Kategorie-Archiv: Essay

Die Lücke als Portal

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Die verschollene „Markus-Passion“ lädt ein zum Besuch in Bachs Werkstatt

Fangen wir doch mal ganz unpassend an, mit Erotik. „Schlafe, mein Liebster, und pflege der Ruh, / Folge der Lockung entbrannter Gedanken. / Schmecke die Lust / Der lüsternen Brust / Und erkenne keine Schranken.“ Keine hohe Poesie, aber entfesselt genug für das Jahr 1733 und zugleich moralisch gut abgepuffert – es ist die Allegorie der Wollust, die da singt und den Wettstreit gegen die Allegorie der Tugend natürlich verliert. Hercules auf dem Scheidewege, so der Titel der Kantate von Johann Sebastian Bach, entscheidet sich umgehend: „Geliebte Tugend, du allein / Sollst meine Leiterin / Beständig sein.“

Mit der Markus-Passion, zwei Jahre zuvor entstanden, hat diese Arie nichts zu tun. Um so mehr aber das Verfahren, mit dem Bach sie in ein anderes seiner Werke einbaut. 1734, als der Thomaskantor neue Kantaten für die Weihnachtszeit braucht, plündert er seinen Hercules. Gleich sechs Stücke daraus wandern ins Weihnachtsoratorium. Die „Wollust“ wird dabei um eine kleine Terz tiefergelegt und zur Anbeterin des Kindleins in der Krippe: „Schlafe, mein Liebster, genieße der Ruh,  / Wache nach diesem vor aller Gedeihen! / Labe die Brust, / Empfinde die Lust, / Wo wir unser Herz erfreuen!“

Wie im neuen Kontext aus einer erotischen Fantasie ein Stück für die Kirche wird, ist das markanteste Beispiel für eine Praxis, die zu Bachs Zeiten Komponisten-Alltag war und später „Parodie“ genannt wurde (das altgriechische „parodia“ bedeutet „Gegenlied“). Man recycelte ganz selbstverständlich eigene Werke ebenso wie die von Kollegen – ohne Plagiatsprozesse und Amtsenthebungen befürchten zu müssen. Zum einen unter Lieferdruck, zum anderen, weil viele Stücke das Potenzial hatten, im neuen Rahmen stärkere Wirkung und ein größeres Publikum zu erreichen. Versmaß und Silbenzahl mussten passen – und natürlich der Affekt.

Die Markus-Passion ist in mehrfacher Hinsicht ein Extremfall des Parodierens. Ihre Musik existiert nur als Schatten jener Stücke, aus denen Bach sie zusammengefügt haben könnte. Nur die von ihm dafür vertonten Texte sind erhalten. Von der „Paßions=Music nach dem Evangelisten Marco am Char=Freytage 1731“ wissen wir überhaupt erst, weil der 1700 geborene Oberpostsekretär und Dichter Christian Friedrich Henrici alias Picander seine eigenen Verse samt Evangelienbericht und Choraltexten in einer Sammlung seiner Werke drucken ließ. Vom Aufführungsmaterial, von der Partitur fehlt indessen jede Spur. Mag sein, dass sie nach Johann Sebastian Bachs Tod an seinen ältesten Sohn Wilhelm Friedemann ging, der des öfteren Grund hatte, kostbare Autographe „in Geld zu versetzen“.

Aber schon 1873 fiel es Ludwig Rust – dem Herausgeber der ersten Bach-Gesamtausgabe – auf, dass der erste und letzte Chor und drei Arien der verschollenen Passion ihren Worten nach zu Stücken aus Bachs Trauerode passten, einer Kantate zum Tod der sächsischen Kurfürstin im Jahr 1727. Der Komponist hat dieses Werk möglicherweise so gründlich ausgeschlachtet wie später seinen Hercules für das Weihnachtsoratorium. Rusts Kollegen im 20. Jahrhundert suchten weiter. Spannend, wie etwa Friedrich Smend für den krass dissonanten Start einer Kantate von 1714 in der Passionsarie „Falsche Welt“ einen Text fand, der noch besser passt als der ursprüngliche. Christoph Wolff vermutete in seiner Bach-Monographie (2000) sogar, Textdichter Picander habe sein Markus-Libretto von vornherein auf solche Modelle zugeschnitten.

Inzwischen gilt es „als ausgemacht“, so der Musikhistoriker Sven Hiemke, dass Bach „größtenteils früher entstandene Sätze für den Passionstext eingerichtet hat“. Für die sechzehn Choräle wurde man in einer Sammlung fündig, die Carl Philipp Emanuel Bach ab 1784 publiziert hatte – bekannte, aber auch unbekannte Choralsätze seines Vaters, jeweils ohne Text. Doch so belastbar viele der Funde auch sind – die Erforschung der Markus-Passion bleibt ein Indizienprozess auf Basis von Beweisanzeichen. Der „Täter“ Bach hat immerhin einen Fingerabdruck hinterlassen. In einen weiteren, revidierten Textdruck des Werks, der 2009 in Sankt Petersburg auftauchte, trug er selbst den Ort „Thomae“ und das Jahr der Wiederaufführung „1744“ mit brauner Tinte ein.

Wenn alle Texte der Arien, Chöre und Choräle mit schon vorliegenden, passenden Kompositionen versehen werden, bleiben immer noch die Worte für 32 Rezitative und zwölf Turba-Chöre (sozusagen Treibsätze der „action“) stumm. Das hinderte Musiker und Wissenschaftler allerdings nicht daran, zwischen 1964 und heute mindestens 25 Fassungen zu konzipieren. Mal wurden Textpassagen nur gelesen, mal Rezitative aus der Matthäus-Passion übernommen, mal (wie von Ton Koopman) in Bachs Stil nachkomponiert, mal in gegenwärtige Klangsprache gesetzt wie von Volker Bräutigam. Mitunter gab es sogar „Rekonstruktionen“ mit ganz neuen Texten, etwa von Walter Jens oder Christian Lehnert, der sich mit dem Leipziger Komponisten Steffen Schleiermacher für Nach Markus. Passion (2016) zusammentat.

