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Die Dinge könnten anders sein

Was lässt sich für die Zukunft des Musiklebens aus der Corona-Krise mitnehmen? Was ist unverzichtbar, was nicht, und was fehlt?

Ein Orchester spielt Mozarts A-Dur-Sinfonie KV 201, man guckt und hört sich das auf dem Tablet an, abends in der Küche. Was soll daran zukunftsweisend sein? Sind wir der Streamings nicht längst müde, ist das Stück nicht total abgespielt? Auf solche Gedanken kam ich gar nicht erst, nachdem der Dirigent den Konzertmeister per Ellbogenstups begrüßt hatte und in diese Musik aus dem Jahr 1774 einstieg. Es war mir unmöglich, wieder auszusteigen. Alles prickelte, Mozart erschien ganz neu, als Fremder, ein Mensch aus einer völlig anderen Zeit, mit völlig anderem Horizont.

Er brachte in diesen Tönen seine Gegenwart mit, so unmittelbar, dass auch der Hörer am abendlichen Küchentisch hineingeriet in einen besonderen Moment – und herausgerissen wurde aus einer gefesselten Zeit. Es war der pandemische August des Jahres 2020, in dem es nur in Salzburg möglich war, ein Konzert unter fast normalen Umständen zu geben. Jedenfalls normal genug für die Interaktion zwischen Zuhörern und Musikern, in der Wunder geschehen können – selbst auf dem Bildschirm noch voller Leben.

Zukunftsträchtig ist das Visionäre darin, nicht nur das »Endlich geht es wieder los«, das nach den ersten Monaten der Stille für alle Bühnenkünste so wichtig war. Das »wieder« kann ja auch implizieren: zurück zur Normalität, wie wir sie bis Anfang März kannten. Doch die Disruption, wie ein schon zuvor in Mode geratener Begriff lautet, öffnet neben dem Blick auf große Verluste auch unzählige neue Perspektiven. Bei diesem Konzert des Mozarteumorchesters Salzburg unter Gianluca Capuano war es die Neuentdeckung Mozarts in einer so noch nie dagewesenen Situation. Verunsichert in unserer eigenen Gegenwart, können wir dem Komponisten aus großer Ferne nahekommen und berührt sein.

Unsere Zeit in unseren Tönen

Solche existenziellen Momente mit Musik konnten wir natürlich nicht erst in Coronas Schatten erleben. Doch wird dieses Existenzielle in der Ausnahmesituation besonders deutlich, ebenso wie die vielen Routinen, in denen es sonst häufig versandet. Eine dieser Routinen ist das »Kernrepertoire«, so oft umgewälzt, rauf und runter gespielt, dass die Meisterwerke, aus denen es tatsächlich besteht, ihr Potenzial zu verlieren drohen. KV 201 beweist, dass es freigelegt werden kann. Und was den verhinderten Jubilar des Jahres 2020 betrifft: Da überwog bei vielen Fans eine nicht nur klammheimliche Erleichterung, der angesagten Flut von Beethoven-Marathons entgangen zu sein. Umso intensiver wurden die Beethovens wahrgenommen, die es dann doch gab, ob als CD-Produktion, als Gruß aus dem Wohnzimmer oder als Sonatenabend vor sparsam verteilten Hörern.

»Mir kamen in dieser Zeit viele Gedanken über die Notwendigkeit dessen, was wir tun«, sagt die Sopranistin Annette Dasch. »Ich habe mir vorgestellt, was geschieht, wenn der ganz große Rummel aufhört. Ob es nicht an der Zeit ist, die Dinge anders zu machen, als immer wieder die alten Stücke aufzuführen.« Vier Fünftel aller Opern auf den deutschen Spielplänen sind mehr als hundert Jahre alt; Stücke aus den letzten fünfzig Jahren bringen es auf nicht einmal ein Zehntel. Es wäre idiotisch, per Quote »Carmen« und »Don Giovanni« an den Rand zu drücken. Aber man sollte darüber nachdenken, dass viele Aufführungen solcher Renner sich nicht der Neugier auf deren Aktualität verdanken, sondern dem Interesse an vollen Häusern. Und dass es viele jüngere Werke gibt, die keinen historischen Vergleich zu scheuen brauchen, die uns in den Tönen unserer Zeit unsere Zeit entdecken lassen. Wenn eine Produktion wie die Oper „Infinite now“ von Czaja Czernowin 3000 Mal pro Monat online aufgerufen wird, kündet das nicht gerade von Desinteresse an neuem Musiktheater. Mit seinen Klängen stillstehender Zeit und der Erzählung von einer Frau, die ihr Haus nicht verlassen kann, ist das Stück von 2017 fast schon eine Corona-Vision.

