Kategorie-Archiv: Essay

Allein mit seinem Willen

Fünfzig Jahre nach Wilhelm Furtwänglers Tod steht der Nachruhm des Dirigenten und Komponisten in voller Blüte. Aber was hat er uns musikalisch noch zu sagen?

Siebzig Tage hatte in Berlin der Frost gedauert, und jetzt, am 24. März 1942, waren die Leute erkältet und husteten. Auch bei Beethovens Neunter.

Schlimmerer Konzerthusten als an diesem Abend ist wohl nie mitgeschnitten worden – aber auch keine aufregendere Interpretation der Neunten. Wilhelm Furtwängler dirigierte die Berliner Philharmoniker. Der erste Satz war eine Katastrophe. Im größeren Sinn. Da wühlen und reißen Temposchwankungen Schluchten in die Musik, dann werden die Sechzehntel der Bässe in ruppigstem Spiel in die Schlacht geschickt, und die Reprise klingt wie im Krieg, weil Furtwängler das Paukentremolo lauter als fortissimo spielen lässt und mit eigens hinzugefügten scharfen Auftakten der Pauke das Getöse so anschärft, dass die Musik sich selbst vernichtet. Schön ist das nicht. Aber existenziell.

Wir hören natürlich einiges hinein in dieses historische Tondokument, aber wie sollten wir nicht? Im selben Monat würde Lübeck als erste deutsche Stadt in einem Flächenbombardement brennen, im selben Jahr würden 146 000 deutsche Soldaten in Stalingrad umkommen. Im eroberten Polen hatte die millionenfache Ermordung der europäischen Juden begonnen. Geplant von jenen Machthabern, denen Furtwängler die Hand reichte, während er versuchte, jüdische Musiker zu schützen. Wer jetzt, fünfzig Jahre nach dem Tod des Dirigenten, seine Aufnahmen hört, kommt selten umhin, das Dritte Reich mitzuhören. Den einen erscheint Furtwängler dabei als Lichtgestalt im Dunkeln, den andern als Marionette von Mördern – in jedem Fall aber ist da die Faszination, die sich bei enormer Nähe von Kunst und Geschichte einstellt – eine Nähe, die Furtwängler nicht wahrhaben mochte. Kein Podiumskünstler hat sich je entrückter und zeitenthobener gesehen.

In Hals und Haltung einem Marabu ähnlich. Dann gibt er einen unspielbaren Einsatz

Vielleicht nährt auch diese Mischung von Verstrickung und Entrückung, gesteigert im Medium knisternder alter Tondokumente, eine Aura, die sich um Furtwängler eher zu verdichten als zu lichten scheint, je historischer er wird. Kein anderer Maestro jener Zeit ist auf dem Plattenmarkt so präsent wie der 1886 geborene Archäologensohn. Mit 320 CD-Eintragungen im Internet-Handel liegt er sogar vor Arturo Toscanini (215). Auch wer Furtwängler nur am Rande wahrnimmt, ihn nicht erleben durfte oder in bildungsbürgerlicher Ehrfurcht vor seinem Erbe aufwachsen musste, vernimmt doch in der Nähe dieses Namens stets ein Raunen, sieht Nebel wallen, überaus deutsche, und mag sich fragen: Was hat er nur? Was hat er uns musikalisch zu sagen? Ist seine Präsenz, seine diffuse Dominanz angemessen inmitten all der wunderbaren toten und lebenden Musiker, die wir außerdem hören können?

Ist er gar für sein Repertoire, das klassische und romantische, der schlechthin größte Interpret des Jahrhunderts, wie sein beredtster Bewunderer, Joachim Kaiser, schreibt? Nun hat der allerdings den Meister noch selbst erlebt. Wer ohne diesen Hintergrund Probebohrungen im Plattenberg vornimmt, ist keineswegs immer so beeindruckt wie bei der existenziellen Neunten aus Berlin. Vom selben Werk gibt es eine als epochal gehandelte Aufnahme, die 1951 in Bayreuth entstand und mit einem schrecklich zähen ersten Satz beginnt. Da wirken die unablässigen Rubati ebenso lähmend wie die schweren Betonungen, die der 65-Jährige den Bass-Sechzehnteln aufdrückt, ohne Dringlichkeit zu erreichen. In Bruckners Siebter aus demselben Jahr wird der Choral im Finale durch extreme Verlangsamung derartig entrückt, dass es manchen wohl Schauer verursachen mag, aber ebenso auch plakativ anmuten und unberührt lassen kann. Bruckner jedenfalls sah die Verlangsamung nicht vor.

Ja, wenden nun gern die Interpretationshistoriker ein, so dürfe man aber nicht argumentieren, denn Furtwängler stehe nun einmal, wenn auch reichlich spät, in der auf Wagner zurückgehenden Tradition der Espressivo-Interpretation und sei als deren letzter Exponent eben nicht an den Kriterien der neusachlichen (Toscanini) oder gar historisierenden (Norrington) zu messen. Aber eher kommt es wohl auf die Spannung von Fall zu Fall an, und ganz sicher liegt es nicht nur an historischer Distanz, wenn einen dieser Bruckner ermüdet. Nur wenige Jahre später nahm beispielsweise Franz Konwitschny die Siebte mit dem Gewandhausorchester auf, so unmittelbar ihre Stimmen lebendig machend und rubatofrei solche Spannung erzeugend, dass man auch heute umfangendes Glück erlebt, wo bei Furtwängler alles nach Mahnung klingt.

Indessen kann er auch erstaunlich griffig sein wie in einer der frühesten Aufnahmen. Der erste Satz aus Beethovens Fünfter ist 1926 von schwebender Kompaktheit, kein bisschen raunend und pathetisch und zerdehnt. Das Tempo schwankt hinter den Noten auf so feine, unberechenbare, einleuchtende Weise, dass in dieser Musik etwas zu fließen scheint so wie die Hirnströme beim Komponieren. Kurt Sanderling, der jetzt 92-jährige Dirigent, hat in den zwanziger Jahren in Furtwänglers Berliner Konzerten eine Eigenschaft erlebt, die er in dieser Vollendung bei keinem andern angetroffen habe: das Gefühl, der Geburt des Werkes beizuwohnen. Aber er sagt auch: Wenn man es Jahrzehnte später auf Platten hörte, war alles vorbei. Nicht das Geringste mehr. Sanderling ist aber sicher, dass ihn damals nicht nur die Optik beeindruckt haben kann. Wobei die, wie Filmaufnahmen zeigen, jedenfalls unverwechselbar war.

