, der 1980 für die ZEIT von den Donaueschinger Musiktagen berichtete. Dass mit dem Orchesterwerk „Sori“ einer Frau der internationale Durchbruch als Komponistin gelang, der Koreanerin Younghi Pagh-Paan, hob er nicht weiter hervor. Insofern war er seiner Zeit voraus – das Komponistin-Sein war vor mehr als 30 Jahren noch eine Seltenheit. Heute fallen einem dagegen auf Anhieb zwei Dutzend Zeitgenossinen ein, und zwar ohne das Quotenetikett „Woman composer“. Ist endlich Selbstverständlichkeit eingekehrt?

1981, im Jahr nach der Uraufführung von „Sori“, erschien das Buch „Komponistinnen aus 500 Jahren“ von Eva Weissweiler, damals von großer Wirkung, jetzt ein Klassiker der Genderliteratur. Die 30jährige Musikwissenschaftlerin sprach, was die Musik der Zeitgenossen anging, von einer „erfreulichen Tendenzwende“, immerhin fänden sich Komponistinnen längst auf den Programmen aller wichtigen Podien Neuer Musik. Heute wirkt das wie Zweckoptimismus. Von den zeitgenössischen Namen, die Weissweiler nannte, hat allenfalls noch Gloria Coates einen internationalen Klang. Pagh-Paan wurde gerade erst bekannt, von Sofia Gubaidulina wussten nur ihre Freunde, Olga Neuwirth war eine dreizehnjährige Trompetenspielerin.

Die Zeit war reif

Und Isabel Mundry studierte Komposition an der HDK Berlin. „Willst du nicht lieber Musikpädagogin werden?“, so hatte ihr ein Lehrer vorher noch ein „weibliches“ Fach nahegelegt, und ihr erster Professor war überzeugt, Frauen könnten „nicht mit Formen umgehen“. Aber, sagt Mundry, die als Professorin Komposition in Zürich und München lehrt, „die Zeit war reif, die Schwelle zum Studium war gesunken.“ So weit jedenfalls, dass man in einer Tonsetzerklasse auch mal eine Studentin fand. Halb und halb mischen sich die Geschlechter da auch heute noch nicht, „aber wenn ich die Begabten zähle, die Studenten, deren Musik mir in Erinnerung ist“, sagt Mundry, „ist das Verhältnis paritätisch.“

An der hannoverschen Hochschule unterrichten Rebecca Saunders und Oliver Schneller als Professoren eine Klasse, die tatsächlich je zur Hälfte aus Frauen und Männern besteht. „Da spüre ich nichts mehr an Gefälle“, sagt Susanne Rode-Breymann, Jahrgang 1958, Präsidentin der Hochschule und renommierte Genderforscherin, „aber dann geht´s los. Der Punkt, wo die Frauen exkludiert werden, rutscht in der Qualifikation immer weiter nach oben. Bei der Etablierung in den künstlerischen und wissenschaftlichen Institutionen kommt der Deckel.“ Auch außerhalb des Musikbetriebs wird „Karriere“ bei Männern immer noch als soziale Notwendigkeit, bei Frauen als „Selbstverwirklichung“ wahrgenommen. Und bis heute gibt es bundesweit nur vier Stellen für Professorinnen, die ausschließlich Komposition lehren: Younghi Pagh-Paan in Bremen, Violeta Dinescu in Oldenburg, Rebecca Saunders in Hannover, Isabel Mundry in München.

Andererseits haben Publikumslieblinge wie Unsuk Chin (Jahrgang 1961) und Lera Auerbach (1973) rund 90 Aufführungen im Jahr, und mindestens zwanzig weitere Komponistinnen sind zumindest im deutschsprachigen Raum so präsent, dass die Frage nach „weiblichem“ Komponieren längst der nach Individualitäten gewichen ist, geschlechterunabhängig. Eine Art Boom in den letzten dreißig Jahren will Genderforscherin Rode-Breymann auch gar nicht bestreiten. Einen Grund dafür sieht sie in der Ausbildungsgeschichte: Zuerst konnten Frauen sich als Komponistinnen nur privat qualifizieren wie Fanny Mendelssohn. Dann konnten die ersten an Konservatorien das Handwerk lernen. Phase drei: das Studium wird selbstverständlich, also wächst die Zahl der Komponistinnen.

Statistik und Realität

Von sieben auf dreizehn Prozent ist der weibliche Anteil gestiegen von den Komponisten der Jahrgänge 1930 bis 1960 zu denen der Jahrgänge 1960 bis 1990. Auf diesem Level waren die Schriftstellerinnen schon zu Zeiten der Weimarer Republik. Zudem sagt diese Statistik noch nichts über die Zahl der Aufführungen aus. „Ein paar Komponistinnen haben es geschafft“, meint Frank Harders-Wuthenow, Verlagsmann bei Boosey & Hawkes, „aber nur wenige kommen auf der internationalen Ebene in nachhaltige Wahrnehmung. Da oben ist die Luft sehr dünn.“ Die deutsche Situation verzerre das Bild noch positiv. Nirgends sei das „network“ so stark, die Dichte der Festivals so hoch. „Da aber mit den fetten Jahren der Kulturförderung auch die massive Förderung der neuen Musik zurückgeht, werden wir vermutlich bald weniger Frauen auf dem Podium sehen.“