Nach dem ersten Schock

Jetzt, da Intendanten und Veranstalter den ersten Schock zwangsweise leerer Säle hinter und eine ungewisse Zukunft vor sich haben, könnten viele versucht sein, erst recht auf die sichere Bank zu setzen. Dabei würde diese Reaktion genau das verschenken, was in der Krise gewonnen wurde: die Erfahrung nicht nur des Existenziellen in der Musik, sondern auch des eigenen innovativen Potenzials. Es reicht für Jahre, was da an Kreativität und Flexibilität an vielen Häusern frei wurde, was alles möglich war und ist. Sinfonien in reduzierter Besetzung zum Beispiel, von sieben bis elf Musikern gespielt – das kann auf längere Sicht eine Bereicherung sein, ein spannender Fensteröffner nach allzu vielen Abenden, an denen solche Werke vor allem als Leistungsnachweise reisender Großorchester dienten.

Wenn an einem Haus in einer Spielzeit ein und dasselbe Werk von Beethoven, Brahms, Bruckner drei Mal auf dem Programm steht, ahnt man dahinter eher das Tournee-Diktat der Maestri als eine sinnvolle Dramaturgie. Doch im Spiel und im Klang von Orchestern aus Wien oder Amsterdam, Pittsburgh oder Moskau bildet sich so viel von deren Geschichte, von deren Umgebung ab, dass man auf diesen Horizont, diesen globalen Austausch nicht verzichten möchte – selbst wenn dafür tonnenweise Musiker und ihre Instrumente in ein Flugzeug geladen werden müssen. Wie viele Orchester müssten über den Atlantik fliegen, um den täglichen CO2-Ausstoß eines einzigen Kreuzfahrtschiffs zu erreichen?

Auch kürzere Zeitrahmen könnten von einer Notwendigkeit zu einer Attraktion werden. Nicht nur potenzielle Neueinsteiger werden mitunter abgeschreckt von den rituellen zwei bis zweieinhalb Stunden des klassischen bürgerlichen Konzerts, sondern auch Eltern und andere multipel Gestresste. Sie sind froh, wenn sie die Wahl haben zwischen einer Stunde am Nachmittag und einer am Abend. Warum nicht in dieser Stunde mal nur einen Satz aus einer Sinfonie spielen? Noch bis zum Ersten Weltkrieg war der »Werkbegriff« so locker, dass nach jedem Satz applaudiert wurde – außer bei Nichtgefallen. Auch Richard Wagner und denen, die ihn fürchten, tut es gut, wenn die »Walküre« mal nur eine Stunde dauert – fokussiert auf den ersten Akt, auf drei Klaviere, Schlagzeug, Cello und Sänger, wie man es etwa im Streaming des Theaters Koblenz erleben konnte.

Das Netz und das echte Leben

Auch wenn die Streaming-Flut während des ersten Lockdowns schon wieder allergische Reaktionen hervorrief, könnte sie doch einen Strukturwandel herbeiführen, wie ihn Tilman Kannegießer-Strohmeier skizziert, Verlagsleiter von Boosey & Hawkes in Berlin: „Digitale oder interaktive Formate, die junges Publikum einsammeln, das während der Krise am Bildschirm Opernlunte gerochen hat, werden dazukommen. Kreative Kooperation zwischen den Häusern könnte das Gebot der Stunde sein.“

Wobei manche Musiker gar nicht erst ein neues Publikum »einsammeln« müssen, denn es folgt ihnen schon längst in den sozialen Netzwerken: Jakub Józef Orliński, neuer Stern am Counter-Himmel, hat 75.000 Follower bei Instagram. Nicht nur, weil er gut aussieht. Er singt auch Jazz in einer Hofkapelle, er tobt im Breakdance durch seine Wohnung. Als er 2019 einen Liederabend in der Frankfurter Oper gab, war der Saal voller Leute, die noch nie ein klassisches Konzert besucht hatten: Seine Follower wollten ihn endlich live erleben. Die Netzpräsenz ersetzt die reale nicht, sie führt zu ihr.