Zuerst breitet Furtwängler, durch Hals und Haltung einem Marabu ähnelnd, die Arme aus, halb wie gekreuzigt, halb wie im Abflug, dann gibt er mit flatternd herabfallenden Armen einen völlig unspielbaren Einsatz, den das Orchester aber doch einigermaßen erwischt, schließlich schlägt die Rechte den Takt, während die Linke in der Luft mit nervösen kleinen Fingerbewegungen an einer unsichtbaren Substanz herumzukneten scheint. Die ersten Forteschläge in Schuberts Unvollendeter treffen den Dirigenten wie Schüsse von hinten, und das Zucken seiner langen Gliedmaßen lässt ihn sekundenlang wie eine Marionette aussehen – er sah sich auch gern als Medium. Wenn ihm aber etwas missfällt, unterbricht er die Probe, jäh zusammensinkend, und guckt neben seinem Pult zu Boden, als hätte da jemand einen toten Hund hingelegt. Allein an seinen Bewegungen kann es nicht unbedingt liegen, dass man ihn so verehrte.

Doch sie vermitteln durchaus sein Interesse an jenem Dahinter der Musik, zu dem er wie kein anderer Zugang gehabt haben soll. Viel davon ist zu spüren im Liebestod einer Gesamtaufnahme von Tristan und Isolde, die 1952 für die Electrola entstand. In einem Tempo, wie es langsamer nicht denkbar ist, nimmt Kirsten Flagstad Abschied, und es entsteht da hinter ihr ein Licht, als hebe sich Atlantis wieder aus den Fluten, eine nie zerstörte Welt, mit der das 19.

Jahrhundert vielleicht noch verbunden war – und dann geht es weiter in die Fluten selbst, in zusammenfassender Gelassenheit. Dominante und Tonika wogen groß und dunkel und schwer, ein menschenferner Puls, eine Welt vor den Menschen, wobei die Musik in einem Maße sich entmusikalisiert und Realität wird, dass man sich kaum entziehen kann. Es ist etwas Grauenhaftes darin, aber auch ein Trost, weil man es überhaupt gesehen hat.

Da versteht man dann doch, warum Furtwängler sich zum bewusst und eigentlich Anti-Historischen bekannte, und auch, warum er als Komponist mit solcher Energie in ein idealisiertes 19. Jahrhundert zurückdrängte und 1944 seine Zweite Sinfonie so schrieb, als sei die Fortexistenz einer Welt vor den Kriegen zu beweisen. Dass diese Musik eine Behauptung bleibt, dass da breite, glänzende Brucknertreppen sich bald unter Moos und Farn verlieren und das Panaroma jenseits der letzten Stufen nur an eine Wand gemalt ist, nimmt ihr doch nicht ihren Sinn. Andererseits erlebt man im 80 Minuten langen Klavierquintett die Ausweglosigkeit gewaltiger Anläufe auch als bedrückend.

Der Komponist brauchte 23 Jahre, von 1912 bis 1935, um aus diesem Werk herauszukommen. Es bildet sich da ein Vakuum um einen, der ganz mit seinem Willen allein ist, nichts offen lässt, der keinen Kontakt aufnimmt.

Von einsamer Warte blickt er hinab auf die Menschen – am liebsten in vollen Sälen

Wenig anfangen konnte dieser Musiker jedenfalls mit der Unmittelbarkeit menschlicher Gefühle, wie sie in Tschaikowskys Pathétique leben. Toscanini, Furtwänglers großer Rivale bis heute, hat 1938 eine glühende, fokussierte, zum Anfassen intensive Einspielung davon gemacht, neben der Furtwänglers Aufnahme aus demselben Jahr dräut und lastet, aber nicht fesselt. Seine auf den Italiener gemünzte Kritik an punktierenden Dirigenten, deren Endzweck nur präzises Zusammenspiel sei, geht hier nach hinten los. Nicht jeder verwackelte Einsatz ist kunstmoralisch legitimierbar. Auch den fast ironisch funkelnden Metamorphosen von Paul Hindemith tut Furtwänglers Unschärfe diesseits der letzten Dinge nicht gut. Die Berliner Philharmoniker spielen da schlampig wie ein mittelmäßiges Filmorchester, und dass sie es weit besser konnten, hört man, wenn Hindemith selbst mit ihnen dasselbe Stück realisiert.

Je heftiger man sich mit Furtwängler befasst, desto gespaltener wird einem zumute. Seine stärksten Aufnahmen bewegen den Hörer zur Hingabe, aber dem Musiker selbst mag man nicht immer trauen. Es ist etwas Bevormundendes in dieser einheitlichen Fühlweise, die er für sich beansprucht, an der manche Stücke wachsen, andere scheitern, wieder andere einander ähnlich werden.

Zugleich ahnt man, dass die unglaubliche Kraft der Suggestion beim Zusammenfassen, die ihm bei aller Skepsis auch sein Kollege Michael Gielen zugesteht, in der Flucht vor einer eigenen Spaltung entstanden sein könnte – nicht nur der in einen Dirigenten und Komponisten, auch der zwischen zwei Epochen, der Spaltung in einen, der bestimmen und einen, der zerfließen will.

Einer, der von einsamer Warte auf die Menschen herabblickt, aber am liebsten in vollen Sälen. Einer, der im Stehen flüchtet.

Und so flüchtet er an jenem Dienstagabend in Berlin auch aus dem Dritten Reich. Im Chorfinale verstummen die letzten Huster, so drastisch krachen die Gegensätze, so urtierhaft sprechen die tiefen Streicher ihr Rezitativ, so unendlich lang, ja gierig ist die Fermate auf Gott. Das allerletzte Presto hatte Beethoven mit beschwingten 132 halben Noten pro Minute veranschlagt, Furtwängler genügt das nicht mehr. Ausnahmsweise bleibt er nicht unter den Metronomangaben des Komponisten, sondern dreht auf bis 168, der Chor kann diesen Kuß der ganzen Welt nur noch wie einen Rap stammeln, und bis zum letzten Götterfunken ist das Stück nicht überm Sternenzelt angekommen, sondern aus der Kurve geraten und verbrannt. In seinen stärksten Stunden lässt Furtwängler Musik zu Realität werden. Oder an ihr zerbrechen. 1945 war Berlin zerstört, und das Magnetband mit der Neunten nahmen die Russen mit.