Männliche Kuschelecken Susanne Rode-Breymann sieht das so: „Weil sich die ganze Kultur zunehmend legitimieren muss, fangen Verteilungskämpfe an, und die Männer entwickeln dabei subtile Strategien.“ Mitunter vielleicht sogar, ohne es selbst zu merken. Als die Donaueschinger Musiktage vor zwei Jahren das Thema „Großform“ hatten, wurde keine einzige Frau mit einem der sechs Aufträge betraut. „Meine Studenten kamen empört zurück“, sagt Isabel Mundry, die in manchen Institutionen „mittelmäßige, aber machtvolle Kuschelecken“ der Männer ausmacht. Veranstalter surfen derzeit gern auf der Modewelle der „coolen Jungs der Sampler-Generation“ (Mundry), die Videos, rechnergestützte Klangverarbeitung und Traditionsinstrumente miteinander verquicken. Andererseits: „Da, wo es wirklich professionell zugeht, etwa bei einem Dirigenten wie Daniel Barenboim, ist es völlig egal, ob eine Frau oder eine Mann komponiert.“

Kaum nötig scheint bei uns noch eine Polemik, wie sie 2012 die Amerikanerin Amy Beth Kirsten im Onlinemagazin „New Music Box“ veröffentlichte. „The ,Woman Composer´ is dead“, schrieb sie. Man habe keine Sonderbehandlung mehr nötig, schließlich würden Neue-Musik-Ensembles schon bis zu 22 Prozent ihrer Programme mit Musik von Frauen bestreiten, was gegenüber den null bis drei Prozent des späten 20. Jahrhundert einen enormen Anstieg bedeute. Dieser verdanke sich zwar zweifellos auch der Kategorie Woman Composer als Kampfbegriff, doch den solle man jetzt mal beerdigen. US-Kolleginnen widersprachen ihrer Diagnose vehement. In den Programmen der großen Orchester, in der Besetzung der Seminarräume sei kein Hauch von Gleichberechtigung zu erkennen.

Nicht nur daran wird deutlich, wie sehr man jenseits des Atlantik der hiesigen Praxis nachhinkt. Vor gut einem Jahr wurden in New York drei in Deutschland ansässige Komponistinnen im Miller Theatre mit Porträtkonzerten gewürdigt: Sofia Gubaidulina (Jahrgang 1931), Rebecca Saunders (Jahrgang 1967) und Olga Neuwirth (Jahrgang 1968). Alex Ross, Musikautor des “New Yorker”, schrieb erstaunt, so also könne es aussehen, wenn es „die Komponistin als bedrängte Minderheit“ nicht mehr gäbe, und hob hervor, wie überaus unterschiedlich Frauen komponieren. Man muss dazu wissen, dass an der Metropolitan Opera bis heute eine einzige Oper von einer Frau aufgeführt wurde, Ethel Smyths „Der Wald“. Das war im Jahre des Herrn 1903.

Bitte keine Sonderrolle

„Wichtig ist, dass wir aus dem Exil heraus sind“, sagt Susanne Rode-Breymann. „Sonderkonzerte und Sonder-CDs, sehr ambitioniert, aber schlecht gespielt – das will man nicht hören, das bringt die Sache nicht weiter. Wir brauchen nichts von Frauen für Frauen, sondern hohe Qualität.“ Auch darum war Gidon Kremers legendäre Einspielung des „Offertorium“ von Gubaidulina anno 1989 ein Katalysator der Normalität. „Enorm wichtig, dass das ein Mann spielte!“ Gegen zähneknirschenden Widerstand der Deutschen Grammophon hatte Weltstar Kremer die Aufnahme erpresst. Diese Musik schlug in ihrer Neuheit derartig ein, dass jede Diskussion über ihre „Weiblichkeit“ nur lächerlich gewesen wäre. Spätestens da wurde die Kategorie Woman Composer vom Schlag getroffen.

Und doch, meint Isabel Mundry, vermisse sie Stücke von Zeitgenossinnen, „in denen man hört, dass jemand hart dran war, wo die ganze Musik in Frage gestellt wird wie etwa bei Schönberg. Was ich kaum sehe, ist eine Musik, die sich autonomisiert von dem, was schon gutgeheißen ist.“ Immer noch seien Rollenmodelle wirksam, „die ewige Tochter“ oder deren freche Variante „junge Wilde“ à la „Ich weiß auch nicht, was da alles aus mir herausplatzt…“ „Zähes Tochtergehabe“ erlebt Mundry auch in Seminaren, „wo sich die Frauen an das dranhängen, was die Männer sagen, obwohl sie selbst kreativ unterwegs sind.“

Susanne Rode-Breymann findet ebenfalls, „die Frage, warum das da oben nicht weitergeht“, müssten sich auch Frauen selbst stellen. Zum einen sei bei denen der Realismus ausgeprägter, weniger als das männliche „Das kriegen wir schon hin.“ Manchen ist das Tönesetzen einfach zu riskant, denn davon allein können auch Komponisten mit Y-Chromosom kaum leben. Zum andern erwische es Akademikerinnen nach dem Studium kalt. „Sie dachten, sie seien gleichgestellt, sie haben keine Strategien, Widerstand zu leisten, und nur einige lassen sich nicht entmutigen. Aber: Wenn wir nicht gleich viele Komponistinnen produzieren, ist das so schlimm? Es ist doch eine genieästhetische Vorstellung, dass der Komponist die wichtigste Position in der Kultur wäre.“

Und diese gängige Vorstellung täuscht darüber hinweg, dass dem breiten Publikum im gelobten Musikland seine tonsetzenden Zeitgenossen, egal welchen Geschlechts, weitaus gleichgültiger sind als die großen Toten. In einer Bestandsaufnahme für das Musikinformationszentrum des Deutschen Musikrats liest man den Satz: „Die zeitgenössische Musik in Deutschland ist keine pure Nischenkunst mehr.“ Diese scheue Einschätzung ist dort tatsächlich als frohe Botschaft gemeint. Auf der Website von Younghi Pagh-Paan hingegen, die sich, 1945 geboren, aus der patriarchalischen Kultur Koreas, aus einer Provinzfamilie zu einer international maßgeblichen Komponistin befreite, liest man im Kalender: „Für 2015 sind noch keine Aufführungen anzukündigen.“

Dieser Text erschien im März 2015 in “128″, dem Magazin der Berliner Philharmoniker, 2015 Nr. 1, zum Themenschwerpunkt “Frauen in der Klassik”, und ist urheberrechtlich geschützt.