All die Ermittlungen, Rekonstruktionsversuche und Aufführungen entwickelten schon früh eine Eigendynamik, neben der kaum je die Frage gestellt wird, warum in aller Welt man sich solche Mühe mit einem Werk gibt, von dem keine einzige authentische Note zu haben ist. Brauchen wir noch eine Passion von Bach neben den zwei Fassungen der Matthäus-Passion und den dreien der Johannes-Passion? Wer hätte es je als unerträglichen Verlust empfunden, dass auch zwei Drittel von Bachs Kirchenkantaten fehlen, wenn schon die erhaltenen rund 180 Kantaten nur von wenigen Experten überblickt werden? Könnte man sich nicht auch, nur so als Vorschlag, um die 1418 Kantaten kümmern, die Bachs überaus spannender Zeitgenosse Christoph Graupner schrieb?

Man tut Graupner und anderen starken Köpfen seiner Zeit nicht Unrecht, wenn man feststellt, dass kein Komponist des 18. Jahrhunderts solche Veränderungen im Konzertleben, Komponieren, Forschen, Edieren bis heute bewirkte, wie Bach, durch den bereits Mozart auf neue Bahnen geriet. Was die Wiederentdeckung seines Œuvres in Bewegung brachte, ist nicht zu ermessen. Dem stehen umgekehrt proportional die vielen Fragen zum Leben Bachs und seiner Persönlichkeit, also seine „Unerreichbarkeit“ gegenüber – von Bachs großem Kollegen Claudio Monteverdi etwa, hundert Jahre früher, sind weitaus mehr Briefe erhalten. Bach scheint für uns spätestens als Thomaskantor in seinem Werk zu verschwinden, während er doch unablässig probte, spielte, unterrichtete und es in seiner Wohnung, so der Sohn Carl Philipp Emanuel Bach, „wie in einem Taubenschlag“ zuging.

Neben der Allgegenwart seiner Musik scheint sich Bach als reale Gestalt zu entziehen. Es gibt in seinem Œuvre eine Werkgestalt, die diese „Abwesenheit“ gleichsam spiegelt – und das ist die Markus-Passion. Diese gewaltige Leerstelle, durch die erhaltenen Texte in ihren Umrissen beschrieben, ist zugleich ein Portal, durch das man in Bachs Werkstatt eintreten und mit ihm zusammen arbeiten kann. Zur ersten Einspielung seiner Rekonstruktion der Markus-Passion schrieb Ton Koopman 1999, er habe sich „vorgestellt, ein Schüler Bachs zu sein, dem der Meister (…) folgenden Auftrag gibt: ,Hier ist ein Textbuch, vertone es und verwende dazu so viel wie möglich von den Werken, die ich bis heute (1731) geschrieben habe. Was du nicht finden kannst, das komponiere selbst.‘“

Sven Hiemke ergänzt mit feiner Ironie: „Und vermeide dabei alle Parodievorlagen, die bis zu deiner Fassung verwendet worden sind.“ Das nämlich tut Ton Koopmann. Er folgt keiner der Zuschreibungen, die seit der Fassung von Dietrich Hellmann (1962) als „gesichert“ galten und zur Basis der meisten weiteren Versuche wurden. Durchweg einig sind sich dabei auch Koopmans Kollegen keineswegs. Eine Komposition kann verschiedenen Texten dienen und umgekehrt verschiedene Tonsätze einem Text.

Mit der Auswahl der geeigneten Stücke ist es längst nicht getan. Schauen wir uns noch mal die Arie der Wollust auf ihrem Weg zur Krippe in Betlehem an: Sie wird nicht nur von B-Dur nach G-Dur verlegt, vom Sopran zum Alt. Zu den Streichern im Orchester kommen auch gleich noch fünf Holzbläser. Dazu die Architektur des Ganzen, der dramaturgische Zusammenhang, die Proportionen, die umgebenden Tonarten. Es ist ein komplexer kreativer Prozess, kein „Copy and Paste“, dessentwegen die Arie im Weihnachtsoratorium unser Herz berührt – zusammen mit der unmittelbaren Sinnlichkeit, die sie von ihrem Ursprung mitgebracht hat. In der h-Moll-Messe, dem großen Recycling-Wunder, wird mitunter sogar die Harmonik der übernommenen Stücke verändert.

Da sieht man schon, dass Bachs posthumen „Schülern“ in seiner Werkstatt der Schweiß auf die Stirn treten kann. Selbst wenn man sicher wüsste, welche Vorlagen er für seine Markus-Passion verwendete, wäre jede Rekonstruktion immer noch nicht mehr als eine Annäherung, letztlich die Fiktion einer Rekonstruktion. Aber man sollte es nicht übertreiben mit der „Authentizität“ – sonst dürften die Passionen nicht mal außerhalb des Gottesdienstes gespielt werden! Jede Zeit hat ihren Weg zu Bach. Und er ist es ja weitgehend, dem man in unserem Programm begegnet. Man erlebt seine Musik dabei mit anderen Ohren als sonst, neugierig in jedem Sinne. Wir entdecken Stücke, die sonst nicht oft zu hören sind, und erleben Vertrautes anders – etwa das „Agnus dei“ aus der h-Moll-Messe. Bach entnahm es dem Himmelfahrtsoratorium von 1738, und Ton Koopman benutzt in „seiner“ Markus-Passion dieselbe Quelle für einen der beiden neuen Arientexte von 1744: „Will ich doch gar gerne schweigen…“

Am weitesten greift er zurück für den „Creutzige“-Chor der Markus-Passion. Etwa 1707 entstand wohl in Mühlhausen Bachs geniales Frühwerk Christ lag in Todes Banden, eine Choralkantate für den Ostersonntag, mit einem synkopischen, fugierten „Halleluja“, dessen Schlussrepetitionen etwas leer rotieren. Im neuen, dramatischen Zusammenhang der Passion kann man diese Repetitionen wie einen Vorklang des brutalen Nagelns hören – das ist schon kongenial! Wem das noch nicht genug ist, der genieße den Blick auf den Planeten der unerreichbaren Werke, der sich hier öffnet, auf all die verschwundenen, verschollenen, die vernichteten wie auch die fiktiven Stücke, Bilder, Bücher … oder halte es mit Ton Koopman, der seine Rekonstruktion schon im Jahr 2000 so resümierte: „Es ist einfach ein Abend mit guter Musik.“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erscheint geringfügig kürzer im Programmheft  für das Konzert in der Philharmonie Köln am 18.4.2025. Illustration: Claude Monet, Sonnenuntergang bei Etretat, 1883 (Wikimedia Commons, wo es fälschlich “Sonnenaufgang” heißt). 