The Fascination of Furtwängler (Deutsche Grammophon, 2 CDs) Furtwängler Maestro Classico Vol. 1-3, je 10 CDs (History) Wagner: Tristan und Isolde, Philharmonia Orchestra London (EMI) Furtwängler: Sinfonien Nr. 1-3, Staatskapelle Weimar, G.A. Albrecht (Arte Nova) – Sinfonie Nr.2 Chicago Symphony Orchestra, Barenboim (Teldec) – Furtwängler: Klavierquintett, Clarens Quintett (tacet)

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 25.11.2004

Dirigent! Was für ein Job!

So glamourös wie er war keiner. Zum 100. Geburtstag von Herbert von Karajan

Da hebt er ab, der Dirigent. Alpen, Schnee, Privatjet. Er startet hinein in klare Luft – und während er die Maschine steuert, konzentriert auf Armaturen und Gipfelketten blickend, vertieft das spätromantische Crescendo eines unsichtbaren Orchesters das Bild ins Zeitlose. »Dirigent! Was für ein Job!« So denkt man, unwillkürlich, so schön ist das Klischee inszeniert. Im neuesten Film über Herbert von Karajan, einer 92-minütigen Dokumentation, können wir Spätentdecker aus genüsslicher Distanz noch mal den Star besichtigen, den unsere Eltern bewunderten. Er ist wieder da – als Hype zum Hundertsten. Die Kulturkaufhäuser errichten ihm Altäre, in Büchern, Sendereihen, Feuilletons wird er neu entdeckt – und plötzlich auch von Leuten geschätzt, die ihn zu Lebzeiten als Medienphänomen abtaten oder nie auf dem Podium erlebten.

Da ist tatsächlich ein Musiker zu entdecken. So schlecht war er doch gar nicht, denkt man beim Hören zuerst und ist fasziniert von dieser einst überpräsenten und gleichzeitig merkwürdig fernen Gestalt. Karajan war immer ein »Begriff«. Im Hannover der sechziger Jahre wurde einer der letzten Polizisten, die den Verkehr von Hand dirigierten, der »Karajan vom Emmichplatz« genannt. Wie kam das? Und wie fügt es sich, dass er einerseits einen fantastischen Bruckner aufnimmt, riskant, gefährlich, körperhaft, und zeitgleich mit Eliette auf Salzburger Festspielfotos posiert wie der Schah von Persien? Es ist ein Herrscherpaar, das da 1965 vor der geöffneten Tür einer schweren Limousine steht, im Festspielornat, in den Gesichtern das feine kontrollierte Lächeln derer, die wissen, dass das Foto am nächsten Tag in den Zeitungen ist: der mächtigste Dirigent der Welt und seine Frau, verfügend über mehrere Häuser, zwölf Autos, Jacht und Jet, Picassos und Renoirs.

Nach seinem Tod dämmerte der Mythos vom Maestro

Man versteht den Neid, den Eckhard Henscheid noch 1978 fast verwundert diagnostizierte: »Zu beobachten ist der seltene Fall, wie einer, dessen Bild sich haarscharf mit der herrschenden Ideologie von Glanz und Erfolg und Karriere deckt, dennoch überwiegend der Mißgunst anheimfällt, weil man in ihm wenn nicht den Scharlatan, so doch den Hans im Glück unter seinesgleichen wittert, der davon auch noch gar zu viel Wesens macht.« Und Henscheid fragte: »Warum sucht das angebliche Masseninteresse an Kunst ausgerechnet einen Dirigenten aus, warum grad diesen?« Tatsächlich gab es ja genug andere Stardirigenten, die auch ohne Jet und Jacht noch mehr Spaß am Leben zu haben schienen als der ernste, jenseits des Podiums oft schüchterne Karajan. Aber es war eben keiner so mächtig, mit zeitweise drei Chefposten, omnipräsent auf dem Plattenmarkt.

Nach seinem Tod vor 19 Jahren verschwand er so schnell wie ein gestürzter Diktator, beigesetzt in einer Pyramide aus Tonträgern und Musikfilmen, kurz bevor in Berlin die Mauer fiel. Fast eine Art Lord Voldemort, den man erst mal besser nicht erwähnte. Danach entstanden Bücher und Artikel, denen man die Erleichterung schon in den Titeln anmerkt: Der Mythos vom Maestro (1991) von Norman Lebrecht oder Dirigentendämmerung? (1997) von Peter Gülke, der den Dirigenten Christoph von Dohnányi zitiert: »Es gibt heute eine größere Partnerschaft zwischen Dirigent und Orchester, und die macht es unmöglich, dass der Dirigent sich noch wie ein Star verhält. Wir erleben generell das Ende eines total patriarchalischen Systems.« Dieses System hatte Karajan nicht erfunden, aber er war sein Kind und seine Krönung. Zuerst hatten die Komponisten des 19. Jahrhunderts noch selber das Zusammenspiel der wachsenden Ensembles koordiniert, denen sie vorstanden, als einer der Ersten Carl Maria von Weber. Dessen Macht faszinierte schon das Kind Richard Wagner: »Nicht Kaiser und nicht König, aber so dastehen und dirigieren.« Wagner tat das dann auch, aber für die Uraufführung seines Tristan überließ er diese Macht einem jungen Bewunderer. Hans von Bülow probt 1865 den Tristan., während seine Frau Cosima ein Kind von Wagner zur Welt bringt. Die Entstehung des Berufsdirigenten fällt mit seiner Demütigung zusammen, und wie im Gegenzug wird von Bülow ein Orchesterleiter von ungeheurer Autorität, anspruchsvoll und launisch. Er schuf das Modell des »Neuschöpfers«, wie sein Bewunderer Arthur Nikisch ihn nannte.

Man könnte erwägen, ob Bülows Nachfolger über Nikisch und Furtwängler bis hin zu Karajan, eigenmächtige, virile Halbgötter am Pult der Berliner Philharmoniker, nicht alle ihren Ahnherrn rächten, indem ihre Namen auf den Plakaten immer größer wurden als die der Komponisten. Doch das liegt vor allem daran, dass das Publikum zunehmend verstorbenen Komponisten lauschte und weniger auf die Musik gespannt war als auf das, was der Dirigent daraus machen würde – mehr noch, wie er es machen würde. »Sag mir Bescheid«, soll eine Dame im Nikisch-Konzert vor hundert Jahren ihrer Begleiterin gesagt haben, »wenn er anfängt zu faszinieren.« Die Faszinationskraft ist fortan eine wesentliche Eigenschaft des Dirigenten. In Karajan muss sie sich potenziert haben. »Der brauchte nur die Nase rauszustrecken, da hat das Publikum geschrien«, sagt eine Sängerin.