Das große Schweigen

Ohne Stille gibt es keine Musik. Doch wo sie wächst, gerät man an den Rand. Ein Essay über das Verstummen der Töne

Genüßlich inhaliert der bleiche Mann, Kippe und Mikro in der Hand, und schweigt. Blixa Bargeld, Frontmann der Band „Einstürzende Neubauten“, realisiert „Silence is sexy“. Schleppender Viervierteltakt, nur ein mager knörzender E-Bass und die rauchige Stimme. Bargeld lässt gewaltige Pausen eintreten, von denen das Publikum vielleicht zwei Sekunden erträgt, ehe es zu juchzen, zu brüllen und zu pfeifen beginnt. Der Sänger bittet mit einer Geste um Ruhe. Irgendwann der Satz: „Wenn die Musik endlich aufhört…“ Nein, das will hier keiner. „Silence is not sexy at all“, das singt er dann auch.

Dresden, Semperoper, März 1999. Giuseppe Sinopoli hebt den Taktstock, Bruckners Fünfte Sinfonie beginnt. Herrlich. Sogkraft langgestreckter Vorhalte, gewaltige Aufschwünge. Was keiner merkt, der nicht in eine Partitur starrt: Der “Weckruf” nach dem ersten Zwischenspiel der Bläser beginnt ein gutes Viertel zu früh. Auch die nächste Pause wird um eine Viertelnote gestrafft. Noch ein wenig später lässt Anton Bruckner das Orchester sogar ganze sechs Viertel lang verstummen. Sinopoli kürzt sie auf drei. Dieser fabelhafte Dirigent, Komponist, Psychiater hatte, wie der Mitschnitt zeigt, offenkundig Angst vor den gewaltigen Pausen.

Da ist er nicht der einzige. Einerseits. Anderseits ist die Stille im Saal eine Grundvoraussetzung für das Filigran der Töne, und sie gewinnt eine besondere Qualität in einer einer Welt, in der es immer irgendwo lärmt, in der es selbst dort, wohin nicht einmal das Rauschen ferner Straßen dringt und nur selten ein Jet den Himmel kreuzt, Menschen gibt, die „the Hum“ vernehmen, einen niederfrequenten Brummton ohne lokalisierbare Quelle. In der uns auch organisierte Klänge, formerly known as „music“, fast überall verfolgen, aus dem Kopfhörer des Nachbarn im Zug, der Mozartbeatlesbrei im Supermarkt.

Es ist also kein Wunder, dass die Stille zwar nicht direkt als sexy, aber doch als Wahres, Schönes, Gutes gilt. 72000 Treffer meldet Google dem, der „Stille in der Musik“ eingibt, sie umfassen Dissertationen wie „Pause. Schweigen. Stille: Dramaturgien der Abwesenheit im postdramatischen Musiktheater“ und den „Tag gegen Lärm“ mit Cello und Klangschalen in der HNO-Klinik. Mit Stille meint man, wo es um Musik geht, mittlerweile alles von der Pause zur Erholung vom Getöse. Das Lexikon für Musik in Geschichte und Gegenwart konstatierte schon 1998 eine nie da gewesene „musikalische Aktualität der Stille“.

Und doch ist da das Unbehagen, das eintritt, wenn eine Pause sich dehnt, das reflexartige Husten im Pianissimo, an den Nahtstellen. Die Angst vorm Zerreißen der Musik, des Kontinuums, in dem wir Schutz und Echo für unsere unsagbarsten Regungen finden. Es ist ein alles andere als schweigsamer Philosoph, der eine Erklärung dafür hat. Peter Sloterdijk erinnert uns daran, „dass Menschenkinder vom Moment der Geburt an eine so triviale wie unbegreifliche Entdeckung machen: Die Welt ist ein von Stille ausgehöhlter Ort, an dem Herzbeat und der Ursopran katastrophisch verstummt sind“.

Bis dahin war das Ungeborene eingebettet in eine Höhle der Klänge. Den basso continuo des mütterlichen Herzschlags, die nahe Stimme der Mutter, die nach der Geburt von außen her ganz anders klingt, eine „prekäre Brücke zwischen Damals und Jetzt (…) Mit dem Dasein in der gelichteten Welt ist eine Beraubung verbunden, der wir nie völlig auf den Grund gehen können.“ Und gerade sie, führt Sloterdijk in seinem Text „La musique retrouvée“ aus, ruft unsere Sehnsucht nach Musik hervor, nach einer „vergessen geglaubten sonoren Präsenz“, nach dem „verlorenen Paradies intimen Vernehmens“.

Das ist aber ohne die Stille nicht zu haben. Von der Ruhe im Saal bis zur Tatsache, dass jeder Ton auch ein verklingender ist, von der grammatischen Pause formaler Konturierung über die rhetorische bis zur metaphysischen Pause, die bei Bruckner religiöse Dimensionen erreicht – oder besser: wieder erreicht. Im 13. Jahrhundert schreibt Franco de Colonia, man nenne den „weggelassenen Ton“, die „vox amissa“, gemeinhin Pause. Die Pause bezeichnet also ein Fehlen. Wo mehrere Stimmen zugleich einen Ton weglassen, gar noch unter einer Fermate, die das Metrum aufhebt, ist der Tod nicht fern.