Zurück in die Zukunft

Wie kommen Komponisten mit älterer Musik auf neue Wege, wieviel Tradition steckt in der Zukunft? Acht Werkstattbesuche durch vier Jahrhunderte

Steve Reich erzählte vor ein paar Jahren, wie es war, als er in Manhattan ein Wagnerzitat in seine Musik einbaute, in seine Video Opera Three Tales. Sie beginnt mit einem Stück über die Hindenburg, den großen Zeppelin des “Dritten Reichs”. Zu dokumentarischen Filmaufnahmen vom Bau des Flugkörpers hört man da einen vertrauten Rhythmus in Reichs Musik – das Ambossgehämmer aus der Schmiede in Richard Wagners Rheingold. „Als ich anfing, daran zu arbeiten, war mir, als hörte ich ein Lachen…“, meinte Reich, „Sie wissen, wen ich meine!“ Er habe Wagner gebeten, Platz zu nehmen. „Have a seat!“ Mit dem Zitat stellte er eine Verbindung zwischen dem Vorzeige-Luftschiff und dem Wagnerismus der Nationalsozialisten her, subtil und genial.

Dass Steve Reich, der gern eine Baseballmütze als Kippa trägt, ausgerechnet Richard Wagner einen Platz anbietet, während er ihn zitiert, führt uns mitten ins Thema: Wie gehen Komponisten mit älterer Musik um, von konkreten Zitaten bis zu tradierten Formen? Welche Wege führen durch den gigantischen Fundus der Musikgeschichte „zurück in die Zukunft“, in unsere Gegenwart – und umgekehrt? Mit Musik aus früherer Zeit befassen sich Komponisten, seit es ihr Metier überhaupt gibt. Grundsätzlich gibt es sowieso keine neue Kunst, in der nicht auch ältere Kunst wäre. Aber es sind am ehesten die Musiker, Komponisten wie Interpreten, die das im Blick haben. Geigenbau, Geigenspiel, Umgang mit Stimmen, mit Formen – das Handwerk verbindet Epochen.

Der Blick in die Vergangenheit, der Rückgriff auf Älteres bekommt bei Musikern schnell etwas Nachbarschaftliches, Kollegiales, selbst gegenüber den nicht wenigen Größen, mit denen man eher nicht Urlaub machen würde. Reichs „Have a seat!“ zu Wagner sagt eine Menge. Schon wer überhaupt für Instrumente und Stimmen schreibt, wie immer noch die meisten, sitzt in der Werkstatt neben Claudio Monteverdi. Und wer heute ein Klavierkonzert schreibt wie Dieter Ammann, 1962 in Aarau in der Schweiz geboren, schließt an ein Repertoire aus gut 300 Jahren an, Bachs Cembalokonzerte mitgerechnet.

Warum einer bei Youtube nach Toccaten sucht

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Der Titel The Piano Concerto stellt ironische Distanz zur Größe des Repertoires her, aber „ich habe schon ein wenig kokettiert mit den Gedanken, dass ich in diesem Genre einen Beitrag abliefern kann, der ein Repertoirestück werden kann“, sagt Ammann im Zoomgespräch. Tatsächlich ist das für Andreas Haefliger entstandene, 2019 uraufgeführte Werk auf dem besten Weg dazu. Mit dem bestimmten Artikel – „das“ Klavierkonzert – unterstreicht Dieter Amman auch, dass er jeweils nur einmal für eine bestimmte solistische Besetzung schreibt. Mit dem Titelzusatz Gran Toccata geht es schon eher in die historische Werkstatt, nicht zu den frühesten, vorbarocken Exempeln dieser offenen Form, sondern zu Klaviertoccaten um 1900. „Ich habe monatelang auf Youtube alles gehört, was ich reinkriegen konnte – Wahnsinn, was es da gibt! – und zehn A3-Seiten mit möglichen Texturen vollgeschrieben. Wie würde diese und jene Figur in meiner Klangsprache klingen?“ Und dann ist ihm auf einer Fahrt nach Luzern die Mappe mit all diesen Skizzen im Zug geklaut worden. „Ich war so am Boden, dass ich dachte, jetzt beginne ich gar nicht mehr. Aber ich glaube, vieles ist durch das Spielen und Skizzieren doch irgendwo hängengeblieben.“

Das passt eigentlich gut zu Dieter Ammanns Umgang mit vorhandener Musik. „Es sind nicht Zitate, womit ich arbeite, mehr Allusionen. Wenn ich eine Bewegung ankurbele, die mich an Ligeti erinnert, lasse ich das absolut zu. Bartók und Strawinsky waren für mich im Rhythmischen sehr wichtig, vom Harmonischen her habe ich mir in den letzten 15 Jahren die Spektralharmonik erarbeitet. Wenn mich etwas innerlich anregt, ist es eine Hörverwandschaft. Sozusagen etwas, das mich an mich erinnert!“ Er lacht. Seine Musik klingt nie verkopft, sie springt einen an. „Ich will ja nicht Strukturen zu hören geben, es soll lebendige Musik sein! Ich möchte die Leute nicht langweilen.“ In dieser Haltung und Offenheit ist Dieter Ammann vom frühen Musikmachen mit Vater und Bruder geprägt, vom Improvisieren mit Vorhandenem. „Das konnte mit Mozarts Sonata facile beginnen und driftete dann vielleicht in ein Volkslied… Alles, was eine ähnliche Klangsprache hatte, wurde miteinander verbunden, aus dem Stegreif.“