Aber so einfach ist es mit Karajan nicht, er war ja nicht nur subjektiver Faszinator in deutscher Tradition. Schon 1929 hat er in Wien den Italiener Arturo Toscanini erlebt, »der umwerfende Eindruck meines Lebens«. Der Antipode Furtwänglers, Despot der Präzision, Gegner subjektiver Unberechenbarkeiten (und der Nazis), ist Vorbild für den Perfektionisten Karajan. Der erklärte später, er habe »eine Verbindung zwischen der Fantasie Furtwänglers und der Präzision Toscaninis« erreichen wollen. Unabhängig davon, wie weit er dabei eigenes Profil gewann, ist das nach 1945 vermutlich für sein Image gut: Dieser Dirigent ist nicht zu »deutsch«. Trotzdem wird er im Jargon des »Dritten Reichs« rezipiert: »Karajan«, schreibt ein Kritiker 1949, »ist bei aller Sachlichkeit ein Musiker von echter Besessenheit.« – »Fanatisch« setze er seine »präzise Werkvorstellung« durch, mit »straffer, beherrschter Führung«. Wäre der Text nicht in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen, man könnte meinen, mit diesem Feldherrn hofften die Deutschen doch noch einen Krieg zu gewinnen. Das Vokabular der Führerbewunderung begleitet ihn lange. »Ich habe ihm ins Gesicht sehen können«, schreibt 1938 der Kritiker der Berliner Zeitung am Mittag, als er das »Wunder Karajan« ausruft, »es war ein Gesicht, von dem der heilige Ernst für die Sache ausging, ein Gesicht, das äußerste Konzentration und besessenes Künstlertum ausdrückte.« Und 1957 liest man in der Welt: »Ich sah dem Mann in die hellen, klaren Augen, sah ein sehr ernstes Gesicht, erfüllt von unbedingter Lauterkeit der künstlerischen Gesinnung – und eben von der Bereitschaft zur Verantwortung.« Diskutiert wurde hier die Frage, ob ein Dirigent auf drei Gipfelposten zugleich ganze Arbeit leisten könne: als Chef der Wiener Staatsoper, der Salzburger Festspiele und der Berliner Philharmoniker.

Da hatte schon das Wirtschaftswunder Karajan begonnen, von dem Adorno 1968 sagt: »In Karajan setzt ein objektiver gesellschaftlicher Zwang bis ins innerste Gefädel der musikalischen Darbietung sich um. Er war der musikalische Genius des Wirtschaftswunders.« Es gibt aber eine Menge Aufnahmen, die bis ins innerste Gefädel sehr frei sind, unberechenbar und existenziell und mit teils extraterrestrischen Farbwirkungen wie eben Bruckners Neunte. Oder solche, wo man sich freut, dass Karajan mit weltumfassender, erleuchteter Naivität die Absichten der Komponisten hinter sich lässt wie in seinem 1956er Rosenkavalier. Über das Späte, sanft Rückblickende, Gebrochene dieser Musik sieht er hinweg. Am Schluss hört man kalt gleißende Weiten, in denen die Lebenden verschwinden, galaktisch, unmenschlich fast.

Karajan verband die Romantik mit dem Düsenantrieb

Einmal gestand auch Adorno, dass dieser Dirigent, wenn er wollte, nicht zu übertreffen war. Schönbergs Orchestervariationen seien »sinnvoll bis ins letzte Detail so durchgearbeitet und bewusst musiziert, dass Webern als Interpret sich nicht zu schämen gehabt hätte«. Das schrieb Adorno in seiner Musiksoziologie über einen »Matador«, er gab aber nicht zu, dass es Karajan war. Man würde es diesem Dirigenten ja auch durchaus zutrauen, dass er sich die Zweite Wiener Schule nur vornahm, um sie seinen schärfsten Kritikern wegzunehmen und zu beweisen, dass er alles konnte. Aber Weberns Passacaglia aus seinem eigenen Geburtsjahr 1908 dirigiert er wie die Filmmusik seines 20. Jahrhunderts, voller Extreme, verblüffend aufgewühlt. Karajan scheint sich selbst zu befragen in zerbrechlichen Passagen: Wer bin ich jetzt?

Er war offenbar mehrere. In denselben frühen siebziger Jahren entstanden Filme mit Beethovensinfonien, in denen sich Karajan so priesterlich inszeniert, dass er einem schon wieder leidtut. Die Tradition Bülows, der sein Orchester im Stehen und auswendig spielen und sich vorm Trauermarsch der Eroica schwarze Handschuhe auf einem Tablett bringen ließ, wird hier schauerlich vollendet. In der Siebten Sinfonie sitzen die Berliner Philharmoniker ohne Noten und Publikum auf schwarzen Podesten vor hellgrauem Hintergrund, angeordnet wie Kostbarkeiten im Schaufenster eines Juweliers, und in der Mitte scheint Karajan geschlossenen Auges den Genius Beethovens beschwören zu wollen, zeitenthoben, steril. Unterm Druck von Image und Markt wirkt er wie begraben, in einer Gruft die Hände hebend.

Das 19. Jahrhundert, in dem Karajan wurzelt und dessen Musik er hauptsächlich dirigierte, wirkt bei ihm wie ins 20. Jahrhundert hineinmodernisiert. Romantik mit Düsenantrieb, Magie mit Elektronik. Als Überflieger in jedem Sinne – bis hin zu den gewaltigen Spannungsbögen, für die ihn alle unisono loben – scheint er sein Jahrhundert überflogen zu haben wie in einer Art Paralleluniversum, das real war, solange er dirigierte. Er meinte es sicher auch ganz ernst, wenn er über die »klassisch-symphonische Musik« sagte, sie sei so erfolgreich, »weil sie ihre Zuhörer fast immer mit einem Ausblick ins Licht entlässt«. So schlicht wollte es sein Publikum haben, diese Haltung war es, die entscheidende Gegenbewegungen provozierte und noch immer die Wahrnehmung erschwert, dass er oft wagemutiger ist, als sein Ruf wollte.