So ist das nicht nur in einer Trauerballade für Guillaume de Machaut von 1377, in der nach Ausrufung seines Namens mit dem Tongeflecht auch das Zeitmaß vorübergehend zerreisst. Die Liebenden in Claudio Monteverdis großem Madrigal „E dicea l’una sospirando allora“ aus dem Jahr 1590 sterben den Tod des Abschieds in Pausen, die fast die Musik verschwinden lassen. „Addio, ich gehe und sterbe“, erklären sie einander, und vor dem endgültigen Scheiden lässt Monteverdi einen ganzen Takt ohne Töne eintreten – eine jener Generalpausen, die viele Musiker, auch die besten, oft kaum aushalten können.

Trotz aller Weltbelärmung sind wir für das Enden des Klangs immer noch höchst sensibel, in der öffentlichen Intimität des Konzertsaals. Seine schützende Ruhe und die in ihr das Vorbewusste erreichenden Töne können uns unversehens an die schreckliche Stille nach der Geburt heranführen (oder an die der Savanne, an deren Rand ein Frühmensch steht, ungewiss, ob ihm der Stein in der Hand gegen das Ungewisse helfen wird). Und vielleicht nur hier, in der Übereinkunft einer Aufführung und in der Gewissheit, dass der Nichtklang ein Teil des organisierten Klanges ist, können wir sie uns auch aneignen.

Immer noch zieht es einem den Boden weg, wenn J.S.Bach im „Actus Tragicus“ eine Sopranstimme zu den Worten „Ja komm, Herr Jesu“ sich aus der Mehrstimmigkeit lösen lässt. Völlig einsam flattert sie dem Ende zu wie die Seele aus dem Körper und verschwindet in einer Stille, die zu den aufgeladensten der Musikgeschichte gehört. Sie muss ihre Hörer zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch weit mehr erschüttert haben. Man kann sich diese Zeit nicht leise genug vorstellen, gerade was die Präsenz von Musik betrifft. Kompositionen waren nur in Palästen, Kirchen, Opernhäusern zu hören.

Sonst war die Welt eine, „wo nichts zu hören ist als die Äxte alter Holzfäller, / das muntere Bellen starker Hunde im Winter / und Schlittschuhe auf blankem Eis wie ferne Glocken; / die Schwalben, die durch die Sommerluft schwirren, / die Muschel, die das Kind lauschend ans Ohr drückt (…)“ Das ist mit Absicht irreführend zitiert. Lars Gustafssons Gedicht heißt nämlich „Die Stille der Zeit vor Bach“, es setzt voraus, dass das Europa vor Bach eines der „leeren großen Räume ohne Widerhall“ war. Es beschreibt also, unbeabsichtigt, auch die Grenzen einer Mainstreamrezeption, die erst mit Bach beginnt.

Da, wo Tonlosigkeit wirklich eklatant komponiert ist, muss sie schon im Zeitalter der Aufklärung nicht immer Tod bedeuten. Haydn lässt anno 1788 eine Sinfonie (Nr. 90) mit fröhlichen Fanfaren enden, scheinbar. Ganze vier Takte später steigt er noch mal scheu und schräg in Des-Dur ein, um von da aus endgültig ins finale C-Dur zu steuern. Das ist nicht nur ein Witz, sondern auch ein Schritt über den Rand der Musik – und in gewisser Hinsicht ein komplexer Vorläufer von John Cages „4´33´´“, dessen drei Sätze mit „Tacet“ überschrieben sind: Das Schweigen um das Stück verbindet sich mit dem im Stück selbst.

Wer sich klar macht, dass selbst Haydn noch in der „Schlittschuhstille“ einer musikarmen Welt zu komponieren begann, die erst mit der Entwicklung eines bürgerlichen Konzertlebens nachlässt, ahnt, wie kostbar jeder Ton war. Der begreift andersherum auch, wie kostbar das Schweigen wurde, als im 19. Jahrhundert die Maschinen und die Orchester immer größer wurden. Ausgerechnet der Überwältiger Wagner schreibt 1858 über „Tristan“, es gehe ihm um eine „Kunst des tönenden Schweigens“, und in „Zukunftsmusik“ vergleicht er die unendliche Melodie mit einem „immer beredter werdenden Schweigen“.

Den Rand der Musik steuern die Komponisten des langen 19. Jahrhunderts häufiger an – Franz Schubert mit der Fermate nach den ersten acht Takten seiner letzten Klaviersonate, Robert Schumann mit seinem „Wie aus der Ferne“, Beethoven mit dem Weltentstehungsanfang seiner Neunten Sinfonie, auf deren jubelndes Finale Johannes Brahms in seiner Dritten Sinfonie, 60 Jahre später, mit dem Gegenteil reagiert. Nach fulminanten Entwicklungen mündet sie in flimmernde Sechzehntel der Geigen. Wie entrückt darin: jenes Thema, mit dem die Sinfonie so energisch aufgebrochen war. Die Musik löst sich auf.

Aber so wenig Brahms damit sein letztes Wort gesprochen hatte, so wenig lässt sich belegen, in der Musik habe nun dasVerschwinden um sich gegriffen, es gebe gar einen „Paradigmenwechsel vom Klang zur Stille im 19. und 20. Jahrhundert“, wie eine oft zitierte These lautet. Immerhin ist ein Schlüsselwerk der Moderne Igor Strawinskys „Sacre du Printemps“. Der beginnt zwar wie aus dem Nichts mit seinem einsamen Fagott, doch am Ende des ersten Teils schießt das Orchester mit Achteln, Sechzehnteln, Triolen auf den Doppelstrich zu und scheint ihn zu durchschlagen – die Musik rast weiter in Kopf und Körper, über das Notierte hinaus, ein folgenreicher Gegenentwurf zu allem Verlöschen.