Rekordhalter unter den Influencern: J.S. Bach

Wie Ammann sind viele Musiker schon als Kinder mit Musik aufgewachsen, spielend in jedem Sinne. Da gehören die „toten“ Komponisten zur Familie und nicht in die Musikgeschichte. Nirgends ist das so ergreifend festgehalten wie im letzten Streichquartett von Felix Mendelssohn Bartholdy, geschrieben 1847 drei Monate nach dem Tod der geliebten Schwester Fanny. Es beginnt in rasender Trauer, aber irgendwann beruhigt es sich. Etwas seltsam Vertrautes schimmert durch Modulationen, bis man aus f-Moll nach D-Dur geraten ist und es kurz erkennen kann: das Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier I in eben dieser Tonart. Ein Zitat aus den Klavierkindertagen der hochbegabten Geschwister!

Es ist einer der bestversteckten Bezüge auf Bach, von denen es bei Komponisten von Mozart bis heute nur so wimmelt. Es gibt kaum eine und einen, der Johann Sebastian Bach nicht bewundert (fast erleichternd, dass es durchaus einen gibt, nämlich Hector Berlioz!). Im Lexikon Musik über Musik (Bärenreiter 2004) hat Klaus Schneider die Stücke zusammengetragen, in denen Komponisten ausdrücklich Bezug nahmen auf Themen, Werke, Stile ihrer Kollegen, auf die Kollegen selbst. Bach ist dabei der unanfechtbare Rekordhalter, und da sind Subtilitäten wie die aus Mendelssohns Quartett noch gar nicht drin. Von 311 Seiten zu „Musik über Komponisten“ gelten 30 Seiten Bach, 17 Mozart, Beethoven 9 – und allein für Bearbeitungen der d-Moll-Chaconne BWV 1006 könnte man ein eigenes Kapitel aufmachen.

Was Mozart aus vier Takten von W. F. Bach macht

Aber es gibt ja nicht nur den einen Bach. „Ich mach mir eben eine Collection von den Bachischen fugen“, schrieb Wolfgang Amadeus Mozart am 10. April 1782 in Wien seinem Vater, „so wohl sebastian als Emanuel und friedemann Bach.“ Der mit ihm befreundete Hofbibliothekar Gottfried van Swieten hatte aus Berlin viele Manuskripte und Abschriften mitgebracht, die Mozart begeisterten. Von Wilhelm Friedemann Bach, 1710 geboren, sah er sich auch eine kleine Sinfonia durch, zwei Sätze, Adagio und Fuge, für Streicher, Basso continuo und zwei Flöten, d-Moll. Kennt kein Mensch, grob gesagt, aber vier Takte daraus sind weltberühmt. Nämlich die, die Mozart aus dem Adagio übernahm, als er sich im Oktober 1791 an den Auftrag für ein Requiem setzte.

Nachdem bei Friedemann zwei Flöten melancholisch in d-Moll duettiert haben, wechseln sie nach F-Dur, reizvolle Sekundreibungen bildend, darunter setzt sich der Bass in Bewegung. Und exakt so, in Tonart, Taktart, Vorhalten und Notenwerten lässt Mozart im Requiem sein „Recordare Jesu pie“ beginnen. Mozart hat in diesen paar Takten, deren Spannung F.W. Bach zeitgemäß mit einem galanten Schlenker auflöst, das Potential entdeckt, die Zukunft. Die Flöten werden durch moderne Bassetthörner ersetzt. Dann ändert er ein Intervall in der Bläserlinie so, dass mehr Spannung entsteht. Und der Bassrhythmus wird nicht wiederholt, sondern verwandelt. Da sind wir dann schon in einer anderen Welt. Aber wie Mozart dorthin kommt, dieser Schritt ins Neue ist selten derart konkret zu erleben.

Höllenflammen in Bruckners „Siebter“

Natürlich ist auch Mozarts Requiem seinerseits kreativ rezipiert worden. Wenn auch nicht so, dass man aufs erste Hören „Aha!“ rufen könnte. Am Beginn des Scherzos von Anton Bruckners Siebter Sinfonie kann man aber hellhörig werden. Mozarts „Confutatis, maledictis“ beginnt mit einen wütend wiederholten Streichermotiv in a-Moll, in derselben Tonart wie Bruckners Scherzo, mit demselben rhythmischen Kopf – zwei schnelle kurze Noten, eine lange, dieselben Töne a, h, c, rauf und runter, bei Bruckner nur verkürzt. Er bewunderte Mozarts Requiem und musste nicht, wie wohl die meisten von uns, nachlesen, dass es im „Confutatis“ um die Flammen der Hölle geht.

Bruckner brach Ende 1881 die Arbeit am Kopfsatz der Siebten ab, um dieses Scherzo zu schreiben, das überhaupt nicht lustig ist. Warum? Am 8. Dezember war neben dem Haus, in dem Bruckner wohnte, das Ringtheater niedergebrannt, wohl mehr als tausend Menschen starben. Der Komponist schrieb: „Das unaussprechliche Elend der Vielen geht bis ins innerste Mark!“ Die Vermutung liegt nahe, dass er sich mit dem Flammenmotiv an Mozarts rettende Seite begab.