Trotzdem hat beides miteinander zu tun. Es ist viel Naivität in Karajan – ein Kind. Man entdeckt es in seinen grotesken Vergleichen von Ferraris und Orchestern, in seiner Versessenheit auf immer neueste Technik, in seinem wütenden Trotz vom Wiener Opernstreit bis zum Zerwürfnis mit den Berliner Philharmonikern, seiner Nichtintellektualität, in seinem Wunsch, immer der Beste zu sein. Man entdeckt es aber auch da, wo er sich mit einer Abenteuerlust in die Partituren begibt wie in Realitäten, ohne Hintergedanken, ohne Fragen nach den Motiven der Autoren, nach Geschichte, nach Sprache. Fast unheimlich ist manchmal die Weltweite, ansteckend aber die Zuversicht. Als Pilot soll er nicht sehr gut gewesen sein, aber Christa Ludwig erinnert sich lachend: »Ich hatte das Gefühl, das Flugzeug kann gar nicht abstürzen. Da ist ja der Karajan drin.«

Ursprünglich veröffentlicht in der >Zeit< am 02.04.2008 in geringfügig kürzerer Version

Unsere Wagners

Das Leben ist ein Ränkespiel: Die Historie von Richard Wagners Nachkommen ist voll von politischen Irrtümern, Ehebruch, verstoßenen Töchtern und bestraften Söhnen. Ein Blick in das Familienalbum einer berühmten deutschen Sippe

Man kann sie bis heute an der ausgeprägten Nase erkennen, am markanten Kinn und an den leicht hängenden Augenlidern. Oder sie sehen, mit schmalen Wangen und bleichem Teint, Cosima ähnlich, der Tochter von Franz Liszt. Richard Wagners Nachkommen – in ihrer Familiensaga fallen Kunst und Verwandtschaftsranküne, deutsche Geschichte und fränkischer Provinzialismus auf atemberaubende Weise zusammen. Von ihrem genialen Ahnen haben sie den Instinkt fürs Theatralische geerbt und eisernen Durchsetzungswillen. Sie spielen im richtigen Leben immer wieder zwanghaft nach, was sich Richard in seinen Musikdramen ausgedacht hat: Sie hüten fafnergleich den Bayreuth-Hort und bauen ihre Macht wie Wotan auf Verträge. Es gibt brünnhildenhaft verstoßene Töchter, Ehebruch und Hagensche Speerstöße in den Rücken. Götterdämmerung allenthalben. Jetzt, wo am Grünen Hügel eine Zeitenwende naht, lohnt es sich noch einmal, das große Familienalbum der Sippe hervorzuholen und darin zu blättern.

Wir fahr’n übern See

Am Bodensee, im März 1864. Im Mantel steht Richard an Bord und guckt ins trübe kalte Wetter überm Wasser. Klein von Statur ist er, bedeutender Kopf, hohe Stirn, der Mund etwas zusammengekniffen. So verbreitet ist sein Porträt noch nicht, dass die andern Passagiere den Fünfzigjährigen erkannt hätten, den Komponisten von Holländer , Tannhäuser , Lohengrin . Im Gepäck hat er das Manuskript von Tristan und Isolde . Unklar, wer das aufführen soll, wer das bezahlen kann. Richard hat Schulden: 12000 Gulden. Das würde heute 240000 Euro entsprechen. Er flieht jetzt in die Schweiz. Mal wieder. Zu seiner Freundin Eliza. Am Tag vorher, Karfreitag, hat er schon einen Grabspruch gedichtet: »Hier liegt Richard Wagner, der nichts geworden / nicht einmal Ritter vom lumpigsten Orden…«

Es gibt noch einen anderen Bodensee-Schnappschuss. April 1945 – wieder gehen Wagners an Bord, in Nußdorf. Sie fliehen vor den Alliierten. Wieland, ältester Enkel Richards, mit seiner schwangeren Frau und zwei Kindern, außerdem seine schwangere Schwester Verena, genannt Nickelchen, und ihr Mann Bodo. Bodo Lafferentz. Er war der Chef der Organisation Kraft durch Freude, hat ganz in der Nähe auch ein Institut zur Entwicklung »sehender Raketen« – Cruise-Missiles für den Endsieg, an den jetzt keiner mehr glaubt. Bodo hat das Schiff organisiert. Als Startkapital und Visumsersatz hat die Reisegesellschaft die Handschrift des Tristan dabei, oder des Parsifal, so genau lässt sich das nicht mehr klären. Die Schweizer Polizei jedoch bleibt unbeeindruckt von den berühmten Noten. Sie stellt die Bootsflüchtigen auf der Mitte des Sees und bittet zum Verhör. Die Wagners sagen, sie würden in der Schweiz erwartet von den Nachfahren der Eliza Wille. Aber als Sympathisanten Hitlers sind sie allzu bekannt. Das Boot muss umkehren.

Der Schlapphut

Wahnfried, Richards Bayreuther Villa mit der Fassadeninschrift »Wo mein Wähnen Frieden fand«, hat 1945 einen Bombentreffer abgekriegt. Die linke Hausseite steht noch, aber die rechte liegt in Trümmern. Nike, Wielands Tochter, die nach der gescheiterten Flucht über den Bodensee zur Welt kam, hat das herabhängende Dach in ihrem Buch Wagner-Theater mit dem »Wotansschlapphut« verglichen, der über das tote Auge des Gottes hängt. Es ist in dieser Familie nämlich üblich, alles auf Richards Werke zu beziehen. Für Cosima war Wahnfried ihr »Walhall«. Winifred hat sogar Rudolf Heß mit Brünnhilde verglichen. Mit seinem Versöhnungsflug nach England 1941 habe der Stellvertreter des Führers nur getan, was dieser selbst nicht tun durfte, wie Wotans Tochter in der Walküre . Ganz unübertroffen ist die Korrespondenz zwischen Cosima und König Ludwig II: »Wotan und Waltraute« (das sind Richard und sie) »grüßen Siegfried. Sachs segnet Walther. Stoltzing begrüßt Walhall. Heil ruft der Gott dem Held.« Und das als Telegramm. Als sich hundert Jahre später Wielands betrogene Ehefrau Gertrud nach anderen Männern umsah, fiel ihre Wahl auf einen Arzt namens Alberich. Zu viel Wagnermetaphern-Folklore tut nicht gut.