Man kann aber sagen, dass das Arbeiten am Rand der Klänge, das Komponieren aus der Stille heraus und in sie hinein zunehmend Kontinuität gewann, von Mahlers „Abschied“ im „Lied von der Erde“ (1909) bis zu Alban Bergs „Lyrischer Suite“ (1926), die mit einsamen Terzen der Viola in „völligem Verlöschen“ endet (und darin den Liebestod, Bergs geheimes Programm, mit der modernen Reduktion auf kleinste Zellen verbindet, das metaphorische Verstummen mit dem abstrakten). Und in Nonos Streichquartett „Fragmente – Stille, an Diotima“ wird das Nichterklingende selbst kontinuierlich.

Luigi Nono vollendete das Werk 1980 zu Textfragmenten von Friedrich Hölderlin. Sie sind nur in der Partitur zu lesen, etwa „…wie gern würd ich…“ Die Stille, so beschreibt es Martin Zenck, ist hier das eigentliche Kontinuum, „in dem die Bewegung von Klangfiguren und zarten Eruptionen eben die Ausnahme darstellt.“ Und was erleben wir da? Bedrohliches, Bergendes? Ein lastendes Schweigen, in das hinein ein Individuum kleine Äußerungen wagt, seinerseits in einer eigenen Stille vieles beschweigend? Man muss wohl, wie der Komponist, einen Plural bilden: „Silenzi“. Zumal nach Nono noch viele Stillen folgen.

Nur der Gipfel des Schweigens ist längst überschritten. John Cages „4´33´´“ (1952) ist ein Megahit, bei Google 126 Millionen Mal vertreten. Vor einer derartig ausgestellten Stille muss sich keiner fürchten, und wer sie erlebt, muss Cage recht geben: „Es gibt keine Stille, die nicht mit Klang geladen ist.“

Oder doch? Schon Karl Valentin fragte Lisl Karlstadt: „Hörst du mi denn aa, wenn i nix red?“ „Sell woaß i net; red amal nix, ob i nacha was hör.” „Ja, jetzt paß auf, jetzt red i nix. – - – - Hast des jetzt ghört, wia i nix gredt hab?“ (…) „Na, zughört hab I scho, aber ghört hab I nix.“ „Des is gspaßig, gell, mit dera Hörerei.“

Stille in der Musik – acht Werkporträts

1. Bach lässt eine Stimme verschwinden

1707 zog Johann Sebastian Bach, 22 Jahre jung, als Kantor nach Mühlhausen, Reichsstadt in Thüringen. Hier schrieb er seine Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“, besser bekannt als „actus tragicus“, BWV 106, deren Tiefe er nie übertroffen hat. Sie verdankt sich auch der Radikalität, mit der er Tod und Hoffnung umsetzt. „Es ist der alte Bund: Mensch, du musst sterben“, singen im zentralen Satz die drei tiefen Stimmen in einer Fuge, darüber und dagegen ist der Sopran voller Zuversicht: „Ja, komm, Herr Jesu, komm!“ Am Ende lässt diese Stimme alle andern, selbst den Continuobass, hinter sich, wie die Seele den Körper, sie fliegt ins Nichts, mit schwerelosen Verzierungen, verschwindet auf der Terz – ein offenes Ende in jener Stille, in der der Heiland wartet.

2. Meeresstille in Wien und Berlin

Zweimal wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts Goethes Gedichte „Meeres Stille“ und „Glückliche Fahrt“ ( 1796), als Paar komponiert. Ludwig van Beethoven vertonte die Stille 1815 in der Tradition madrigalistischer Wortausdeutung. „Todesstille“ singen nur die Bässe, alle Silben durch Pausen getrennt, durch Cellopizzicati in ihrer Kürze betont. Die „Weite“ erstreckt sich gleißend über drei Takte hinweg, A-Dur, Septime im Bass, bis das Wort in Klang und dieser in Stille übergeht. Felix Mendelssohn, der diese Partitur vielleicht kannte, ließ 1828 die Worte weg. Sein Orchester beginnt ebenfalls in D-Dur, auch hier langgehaltene Töne, doch das „Ungeheure“ wird erreicht, indem mit einer jähen Erweiterung des Ambitus nach oben und unten ein Pianissimo den archaischen Schritt von H-Dur nach G-Dur begleitet.

3. Klopfzeichen in der Grabesstille

Wenn es einen Romantiker gibt, bei dem Verstummen und Schweigen „konstitutiv“ sein können, eine wesentliche Dimension bildend, dann ist es Robert Schumann. Im Lied „Ich hab´im Traum geweinet“ aus der „Dichterliebe“ (1840) wechseln sich klamme Worte und klopfende kurze Klaviertöne ab und können sich kaum behaupten gegenüber der Stille, die da um den Traum vom Grab der Geliebten graut. In den „Davidsbündlertänzen“ für Klavier (1837) kommen Stimmen „wie aus der Ferne“ oder verschwinden in der Tiefe, und wenn in den „Kinderszenen“ (1838) am Ende der Dichter spricht, kommt er bald ins Stocken und Sinnieren. Unaufgelöstes, offene Pausen, Ritardando in einem Drittel aller Takte: Dieser Dichter muss erst noch nachdenken.