Von „Don Giovanni“ verführt: Manfred Trojahn

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Mozart als Anreger führt uns wieder zu einem Komponisten unserer Tage. Manfred Trojahns Trame lunari für Viola, Klavier und Kammerorchester erleben beim kommenden Musikfest in der Elbphilharmonie ihre Uraufführung, in Gesellschaft Mozarts, dem Trojahn sozusagen seinen Beruf verdankt. 1949 geboren, wuchs er in Braunschweig fern der Klassik auf. „Als ich zehn war, gab´s einen Moment, als ich mit meiner Oma im Gartenhaus war. Da lief im Radio Don Giovanni. Am nächsten Tag habe ich meiner Oma gesagt, was dieser Mozart macht, das will ich auch machen. Damit begann die Katastrophe“, erzählt der 75-Jährige. Es war dem Jungen so ernst mit dem Komponieren, dass er kaum noch etwas für die Schule tat, gleichsam aus Protest gegen seine Hilflosigkeit. „Kein Mensch konnte mir sagen, was eine Partitur ist. Dann fand ich in der Bibliothek diese Dinger mit den vielen Zeilen. Aha, so geht das also, da muss man sowas untereinander schreiben…“

Für ein Klavier fehlten den Eltern Geld und Platz, über das Akkordeon kam Trojahn weiter, und es ist wirklich atemberaubend, wie er unter schwierigsten Bedingungen seinen Weg machte. Selbst als international gespielter Opernkomponist sieht er sich bis heute vom Don Giovanni herausgefordert, davon, „dass ich das nicht machen kann, was Mozart macht. Der baut mit einem Rezitativ szenisch alles hin, dann führt die Arie in eine völlig andere Welt, und doch genau in die Welt der Figuren. Das Handelnde und das Reflektive sind deutlich getrennt – und deutlich zusammengehörig. Man muss heute eine andere Verbindung finden, als es so nebeneinanderzustellen wie Mozart. Aber wie kriegt man das hin? Das beschäftigt mich brennend.“ Wer weiß, vielleicht bringt ihn die Arbeit am aktuellen Werk einer Antwort näher? Manfred Trojahn ist noch mittendrin, als wir telefonieren. Zu seinen Solisten, Viola und Klavier, kommen siebzehn Streicher und ein Bläserquintett. Ränke des Mondes, so die Übersetzung des von Giuseppe Ungaretti entlehnten Titels, „wird eine große Leichtigkeit kriegen, und gleichzeitig versuche ich höchstmögliche Expressivität.“

Denkmäler für Freunde: Pierre Boulez und György Kurtág

Expressivität wurde in Trojahns jungen Jahren von der tonangebenden Avantgarde noch als Regression geächtet. Umso interessanter, dass deren einflussreichster Kopf, Pierre Boulez, mit knapp 50 Jahren die eigene Progressivität unterläuft und eine Trauermusik schreibt, die wie ein neues Stonehenge in der Musiklandschaft steht, so archaisch wie zugänglich, mit metrischen Passagen, Repetitionen, Imitationen, auratischen Tamtamschlägen. Schon in den Bläserrufen des Anfangs lässt sich ein an Verzweiflung grenzendes Klagen vernehmen, dessen Anlass der vollständige Titel verkündet: Rituel in memoriam Bruno Maderna. Eine „Litanei für ein imaginäres Zeremoniell“ nennt Pierre Boulez im Vorwort zur Partitur seine Musik für den Freund und Kollegen Bruno Maderna, der 1973 mit erst 53 Jahren starb.

Mit ritualhaften Tamtams kommt auch ein Orchesterwerk daher, das seinerseits Pierre Boulez gewidmet ist und ebenfalls wie ein Memorial klingt, obwohl György Kurtág es dem um ein Jahr älteren Kollegen zum 90. Geburtstag schrieb. Seine Petite musique solenelle en hommage à Pierre Boulez 90 mutet wie das Bruderwerk des Rituel an. Wieder würdigt ein großer Kollege den anderen, und wieder scheint sich dabei ein Stilwandel zu ereignen. So romantisch wie hier hat György Kurtág zuvor nie geklungen. Sein erstes Werk für großes Orchester, Stele von 1994, ist bei weitem nicht so monumental wie diese halb so lange, sechsminütige Petite musique solenelle von 2015, in deren Titel auch Rossinis Petite messe solenelle anklingt, eine Sakralmusik also. Es mag Boulez eigentümlich berührt haben, so eine Art Nachruf zu Lebzeiten zu hören.

Alte Formen, neue Bahnen: Alban Bergs „Wozzeck“

Barocke Tanzsätze von Prélude bis Gigue, eine Passacaglia, eine Sinfonie in fünf Sätzen, Fugen mit zwei und drei Themen – so etwas soll in einer Oper stecken, die zu den bahnbrechendsten des 20. Jahrhunderts zählt? Ja, und noch viel mehr „Altes“, querbeet durch die Genres. Walzer, Polka, Wiegenlied, ein Rosenkavalier-Zitat, Anspielungen auf Beethovens Pastorale, eine Szene, die exakt „in der Besetzung von Arnold Schönbergs Kammersymphonie“ instrumentiert ist, wie Alban Berg in der Partitur anmerkt. Wer seine Oper Wozzeck nicht kennt, könnte nach solchen Hinweisen meinen, ihre Musik sei ein reichlich gelehrtes Sammelsurium.

Es ist aber ein atemberaubendes Werk in unverwechselbarer Musiksprache, dessen Konstruktion man nicht verstehen muss, um gepackt zu sein vom Drama des Soldaten Wozzeck, der zum Mörder und Selbstmörder wird. Was Alban Berg aus Georg Büchners Woyzeck von 1837 machte, wurde auch möglich durch das Formbewusstsein, das er als Schüler Arnold Schönbergs entwickelt hatte. Er griff für den drastischen, realistischen Stoff zurück auf unterschiedliche Formen, die er für Vielfalt, Strukturierung und Klarheit nutzte.