Eva, Cosimas zweite Tochter mit Richard, ist nach der weiblichen Hauptfigur in den Meistersingern benannt und eine der verkniffenen Gestalten der Familie. Cosima wollte eigentlich den Komponisten Richard Strauss für Eva als Ehemann haben, doch der zog eine Sängerin vor. Eva hat dann Houston Stewart Chamberlain geheiratet, einen Vertrauten ihrer Mutter. Chamberlain ist der berühmteste Rassentheoretiker seiner Zeit. Sein Buch Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts ist ein Bestseller und avanciert zum Standardwerk für den Antisemitismus in Deutschland. Als Cosima stirbt, bringt Eva die Papiere der Mutter in ihren Besitz, auch die Tagebücher, 5000 Seiten umfassend und Siegfried, dem einzigen Sohn, gewidmet. Der stirbt vier Monate nach Cosima, ohne die Tagebücher je gesehen zu haben. Siegfrieds Frau Winifred erstattet Anzeige, wofür sich Eva grausam rächt: Sie verbrennt den vollständigen Briefwechsel zwischen Richard und Cosima. Die Tagebücher übergibt sie 1935 dem Bayreuther Bürgermeister mit der Auflage, sie 30 Jahre lang unter Verschluss zu halten. Erst 1976 können sie erscheinen. Da hatte der Herausgeber dieser Tagebücher seine Ehefrau übrigens schon an Festspielchef Wolfgang Wagner verloren, aber das ist eine andere Geschichte. Irgendwie auch keine neue…

An allem ist Hütchen schuld

Bayreuth, 1925. Hier steht die Villa Wahnfried noch in ganzer Pracht. Man erkennt Siegfried mit seiner Familie. Obwohl er erst 56 Jahre alt ist, sieht er viel älter aus, eher wie der nette Onkel als der Ehemann von Winifred, die 28 Jahre alt ist. Mit ihr hat er vier Kinder: Wolfgang, Verena, Friedelind, Wieland. Siegfried ist nie richtig aus dem Glashaus herausgekommen, das seine Mutter Cosima um ihn errichtete, den einzigen Sohn, den Erben des Meisters! Jede seiner Talentäußerungen wurde registriert und kommentiert, sein Vater Richard wollte für ihn sogar eine Extraschule gründen. Er hat ihn ja nicht von ungefähr nach dem Helden Siegfried benannt, dem großen Hoffnungsträger im Ring des Nibelungen . Bekanntlich wird er ermordet. Richards Sohn indessen erstickt schier unter der Last des Erbes, das ihm aufgebürdet wird. Er sieht sich zum Komponieren verpflichtet und schreibt 14 Märchenopern mit kuriosen Titeln wie Bruder Lustig oder An allem ist Hütchen schuld . Keine der Opern hat es ins Repertoire geschafft. Ehe er Winifred kennenlernt, zeugt er mit einer Bayreuther Pfarrersgattin einen Sohn, der später diskret als Assistent in die Festspiele integriert wird. Eigentlich neigt er aber zu Männern, auch um der Übermacht seiner Mutter zu entgehen.

Es glänzen die Hörner

Richard hat allen vorgemacht, wie die freie Wagner-Liebe geht. Zürich 1957, hier sehen wir ihn in seinem »Asyl«, einem kleinen Fachwerkhaus, das ihm der Fabrikant Wesendonck auf seinem prachtvollen Anwesen zum Komponieren zur Verfügung gestellt hat, umgeben von vier der wichtigsten Frauen seines Lebens, während es aus der Walküre vorsingt. Das Bild ist fiktiv, das Treffen verbürgt. Im Hintergrund steht Eliza Wille, die Exgeliebte Richards, die den Postillon dAmour gibt zwischen ihm und der nächsten Geliebte. Es ist die jüngere mit dem Mittelscheitel, Richards große, vielleicht größte Liebe – Mathilde, die Gemahlin von Wesendonck. Von der reiferen Dame rechts wird sie »Mistweib« genannt. Sie ist Richards Frau Minna. Auch in der Nähe sind der Liszt-Schüler Hans von Bülow und Cosima, damals 19 Jahre alt, die beiden sind auf Hochzeitsreise. Von diesen Frauen umgeben, hat Richard in drei Wochen seine Tristan -Dichtung niedergeschrieben. Man ahnt, warum Kunst und Leben mitunter nicht zu trennen sind. Acht Jahre später bringt Cosima eine Tochter zur Welt, Isolde, sie ist von Richard und nicht vom Gatten Hans, der aber offiziell zum Vater erklärt wird. Vier Jahre später gebärt Cosima bereits den dritten Wagnerspross Siegfried, und Hans von Bülow, der davon in der Zeitung erfährt, bemerkt sarkastisch: »Das Gebäude meiner Hörner ist somit auf die glänzendste Weise gekrönt worden.«

Noch eine Affäre

Stuttgart, 1966. Wieland Wagner probt Lulu mit Anja Silja. So wie er sich da im Sessel fläzt, mit übereinandergeschlagenen Beinen, könnte er selbst einer der Männer sein, die mit Lulu spielen und von ihr ruiniert werden. So wie Silja vor ihm steht, die 26-Jährige, ist sie Kind und Göttin in einem. Sie war Wielands Geliebte. 1960 kam sie als »Senta« nach Bayreuth, Wielands Frau Gertrud bat das Paar, sich wenigstens während der Proben nicht zu duzen. Für Winifred war die begnadete junge Sängerin nur die »Hure vom Kurfürstendamm«. Sie korrigierte sich dann brieflich: »Nicht Hure, sondern Nutte.«