4. Blicke auf ein Wunderkind

1944 schrieb Olivier Messiaen seinen 130 Minuten langen Klavierzyklus „Vingt Regards sur l´Enfant-Jesus“ – 20 Blicke auf das Jesuskind. Es blicken der Himmel, die Hirten, die Engel, das Kreuz, die Zeit und auch die Stille, und der „Regard du silence“ ist zugleich einer, der in Andacht „jede Stille der Krippe“ erwachen lässt „zu Musiken und Farben“. Es ist also kein Pausenstück, auch kein bewegungsarmes. Es bewegt sich nur nicht nach vorn, sondern macht die Zeit zum Raum zwischen nichtmetrischen Rhythmen: die linke Hand spielt anfangs in anderthalbfacher Vergrößerung jenen Rhythmus, dem die rechte mit ihren Akkorden folgt. Übrigens prägte Messiaen für diesen Zyklus einen neuen Plural: „Les SILENCES y jouent un grand rôle“.

5. Thomas Mann notiert ein Pianissimo

Im Roman „Dr. Faustus“ (1947) beschreibt Thomas Mann mehrere Kompositionen seines tragischen Helden Adrian Leverkühn, besonders dessen finales Zwölfton-Werk „Dr. Fausti Weheklag“ für Chor und Orchester. Das Stück endet in der Stille: „Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrigbleibt, womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cellos, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in Pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr, – Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist esnicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht.“

6. In Woodstock bleibt der Flügel stumm

Schon 1949 dachte John Cage über ein „silent prayer“ nach, „ein Stück ununterbrochener Stille“. Es sollte die Standardlänge üblicher Hits haben. Aber erst als er 1951 die “weißen Bilder” seines Freundes Robert Rauschenberg sah, gab er mit „4´33´´“ die musikalische Antwort darauf. Die Abmessungen der drei Sätze (30´, 2´23´´, 1´40´´) ertüftelte Pianist David Tudor, der bei der Uraufführung 1952 in Woodstock für jeden Teil den Tastendeckel seines Klaviers öffnete – und schloß. Ein dadaistischer Vorläufer ist der „Trauermarsch“ des Satie-Freundes Alphonse Allais (1854-1905), der aus 24 leeren Takten besteht. Dem Buddhisten Cage war es indessen ernst: “The essential meaning of silence is the giving up of intention.”

7. Streicherflüstern um Hölderlin

Die Uraufführung 1980 war eine kleine Sensation: Streichquartette schrieb man eher nicht in jener Avantgardeszene, zu der Luigi Nono zählte. Mit „Fragmente – Stille, an Diotima“ sucht er den Weg vom politischen Komponieren zurück zur Fantasie und Subjektivität. 47 Fragmente aus Gedichten Hölderlins stehen in der Partitur „ als schweigende Gesänge aus anderen Räumen, aus anderen Himmeln, um auf andere Weise die Hoffnung nicht fahren zu lassen.“ Zu hören sind sie nicht, nur zu denken in dieser Musik, die an der Grenze zum Verstummen fragmentarisch angelegt ist, durchsetzt von so vielen Tempowechseln, dass kein Zeitpuls mehr gefühlt wird – und von so vielen Pausen und Pianissimi wie kein Werk davor und danach.

8. Was hinter dem leeren Blatt lauert

„Zieht man den Klang aus der Stille, oder erlaubt man ihm, auszubrechen?“ Es wird eine Mischung aus Ausbruch und Organisation im Violinkonzert „still“, das Rebecca Saunders 2011 für Carolin Widmann schrieb. Die Geige beginnt allein. IhreTöne schießen hervor wie ein Reptil, von größter Lebendigkeit. Und was in der Stille noch wartet, scheint nun, vom Geigenwesen angeregt, an verschiedenen Stellen aus dem leeren Blatt zu brechen, Ereignisse wie aus dem Nichts, die sich sofort organisieren. Die 1967 geborene Komponistin bezieht sich auch auf Samuel Becketts Text „Still“, in dem ein Mann auf einen Klang wartet: „Lass es so alles ziemlich still oder versuch all den Klängen zu lauschen alle ziemlich still den Kopf in den Händen nach einem Klang lauschend.“

Essay und Werkporträts erschienen in “128″, dem Magazin der Berliner Philharmoniker, im Dezember 2013, und sind urheberrechtlich geschützt.

Der große Andere

Früher wurde das Zerrissene in Mahlers Sinfonik gerühmt. Heute kehren die Musiker das Intakte der Riesenformen hervor.

Das Schiff schiebt sich in den Morgendunst über der Lagune. »Pianissimo mit Empfindung« schreibt der Komponist in Takt 24 vor, die Geigen steuern auf ihren vorerst höchsten Ton zu. Fünf Takte weiter hat der Dampfer mit rauchendem Schlot die Bildmitte erreicht, beim Fortissimo ist er ganz nah, und dann kommt Gustav von Aschenbach vor die Kamera. Vom Deckstuhl aus über die Lagune blickend und schon seinen Tod in Venedig ahnend, grundiert vom Adagietto aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie. Lucino Viscontis Film kam 1971 ins Kino und war das sichtbarste Zeichen des fulminantesten Comebacks der Musikgeschichte: dem des Komponisten Gustav Mahler. Noch zehn, elf Jahre zuvor war Mahler, den Visconti hier, frei nach Thomas Mann, als homosexuellen Aschenbach zeigte, besonders in Deutschland ein Außenseiter gewesen, von dem die meisten höchstens wussten, dass er um 1900 berühmt gewesen war und groß besetzte Sinfonien geschrieben hatte.