Da gibt es in einer Kneipe einen besoffenen Handwerker, der eine Predigt improvisiert, gesprochen über Musik. Dieses Melodram ist zugleich das wiederholte erste Trio einer versteckten Sinfonie aus fünf Sätzen, die den ganzen zweiten Akt zusammenhält. Wo es drunter und drüber geht, gelingt den Ohren, was Augen nie könnten: Wir sehen alles zugleich gestochen scharf, den Suff, den Tanz, die Eifersucht. Auch die Konstruktion, die Arbeit mit Formen, macht das Drama so zwingend. Wozzeck, am 14. Dezember 1925 in Berlin uraufgeführt, wurde sofort zum Erfolg. 1929 traute der Komponist seiner Oper schon eine Bühnenhaltbarkeit von 50 Jahren zu. Inzwischen wissen wir, wie zukunftshaltig sie tatsächlich ist. Und wie zeitlos beklemmend eine Passacaglia sein kann, die mit einer Zwölftonreihe einen armen Kerl in die Enge treibt…

 

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Magazin der Elbphilharmonie, April 2025, Thema “Zukunft”, dem Internationalen Musikfest entsprechend. Bei diesem sind viele der im Text vorkommenden Werke zu hören: Trojahns Trame Lunari am 6. Mai, Ammanns The Piano Concerto am 10. Mai, Mozarts Requiem am 19. Mai, Bergs Wozzeck am 23. und 25. Mai, Kurtágs Petite musique solenelle am 24. Mai, Boulez’ Rituel am 1. Juni und Bachs d-Moll-Chaconne am 3. Juni. Fotos: Dieter Ammann (Screenshot Zoomgespräch), Manfred Trojahn (Boosey & Hawkes). 

Maschinen, Wolken, Exotismen

Nicht nur Ravels “Boléro” hat es in sich: Farbenwunder französischer Orchestermusik von Camille Saint-Saëns bis Éric Montalbetti


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Jede Musik trägt auch die Zeit in sich, in der sie entstand. Meist wird das erst im Abstand von Jahrzehnten deutlich, wenn sich abzeichnet, was man „Epoche“ nennt. Aber selten setzt eine Veränderung, die Milliarden von Menschen zugleich betrifft, so jäh und unvorbereitet ein wie jene, die vor gut vier Jahren Corona bewirkte [dieser Text wurde zuerst 2024 publiziert]. Wir haben noch im Sinn, wie die Gegenwart still und fadenscheinig wurde, besonders in der Musik, und vielleicht könnte man schon jetzt den Werken, die da entstanden, Gemeinsamkeiten ablesen. Eine davon wäre das „Jetzt erst recht“ von Komponistinnen und Komponisten, indem sie für jene großen Orchester schrieben, die zum Verstummen gebracht wurden. Der 1968 geborene Éric Montalbetti, schon vorher mit einem Auftrag für das Orchestre Philharmonique de Radio France und das Gürzenich-Orchester Köln versehen, reagierte quantitativ wie qualitativ. In seiner Ouvertüre philharmonique machte er aus dem großen Orchester ein besonders großes, mit je vier Flöten, Klarinetten, Trompeten, sechs Hörnern, vier Perkussionisten für 16 Instrumente, das reinste Infektionsparadies.

Und er schrieb für diese 90 Musiker „ein weitaus positiveres Stück als das zuerst konzipierte“, wie er meint. „Nicht ohne Schwere beginnt es in einer Atmosphäre gemischter Gefühle und endet mit einem Hauch Nostalgie, aber freudiger und optimistischer.“ Tatsächlich erhebt sich schon überm bedrohlichen Pauken-Crescendo am Beginn funkelndes Glockenspiel, danach entfaltet das Orchester einen nie lastenden, sondern immer lebendigen Klang, eine Weite voller Details, die in einem langen Unisono-A ihren Horizont findet. Etwa 100 Takte lang ist dann alles im Fluss, reich an polyphonen Aktionen in wechselnden Instrumentengruppen. Dann erklingt, mit „Andantino“ bezeichnet, über einem Sechsachteltakt ein tänzerischer Rhythmus mit sehr vitalen Holzbläsern. Die Streicher schweigen derweil ganze 122 Takte lang, bis die Blechbläser ein choralhaftes Fundament legen. Mit dem Einsatz der Streicher ist die Coda erreicht, eine Auflösung ins Große, da müssen 38 Notensysteme auf eine Partiturseite passen. Monumental aber wird es nur andeutungsweise, und die letzten leisen Takte sind wie ein Lächeln: Flöte, Solovioline, Glockenton in höchster Höhe.

Paris liegt am Nil

Allzuoft geschieht es wohl nicht, dass ein Pianist mitten im Konzert, im Applaus zwischen zwei Stücken, ein Gedicht aus der Tasche zieht, ein selbstverfasstes, und es vorliest – so wie am 2. Juni 1896 in der Pariser Salle Pleyel. Er ist sechzig Jahre alt, stattliche Erscheinung, gepflegter grauweißer Vollbart, und erinnert sich an sein Debüt vor einem halben Jahrhundert. Camille Saint-Saëns war tatsächlich erst zehn Jahre alt, als er in diesem Saal mit Klavierkonzerten von Mozart und Beethoven seine Karriere begann. In paarweise gereimten Zeilen erzählt er an diesem Dienstag, fünfzig Jahre später, von seinem Abscheu vorm Applaus, Triumphen und Niederlagen. Zum Schluss bekennt er: „Die Finger sind jetzt schwer, die Leichtigkeit ist hin. Aber wer weiß…da ist noch Feuer im Kamin.“ Ziemlich kokett nach dem, was er gerade auf dem Flügel zum Besten gegeben hat, wie immer mit unbewegter Miene und Haltung, ein pianistisches Feuerwerk ohnegleichen, das Finale seines neuen, 5. Klavierkonzerts.

Nicht einfach fingerbrecherisch virtuos, sondern raffiniert mit dem Orchester verschränkt ist diese Musik. Mit einem Schwung, der der Carmen-Arena seines allzu früh gestorbenen Freundes Bizet entsprungen zu sein scheint und es Saint-Saëns erlaubt, das Hauptthema erst nach fast zwei Minuten aus dem Klavier springen zu lassen. Ein Thema, das die unterschiedlichsten Farben annimmt, durchs Orchester wandert, durch elegische Schatten, hinter denen rasende Klavierarpeggien glitzern. Erst dann wird der Virtuose wieder zum Treibenden, zum Getriebenen auch, bis der Komponist das Stück da in den Schluss reißt, wo andere noch zwanzig Takte weitergemacht hätten. Im Vergleich zu diesem Finale ist der erste Satz noch eine Horizonterkundung, eine Verheißung, der Erstaunliches folgt: formal ein langsamer Satz, in Wahrheit ein Abenteuer.