Schöne Tage mit Onkel Wolf

Auf dem Sofa in Haus Wahnfried sitzt er, mit Anzug und schräg gestreifter Krawatte. Er sitzt ein bisschen da wie ein kleiner Junge, die Hände zwischen den Beinen, im Gesicht etwas vom unsicheren Trotz des Kleinbürgers, der bei Großbürgers gelandet ist, und gleichzeitig erkennt man die Sicherheit dessen, der weiß, dass ihn hier niemand vertreiben kann. Adolf Hitler war in Wahnfried von Anfang an willkommen. Seit 1921 Vorsitzender der NSDAP, machte er zwei Jahre später seinen Antrittsbesuch im Hause des von ihm bewunderten Richard, der seinen Antisemitismus nicht nur in der frühen Schrift über Das Judenthum in der Musik geäußert hat. Evas Mann, Houston Chamberlain, begrüßte den jungen Hitler in Wahnfried als »Lichtgestalt«. Auch Winnie und Siegfried waren begeistert. Für den Tag nach Hitlers Putsch am 9. November 1923, dessen Erfolg sie für sicher hielten, planten sie in München ein Konzert. Als Hitler nach dem Scheitern inhaftiert wurde, wurde ihm das Papier, auf dem er Mein Kampf schrieb, aus Wahnfried ins Gefängnis geschickt. »Meine Frau kämpft wie eine Löwin für Hitler«, schwärmte Siegfried, »großartig!« Der NSDAP-Mann kam nun häufiger, auch nach 1933. In Wahnfried soll er sich immer entspannt haben und trank sogar Schnaps. Die Kinder dürfen ihn Onkel Wolf nennen. Einmal bringt der 16-jährige Wolfgang seinen Schulatlas während der Festspiele zu Hitler, weil dem Führer das Kartenmaterial fehlt, um mit seinem militärischen Stab den Spanischen Bürgerkrieg zu diskutieren.

Der Schrank bleibt zu

In München soll bis heute ein Schrank stehen, von dem leider kein Bild existiert. Verena, »Nickelchen«, habe ihn vor längerer Zeit bei ihrer Tochter Amélie deponiert, so hört man von Familienmitgliedern. Und Amélie verweigere hartnäckig die Öffnung des Möbels. Der Schrank soll den sagenumwobenen Liebesbriefwechsel zwischen Winni und Wolf enthalten.

Die Witwen trinken Tee

»Wie eine Braut«, schreibt Nike in ihrem Wagner-Buch unter ein Bild, das ihre Großmutter mit Hitler zeigt, sie ganz in Weiß, er im schicken Anzug, ringsum Uniformierte. Bis an ihr Lebensende, bis 1980, hat Winifred keinen Hehl aus ihrer Sympathie für diesen Mann gemacht. Er bleibt für sie »USA« – »unser seliger Adolf«. In ihrem berühmt gewordenen Fernsehinterview mit Hans-Jürgen Syberberg erklärte die 87-Jährige: »Der Teil von ihm, sagen wir mal, den ich kenne, den schätze ich auch heute noch, genauso wie früher. Und dieser ganze abzulehnende Hitler, der existiert innerlich für mich eigentlich nicht… Verstehen Sie, alles in meiner Beziehung zu ihm beruht auf absolut Persönlichem.« Mitte der fünfziger Jahre zieht Winifred wieder nach Wahnfried ins Gästehaus, in den »Führerbau«, den sie so nennt wie zu den Zeiten, als Hitler dort übernachtete. Winifreds Domizil wird ein beliebter Treffpunkt der »Ehemaligen«: Es kommen die Naziwitwen Ilse Heß und Emmy Göring, dazu Adjutanten, Piloten, Kammerdiener und Sekretärinnen des »Führers«, Ex-Gauleiter und revisionistische Historiker. Wieland, der das Haupthaus bewohnt, ist entsetzt und lässt eine vier Meter hohe Mauer im gemeinsamen Park errichten. Dahinter sitzen die Hitlerfreunde dann zum Tee in froher Runde und schwärmen von einst, während Winifreds laute Stimme mühelos über die Mauer zum gepeinigten Festspielleiter herüberdringt. Sehr deutsch, die Szene.

Eine höchst umstrittene Persönlichkeit

München, 1947. Erlauchter geht es kaum als bei dieser Pressekonferenz. Der neue Stiftungsrat der Bayreuther Festspiele präsentiert sich der Öffentlichkeit: Ehrenpräsident Thomas Mann nebst einem Komitee von Beratern, zu dem Arnold Schönberg, Paul Hindemith, Karl Amadeus Hartmann und Arthur Honegger gehören… Nicht nur das Foto ist fiktiv, auch das Treffen. Den Entwurf zu so einer Stiftung aber gab es wirklich, er wurde bestellt vom Bürgermeister Bayreuths, und er stammt vom ersten Enkel Wagners. Der hieß Franz Wilhelm Beidler und war der Sohn jener Isolde, die Cosima auch nach Richards Tod nie als sein Kind legitimierte. Isolde heirate später einen Dirigenten, der sogar in Bayreuth Ring und Parsifal leiten durfte. Doch als er von Cosima mehr forderte, warf sie ihn hinaus – und damit war Franz Beidlers Karriere vorbei. Er wurde Kaufmann. Sein Sohn Franz Wilhelm, Jurist, Musikwissenschaftler und Philosoph, floh aus Hitlers Deutschland in die Schweiz: »National unzuverlässig, marxistisch verseucht und jüdisch versippt, wie ich nun einmal bin und natürlich auch bleibe, habe ich in der lieben Heimat nichts mehr zu suchen.« Aus dem ersten Versuch, die Festspiele dem vordemokratischen Blutrecht der Wagners zu entwinden, konnte schon deswegen nichts werden, weil gegen Winifreds Willen die Überführung des Privatvermögens in eine Stiftung nicht möglich war. 1973 sind die Festspiele dann doch in eine Stiftung umgewandelt worden. Thomas Mann übrigens sollte 1953 immerhin zu einem Vortrag nach Bayreuth eingeladen werden. Die Mäzene verhinderten das: Der Literaturnobelpreisträger sei »eine höchst umstrittene Persönlichkeit«. Stattdessen bestellten die »Freunde von Bayreuth« eine Wagnerbüste bei Hitlers Hofbildhauer Arno Breker.

Wieland putzt die Scheibe

Wieland und Wolfgang machen Baupause bei der Gründung von Neu-Bayreuth. Sie sitzen vor Wahnfried, das wieder aufgebaut wird, auch im unzerstörten Festspielhaus gelingt der Neuanfang. »Im Interesse einer reibungslosen Durchführung der Festspiele bitten wir von Gesprächen und Debatten politischer Art auf dem Festspielhügel freundlichst absehen zu wollen. ›Hier gilt’s der Kunst‹«. schreiben sie 1951 bei den ersten Festspielen nach dem Krieg ins Programmheft. Schon als Knaben waren die beiden Rivalen mit unterschiedlichen Talenten hervorgetreten. Während Wolfgang gegen Entgelt mit einem Leiterwagen Gäste zum Grab Richard Wagners karrte, übte sich Wieland als Maler und fotografierte – auch Onkel Wolf. Indessen gelten die Brüder nach 1945, anders als ihre Mutter, politisch als hinreichend unbelastet, um Bayreuth neu zu starten. Macher Wolfgang und Künstler Wieland ergänzen sich gut. Der eine setzt sein Bayreuther Schulkameraden-Imperium für die Festspiele ein und beschafft Geld, der andere entrümpelt die Bühne und erfindet für den Ring jene Weltenscheibe, die zum Inbegriff einer neuen, abstrahierenden Ästhetik wird. Auch Wolfgang inszeniert, und bis 1960 hat jeder der beiden fast alle großen Wagnerwerke einmal auf die Bühne gebracht. Dabei kopiert der Jüngere den Älteren, ein Schatten, vor dem Wieland zunehmend häufig an andere Bühnen floh, zumindest sieht seine Tochter Nike das so. Wieland stirbt 1966 an Lungenkrebs. Wolfgang wird alleiniger Leiter der Festspiele und bleibt es bis heute.