Heute ist Mahler geradezu erschlagend präsent. Seine Werke sind Saalfüller ersten Ranges. Der Stapel an Schallplatten und CDs wächst und wächst, es sind über 2000 Aufnahmen. Es gibt wahrscheinlich mehr Bücher über Mahler als über dessen Liebling Mozart. Die Zahl der Einzelstudien lag 1987 bei 2500, seither haben die Wissenschaftler das Zählen aufgegeben. Das könne »von keinem Einzelnen mehr überschaut werden«, konstatiert Bernd Sponheuer, Mitherausgeber der neuesten gewichtigen Publikation, des Mahler-Handbuchs , in dem 80 Seiten allein der Rezeption gelten, einschließlich »Mahler im Film«. Nachdem es unter Musikologen jahrzehntelang zum guten Ton gehörte, Visconti schlecht zu finden, wird er nun »historisch ernst genommen«.

Was ist los mit uns und diesem Musiker? Für die Generation, die heute einen großen Teil des Klassikpublikums ausmacht, geboren mit dem beginnenden Mahler-Boom um 1960, hatte er noch den Reiz des großen Anderen. Wir entdeckten ihn im Kino, oder weil es bei Zweitausendeins diese günstige Kassette mit Leonard Bernsteins Gesamteinspielung gab, der ersten überhaupt, mit Granitmuster als Dekor und einem flammenden Lennie, der ein Bruder von Gustav zu sein schien. Was für ein Leben, was für eine Musik! Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht, hatte nur 50 Jahre gelebt, war zum dirigierenden Weltstar aufgestiegen, hatte die schönste Frau von Wien erobert und in (fast) zehn Sinfonien einen Kosmos geschaffen. Er hatte Abgründe in Leben und Liebe durchlitten und sah mit seinem Adlerkopf unzweifelhaft genial aus. Und dass seine erste Sinfonie Der Titan hieß, war Anlass genug, ihn selbst für titanisch zu halten. Einsame Jünglinge auf der Suche nach sich selbst liebten ihn als Verbündeten, als heldenhaften Individualisten und waren eifersüchtig auf andere Fans.

Von den Diskursen, die Mahlers Renaissance begleitet hatten, wussten wir nichts oder wenig. Als der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus 1972 in der ZEIT über die »rätselhafte Popularität« des Komponisten nachdachte, schrieb er, »auf vertrackte Weise« werde von Mahler »ein Stück musikalische Gegenwart vorweggenommen«, andererseits müsse sich der Hörer nicht »allzu abrupt« von »musikalischen Gewohnheiten des 19. Jahrhunderts trennen«. Die »Personalisierung« der Musik in Viscontis Film verurteilte er scharf als »Rückfall in veraltete Auffassungsformen«. Es handele sich um »absolute Musik«, Pierre Boulez, der Komponist, bedeutende Mahler-Dirigent und einstige Chefinquisitor der Serialisten erinnert sich heute, Avantgardisten wie er hätten Mahler »unter die Ladenhüter einer überholten Romantik eingereiht«, »verfettet und degeneriert«, reif für den »Schlaganfall durch expressiven Überdruck«.

Aber zusehends setzte sich eine Perspektive durch, die Theodor W. Adorno schon 1960 in seinem epochalen Essay Mahler – eine musikalische Physiognomik aufgerissen hatte. Gleich anfangs sieht man da den Vorhang, hinter dem die Apokalypse wartet: Der Anfang der Ersten reiche hinauf »bis zum höchsten a, einem unangenehm pfeifenden Laut, wie ihn altmodische Dampfmaschinen ausstießen. Gleich einem dünnen Vorhang hängt er vom Himmel herunter, verschlissen dicht; so schmerzt eine hellgraue Wolkendecke in empfindlichen Augen.« Wer das erst 1980 und jenseits der Diskurse las, empfand nicht unbedingt einen Widerspruch zu jenem feinen Dunst, in dem Viscontis Dampfboot das Adagietto der Lagune durchquerte… Adorno stellte »das Gebrochene« als wesentliche und neue Qualität heraus, das Auflösen alter Formen zugunsten einer romanartigen Sinfonik, die Verbindung trivialer Idiome mit höchster Komplexität, die Vorahnung der Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

Mit ihm entdeckten wir bei Mahler ein anderes, gegenwärtigeres, langes 19. Jahrhundert. Seiner Musik merkte man, anders als der von Brahms und Bruckner, die Eisenbahnschienen und Telegrafendrähte an, die jene Zeit durchschnitten, die Spannung – und den verzweifelten Traum von einer Mitte. Mit dieser Zerrissenheit konnte sich eine Generation identifizieren, die in Wohlstand aufwuchs und von Atomraketen albträumte. Zumal Mahlers Musik noch (grenzerweiternd) einer in Jahrhunderten gewachsenen tonalen Harmonik folgte. Man »verstand« sie und fühlte sich verstanden. Das vermeintlich Vertraute begünstigte freilich Mahlers Weg in die Routine des Konzertbetriebs. 1989 beobachtete Eckhard Henscheid entsetzt die »gemütlichen Frankfurter Kulturomas, die unverwelkt ewigen höheren Töchter und Kulturschnallen und vom Samstagabend noch nicht ganz regenerierten Abteilungsleiter«, an denen der »tief metaphysische Grauensspuk« der Neunten einfach abperle.

Während Mahler mehrheitsfähig wurde, teilten sich die Lager der Deuter: Die einen bestanden auf dem »negativen Mahler«, die anderen rühmten seine Emotionalität. Der Komponist Dieter Schnebel hatte 1985 den »Kult des Negativen« satt und suchte »das Schöne an Mahler«. Damit blieb er nicht allein. Heute kehren viele Musiker in Mahlers Werken eher das intakte Ganze hervor. Simon Rattles Interpretation der Fünften mit den Berliner Philharmonikern etwa ist sensibel und technisch perfekt, ein Spaziergang in gut erschlossener Bergwelt. Größer als zu einer der frühesten Aufnahme dieser Sinfonie könnte der Kontrast nicht sein: Hermann Scherchen dirigiert 1953 den zweiten Satz nicht nur, wie verlangt, »stürmisch, mit größter Vehemenz«. Er treibt das Orchester der Wiener Staatsoper in eine Welt der Entsetzensschreie. Diese Ausdrucksenergie ist nicht mehr musikalisch, sondern existenziell – wobei die ohnehin unkulinarisch hackenden Trompeten in der frühen Mono-Aufnahmetechnik noch härter und greller klingen.