Die Pariser lieben Orientalismen spätestens seit Napoléons Beutezügen. Gerade erst ist die ägyptische Abteilung des Louvre renoviert worden, und seit die Briten Ägypten kontrollieren, ist das Land ein beliebtes Reiseziel. Saint-Saëns selbst hat den Winterurlaub in Luxor verbracht und dort sein Konzert geschrieben. Der 2. Satz, so der Komponist, ist „eine Art Orientreise, die in der Episode in Fis-Dur sogar bis zum Fernen Osten vordringt. Die Passage in G-Dur ist ein nubisches Liebeslied, das ich von Schiffern auf dem Nil singen gehört habe, als ich auf einer Dahabieh den Strom hinuntersegelte.“ Von einem Grillenzirpen in Sechzehnteln begleitet, ist dieses Thema erstaunlicherweise das abendländischste im ganzen Stück – erst in seiner seiner Fortsetzung findet man jene übermäßigen Sekunden, die als Signet für das „Orientalische“ sonst häufig eingesetzt werden, fast ein Gemeinplatz im 19. Jahrhundert. Bei Saint-Saëns entsteht eine Szenenfolge voller Klangfarbenexperimente, deren kühnstes, die erwähnte „Episode in Fis-Fur“, ganz aus der Spätromantik hinausführt: 40 Takte lang nur ein Ton im Klavierdiskant und ersten Geigen, das hohe Cis, in Achteln und Sechzehnteln, sehr leise, dazu spielt die linke Hand eine pentatonische Linie, die nirgends hinführt. Ein magischer Zustand, dem weitere folgen, wie der Gang durch eine Wunderkammer. So viel Fragment und Experiment hat Saint- Saëns sonst vielleicht nur im Karneval der Tiere riskiert.

Mysterium und Realität

Die „verabscheuungswürdigste Genremalerei“ ist das Saint-Saëns-Konzert jedenfalls nicht, die zur gleichen Zeit der 33-jährige Claude Debussy der sinfonischen Musik seiner Zeitgenossen vorwirft. Allerdings ist er tatsächlich dabei, die Moderne zu erfinden, als deren Morgenröte schon sein Prélude à l´après-midi d´un faune von 1894 gesehen werden kann. Im Jahr 1896 sitzt Debussy nicht nur an der Oper Pelléas et Mélisande, sondern auch an den Nocturnes, einem sinfonischen Triptychon, dessen Folgen für die weitere Entwicklung der Musik gar nicht überschätzt werden können. Für gewöhnlich ist allerdings das Gegenteil der Fall, da dieses Werk nicht oft gespielt wird. Seiner Präsenz in den Konzertsälen ist jener dritte Satz im Weg, der schon bei der ersten Aufführung am 9. Dezember 1900 in Paris entfiel: Sirènes verlangt einen Frauenchor, der zusätzlich Probenzeit braucht und ohne Text, aber unfassbar sauber singen muss. Mit diesen Stimmen über den sanften Meereswogen des Orchesters lässt uns Debussy die ungeheure erotische, aber todbringende Anziehungskraft ahnen, die laut griechischer Mythologie der Gesang der Sirenen, weiblicher Rätselwesen, auf die Seefahrer ausübte, die in Hörweite gerieten. Bekanntlich ließ Odysseus sich am Mast festbinden, um ihnen lauschen zu können, ohne gleich über Bord zu springen. Aber nicht erst dieses aparte Klangexperiment macht die Nocturnes so bahnbrechend. Wer auch nur die ersten beiden Takte des 1. Satzes Nuages hört, Wolken, diese zweistimmige Linie aus zwölf Vierteln, von Klarinetten und Fagotten gespielt, in einer so ungebunden wie archaisch anmutenden Harmonik, könnte meinen, Takte aus  Igor Strawinskys Le Sacre du printemps zu hören, jener Partitur, die Debussy 1912 gemeinsam mit dem jungen Kollegen am Klavier erprobte.

Dass Strawinsky und Maurice Ravel gleichermaßen von den Nocturnes beeindruckt waren – sie wurden schon 1910 auch in Russland aufgeführt – und sie „fortschrieben“, liegt an der Konsequenz, mit der sich Debussy besonders in Nuages von Erzählung, Entwicklung und Klangkonventionen verabschiedet und „impressions“ realisiert, wie er das im Programm der Uraufführung nannte, Eindrücke von Wolken. Es kommt einer Neuerfindung des Orchesters gleich, wie hier in nicht diatonischer Harmonik Farben entstehen und Linien gezeichnet werden, Umrissen ähnlicher als Melodien. Wie für alles Neue musste auch dafür ein Etikett her, und das übernahm man aus der Kunst: „Impressionismus“. Debussy war davon später zunehmend genervt. „Ich versuche, (….) Realitäten zu schaffen, was die Dummköpfe dann ,Impressionismus´ nennen, ein Ausdruck, der so unpassend wie möglich angewendet wird, vor allem von den Kunstkritikern, die nicht zögern, [William] Turner damit auszustaffieren, den wunderbarsten Schöpfer von Mysterien, die es in der Kunst gibt!“

So ein Mysterium sind auch die Nuages, denen die konkreteren Fêtes folgen, Feste. Auch hier gibt es kein Klischee, keine Anspielung oder gar Zitate von Volksweisen oder Tanzrhythmen. Es geht um Bewegung und eine neue Orchestersprache, die besonders da aufhorchen lässt, wo das Metrum vom raschen Dreiviertel zum „Modéré“ im Zweivierteltakt umschlägt, gleichsam ein Szenenwechsel. Leise Pauken-Achtel, darüber das Pizzicato der Celli, dann auch der höheren Streicher, gezupfte Akkorde, keine harmonische „Begleitung“, eher Teil der Perkussion, 40 Takte lang. Das ist die exakte Vorlage für die „action rituelle“ im zweiten Teil von Le Sacre du printemps, nur dass Strawinsky darüber keine Bläserfanfaren erklingen lässt, sondern ein einsames Englischhorn –  genau wie im 5. Takt der Nuages von Debussy. In den Fêtes führt eine Spur auch zum Boléro von Maurice Ravel: 20 Takte lang wiederholt bei Debussy die „Tambour“-Trommel exakt jenen Rhythmus, der die Keimzelle des Bolero bilden wird: Achtel plus Sechzehnteltriole, darüber ein auskomponiertes Crescendo. Freilich ist das nur die offenkundigste Spur neben so vielem anderen, wovon sich Ravel in den Nocturnes inspirieren lassen konnte. Die drei Sätze begeisterten ihn so, dass er 1909 ohne Auftrag eine Fassung für zwei Klaviere schuf.