Wummi Weltmann

Bayreuth, 1976. Der dominante Typ im weißen Dinnerjackett, der nach Weltmann mit einem Hauch Halbwelt aussieht und rauchend seine Gäste übers Festspielareal führt, als seien sie zu Besuch auf seiner Jacht, ist Wummi. So lautet bis heute der Spitzname des zweiten Urenkels von Richard, Wolf-Siegfried, 1943 geboren. Er gilt als der Lebemann des Clans. Wie eigentlich alle Wagnernachkommen wollte auch Wummi mal Hügelchef werden, setzt sich aber ab nach Mallorca, reüssiert seither als Bauunternehmer und hält Hof in großem Stil. Letzteren bewies er schon bei seinem ersten Skandal. Weil er als 22-Jähriger das Auto eines Freundes kaputt gefahren hatte und Geld brauchte, entnahm er der Rumpelkammer von Wahnfried ein kleines Bild und ließ es in München versteigern. Es handelte sich um ein Liszt-Porträt von Ingres, gewidmet Cosimas Mutter, der Gräfin d’Agoult. Wummis Großmutter Winifred tobte und ließ das Bild für 36000 Mark zurückersteigern. Auch bei der Partnerwahl greift Wolf-Siegfried eher hoch und nimmt zur zweiten Ehefrau die große Blonde, die auf dem Foto von 1976 noch mit dem schmächtigen Mann ganz rechts verheiratet ist. Zugeknöpft und distanziert, scheint er hinter seiner Sonnenbrille zu ahnen, dass Eleonore Gräfin Lehndorff, Tochter des Hitler-Attentäters Heinrich Graf von Lehndorff, genannt Nona, bereits der genuin Wagnerschen Vereinnahmungskraft des Gastgebers zu erliegen beginnt.

Toby versaut die weiße Jacke

1994, am Buchstand vorm Festspielhaus. »Doch, wir haben das Buch«, sagt die Verkäuferin und greift unter den Tresen, »aber machen Sie’s nicht so offensichtlich, der Wolfgang Wagner hat das nicht so gern.« Soeben ist das Buch seiner Schwester Friedelind erschienen, Nacht über Bayreuth, geschrieben 50 Jahre zuvor in New York. Friedelind ist die Querulantin unter den Siegfriedskindern, sie ist 1940 emigriert, gegen die Drohung ihrer Mutter, die sie zum Dableiben zwingen wollte: »Wenn du nicht hören willst, wird der Befehl erteilt, daß du vertilgt und ausgerottet wirst!« In ihrem Buch hat Friedelind dann ausgepackt über das braune Bayreuth und an Grotesken nicht gespart wie etwa der Begegnung zwischen Friedelinds Schäferhund und dem prominentesten Festspielgast. »Jedesmal, wenn der Führer gestikulierte, glaubte Toby, es sei eine Aufforderung, an seinem Freund hochzuspringen, und Hitlers weiße Jacke wurde ruiniert…« Auch Wolfgangs Sohn hat eine Abrechnung mit den dunklen Seiten der Familie in Buchform gebracht: Wer nicht mit dem Wolf heult . Das liest sich aber ungleich steiniger als Friedelinds Buch. Am schönsten ist der Satz, den Gottfried in den frühen 1970ern seinem Vater entgegengeschleudert haben will: »Es wäre wohl Zeit, dass du endlich an einer Demo teilnimmst, statt dich als Dessertlieferant einer internationalen inhumanen Bourgeoisie anzudienen.« Während Friedelind (laut ihrer Herausgeberin Eva Weissweiler) nur der Festspielparkplatz gestrichen wird, trifft es Gottfried härter: Entzug der Festspielkarten.

Die falsche Kandidatin

2001. In allen Zeitungen werden Fotos von Eva gedruckt. Eva ist Wolfgangs Tochter aus erster Ehe, sie soll nach einem Beschluss des Stiftungsrats die Bayreuther Festspiele übernehmen. Drei Kandidatinnen standen zur Auswahl: Wolfgangs Ehefrau Gudrun, die scharfzüngige Nike, die ihren Onkel einen »Striese seines Ahnen« nannte und vieles am Grünen Hügel ändern wollte, und die gemäßigtere Eva, Wolfgangs Tochter aus erster Ehe. Einst war sie Papakind und Mädchen für alles am Grünen Hügel, bis Wolfgang sich scheiden ließ, Eva zu ihrer Mutter hielt und der Vater die Tochter verstieß. Eva wird aber nicht Festspielchefin, denn ihr Vater ist nicht bereit, zu ihren Gunsten zurückzutreten. Er pocht auf seinen lebenslänglichen Vertrag. Der Stiftungsrat gibt klein bei.

Nietzsche spricht ein Schlusswort

Tribschen, 1869. Friedrich Nietzsche hilft beim Einrichten eines Puppentheaters für Richards Kinder. Der junge Philosoph sieht in dem Komponisten »die leibhaftige Illustration dessen, was Schopenhauer ein Genie nennt«. Das Genie lässt sich die Bewunderung gern gefallen, und da der Gast sich zudem rettungslos in Cosima verliebt, ist er zu allem bereit und erledigt neben seiner Professur in Basel auch Einkäufe für das hohe Paar. Später wird Nietzsche zum geistvollsten und radikalsten Kritiker Wagners. Bayreuth stößt ihn ab: »Mir graut vor jedem dieser langen Kunst-Abende.« Für Wagners Leben findet er Worte, die auf die ganze Dynastie bis heute passen: Es sei »eine groteske Komödie«.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 16.04.2008