Je vertrauter und historischer Mahler wird, desto mehr tritt seine Fähigkeit ins Bewusstsein, das Disparate, Auseinanderstrebende und Fragmentarische ein letztes Mal zur großen Form zusammenzuzwingen. Damit bietet er auch eine Antwort auf unsere zunehmend fragmentierte Wahrnehmung der Welt. Der Komponist und Theoretiker Berthold Tuercke hat Mahler mit den Internetnutzern verglichen und der »schier unendlichen Verfügbarkeit von Partikularem«, dem sie sich gegenübersehen. Während der Internetnutzer schon mit der Verfügbarkeit zufrieden sei, versuche Mahler, das Zerstückte »zur Form zu krümmen«, einen »qualitativen Sprung« vor Augen. Es gibt zwar keinen großen Komponisten, der nicht diesen Sprung tut, aber keine andere Musik, bei der auch die Anstrengung spürbar wird. Vielleicht fühlen wir unsere Sehnsucht nach Sinn darum gerade bei Mahler real gestillt. Nicht nur Aufführungen der erlösungswilligen Achten haben immer wieder Ereignischarakter. Und vielleicht ist es auch der Abschied vom Dogma einer rein auf sich bezogenen »absoluten Musik«, den wir hier genießen.

Michael Gielen, der Adornos Ideologiekritik an der Achten in sich »aufgesogen« hatte, bewunderte später, wie hier »Theologie in Sinnlichkeit umgesetzt wird; dass es sinnlich erfahrbare Schönheit ist«. Den Körper des Klangs als unmittelbares Ereignis realisierte etwa Daniel Barenboim, als er vor drei Jahren bei einem Zyklus mit der Staatskapelle Berlin in der Ersten einen mitreißenden Mahler enthüllte, der Adorno ausklammert. Risse, Affekte, Konflikte brachte er ganz direkt, naiv, ohne den doppelten Boden von Authentizität und Zitathaftigkeit zum Vorschein, man könnte fast sagen: als Musiker. »Die Symphonie ist fasslicher, als man beim Lesen der tiefsinnigen deutschen Kommentare vermuten könnte«, schrieb ein holländischer Kritiker. Allerdings schon 1903 und über die Dritte. Da hatte er in Krefeld gerade die Uraufführung mit dem Komponisten am Pult erlebt.

Viele Rezensionen von damals sprechen gegen den gut besuchten Gemeinplatz, dass Mahler so richtig erst von 1960 an in seiner Bedeutung erkannt worden sei. Zur letzten Uraufführung, die er selbst dirigierte, zur 8. Sinfonie in München, kamen Tausende von Zuhörern und Prominenz von Clémenceau bis Thomas Mann. Weder Bruckner noch Debussy wurden bis 1930 so häufig aufgeführt. Erfolgreicher war von seinen Zeitgenossen wohl nur Richard Strauss, folgenreicher nicht: Schönberg, Berg, Webern sind ohne Mahler nicht denkbar. Doch schon zu seinen Lebzeiten gewannen die Antisemiten an Einfluss, die in ihm den Juden verfolgten. Der nationalsozialistische Kritiker Fritz Stege beschwerte sich noch 1930 über die »in Berlin herrschende Mahler-Seuche«, aber von dieser Zeit an wurde Mahler in Deutschland so wenig gespielt, dass er von den Nazis gar nicht erst auf die Verbotsliste gesetzt werden musste.

In Deutschland hielt das Schweigen nach 1945 mit Ausnahmen an. Noch 1960 sah Adorno den Komponisten vom »Hass« einer Mehrheit geadelt, wie man ihn in Konzertführern jener Zeit nachlesen kann: »Da prallt Erhabenes auf Triviales, Gefühltes verdorrt in Konstruiertem«, die »Tragik zwischen Gewolltem und Erschaffenem« durchziehe das Werk einer »gespaltenen Natur«. Das waren Formulierungen aus dem Wörterbuch der antisemitischen Rezeption, von deren Protagonisten viele in der Bundesrepublik ihre Arbeit fortsetzten. Der Mahler-Boom der Sechziger war auch ein Reimport aus den USA: Während des »Dritten Reichs« fanden dort weit über hundert Mahler-Konzerte statt. Und in Holland, wo Mahlers Freund Willem Mengelberg an die 400 Konzerte mit den Sinfonien leitete, ist diese Tradition nie abgerissen. Doch nach dem Verdrängen in Deutschland ist seine Musik weltweit erst recht explodiert, mit bis heute anhaltender Energie.

Das berühmte Adagietto übrigens hat der Dirigent Mengelberg in Amsterdam einst mit dem Komponisten selbst erarbeitet. In der Partitur steht, was Mahler zu den Tönen dachte: »Wie ich dich liebe, du meine Sonne…« Das Adagietto hat er für Alma geschrieben. Der Tonsetzer wollte es so, man kann es auf einer historischen Mengelberg-Aufnahme nachhören: Schnelles Tempo, aber die Geigen schluchzen Glissandi, dass es nur so trieft. Dagegen ist Visconti schon Askese. So etwas geht heute gar nicht mehr. So war es aber einmal, und dass es so und so stimmt, ist typisch für alle Komponisten, mit denen die Welt in einem Jahrhundert nicht fertig wird.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 07.07.2010