Die Wundermaschine

Neunzehn Jahre später lässt Maurice Ravel sein bis heute berühmtestes Werk mit der erwähnten „Tambour“-Trommel beginnen, die Achtel und Sechzehnteltriolen spielt. Doch nie klang eine Militärtrommel unmilitärischer. Und das, obwohl sie unerbittlich, unbeirrbar, ja geradezu unmusikalisch bis zum Ende immer die selben zwei Takte wiederholt. „Dam, dadada dam, dadada dam dam / dam, dadada dam, dadada dadada dadada…“. Wie eine Maschine. Maurice Ravel hat seinen Boléro ein „Orchestergewebe ohne Musik“ genannt, „ein Experiment in eine ganz besondere und begrenzte Richtung“. Es gebe darin, schreibt er 1931, drei Jahre nach der Uraufführung als Ballettmusik, „keine Kontraste und praktisch keine Einfälle außer der Gesamtanlage und der Art der Realisierung. Im Großen und Ganzen sind die Themen unpersönlich – Volksmelodien des gewöhnlichen ibero-arabischen Typs…“

Wie später John Cage scheint sich Ravel hier als Autor zurückziehen zu wollen – nur dass er das Material nicht dem Zufall überlässt, sondern einer Maschine, die er selbst entworfen hat, mitsamt der von ihr zu produzierenden Muster. Ravel liebte Maschinen, „diese großen Monster, die der Mensch schuf, um seine Wünsche erfüllen zu lassen“, wie er in einem Text über Klänge und Fabriken schrieb. Er sammelte Uhren und mechanische Spielzeuge; sein Bruder Édouard erinnert sich 1940: „Mein Bruder bewunderte alles Mechanische, von einfachen Blechspielzeugen bis zu den kompliziertesten Geräten (…) Er ging gern mit mir in Fabriken oder zu Maschinenausstellungen. Er war glücklich inmitten dieser Bewegungen und Geräusche. Aber wenn er herauskam, war er wie erschlagen und besessen von der Automatik all dieser Maschinen.“ Damit ist Ravel im Paris der 1920er übrigens nicht allein – man denke an Antheils Ballet Mécanique, Milhauds Machines agricoles oder Honeggers Pacific 231.

Nun baut Ravel also seine eigene Maschine, die zwei höchst unterschiedliche Muster zusammenwebt. Den erwähnten zweitaktigen Rhythmus, der als Dreivierteltakt nicht zu erkennen wäre ohne die Viertel, die (anfangs als Pizzicati der Celli und Bratschen) dazu gespielt werden. Dazu eine endlos wirkende Melodie, schon für sich genommen ein Geniewurf: Ravel hat eben nicht einfach „Volksmelodien des gewöhnlichen ibero-arabischen Typs“ ins Räderwerk eingespeist, sondern die Rhythmen, die Melodien, die Ornamentik der Folklore frei seinem persönlichen Stil angenähert – so, wie das auf seine Weise schon Camille Saint-Saëns tat. Irreguläre Linien sind es, zu biegsam, um in ihren Wiederholungen zu erstarren. Dass es zwei solcher Themen gibt, merkt man nicht gleich, denn das zweite ist eine Art Fortschreibung des ersten.

Mit beiden verfährt Ravel formal geradezu mechanisch: Jeweils zwei Mal Thema A, dann zweimal Thema B, dann wieder A, dann wieder B, nach je 16 Takten zwei Takte Motorik pur. Doch gar nicht mechanisch ist es, wie jeder neue Klang in den Melodien einen Charakter entfaltet: Eine Klarinette spricht aus, was die Flöte verhieß, ein – wie in Strawinskys Sacre – hoch einsetzendes Fagott folgt nach, dann ein Saxophon. Man hört Individuen. Die Wiederkehr der Themen wirkt, als erzählten verschiedene Zeugen von einem einzigen Ereignis. Irgendwann tun sich einige zusammen. Die Kombination aus Horn und zwei Piccoloflöten kann man als Polytonalität aus C-, G- und E-Dur hören, aber auch als drei Personen. Wenn sich später sogar neun Solobläser vereinen, entsteht ein Bläsermärchen: Ein Chor der Verzauberten. Weiter und weiter führen die stets gleichen Linien.

Immer heftiger stampft allerdings auch das Grundmetrum, eine heftige Vertikale, die bald die herrlichen Bänder zu perforieren droht. Da hilft nur der Notschalter. Leerlauf, Fadenriß, Schluss. Man kann den Boléro freilich auch ganz anders hören, selbst 45 Jahre, nachdem Bo Derek als Traumfrau in der Regie von Blake Edwards zum Sexsymbol wurde und dafür sorgte, dass sich die Leute die Musik zum Film als Aphrodisiakum kauften. Es soll damals bei Boléro-Platten zu Lieferengpässen gekommen sein. Aber eben auch zu Höhepunkten.

 

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und wurde für diese Website geringfügig überarbeitet. Er entstand für das Programm Freiflug des Gürzenich-Orchesters Köln, das am 23., 24., 25. Juni 2024 in der Kölner Philharmonie aufgeführt wurde, mit Éric Montalbettis Ouvertüre philharmonique als deutscher Erstaufführung. Illustration: James MacNeill Whistler, Nocturne: The silent sea, 1866. Whistlers Serie von Nocturnes inspirierte Claude Debussy zu seinem Triptychon