Freilich fällt der Umgang mit sozialen Medien und digitalem Instrumentarium der Generation, die damit aufgewachsen ist, viel leichter. Vielen Älteren ist das Netz noch immer so suspekt wie dem späten Rossini die Eisenbahn. Es kann aber um die Schwelle herumführen, die in vielen Köpfen nach wie vor existiert. Klassik wird da beharrlich mit einem »E« wie ernst, elitär, für Eingeweihte wahrgenommen. Der Sänger Ian Bostridge sprach im letzten »Elbphilharmonie Magazin« (3/2020) vom »selbstgewählten Ghetto«, in das sich die Klassik begeben habe. Eine neue Klassik-Streaming-Plattform wirbt sogar mit dem Hinweis „ohne Dünkel“- aber ob das hilft, die Hochmutslegende abzubauen?

Hinter dem Klischee von der komponierten Musik als hyperkomplexem High-Brow-Ghetto stecken die Rituale, Codes und Distinktionsinteressen, in die sie eingespannt wurde. Da gibt es noch viel zu lockern und zu öffnen, und dazu kann auch der Digitalisierungsschub durch Corona beitragen. Noch wird auf der Klaviatur der neuen Medien eher ein Kampf um Aufmerksamkeit ausgetragen, der das, was Künstler tatsächlich bewirken, nebensächlich erscheinen lässt und auf Tweets, Stars und »Leuchttürme« reduziert. Wichtiger wäre die Entwicklung autarker digitaler Formate für die Klassik, die über das Abfilmen von Auftritten hinausgehen.

Freiheit gegen Prekariat

Was aber mehr auf den Nägeln brennt, sind die Bedingungen derer, die die Musik herstellen, vor allem der Freischaffenden. Wie in vielen Bereichen hat die Krise hier Probleme vergrößert, die es längst gab. Freiberufliche Klassik-Interpreten in Deutschland verdienten vor Corona durchschnittlich 13.600 Euro brutto jährlich – und das sind allesamt keine Hobbyfiedler. Es sind 6.500 Profis, denen sich auch die Existenz von rund 400 spezialisierten Ensembles verdankt, darunter weltberühmte wie das Freiburger Barockorchester und das Ensemble Modern. Trotz internationalen Renommees verdienen deren Musiker soviel wie Anfänger in einem kleinen Stadtorchester.

Die öffentlichen Zuwendungen, die diese Ensembles erhalten, sind verbunden mit dem Verbot, Rücklagen zu bilden. Auch das hat im Lockdown die Gräben in einer Zwei-Klassen-Landschaft so vertieft, dass der Deal „Freiheit gegen Prekariat“ nicht mehr funktioniert. Wir bräuchten Bewässerungsgräben , denn die Landschaft ist von enormer Diversität bei Komponisten wie Interpreten: eine solche Vielfalt musikalischer Sprachen und Ausdrucksweisen wie im frühen 21. Jahrhundert gab es noch nie. Wenn aber das weltweit bestaunte Musikland Deutschland eines bleiben soll, müssen viele erst noch begreifen, dass es eines ist – und warum das etwas kostet. Im postmanufakturellen Zeitalter ist wenigen klar, dass an einem Opernhaus 80 Prozent der Kosten ans Personal gehen, zu dem auch Schuhmacher, Schneider und Maler gehören. Ein paar Betriebskorrekturen können freilich nicht schaden. Unverhältnismäßige Spitzengagen für Opernstars werden auch aus dem Etat jener öffentlich finanzierten Häuser bezahlt, von denen viele in ihren Absagemails an Orchesteraushilfen das Wort „Ausfallhonorar“ gar nicht erst erwähnen.

Wer ist hier wofür relevant?

Man kommt beim Blick in die Zukunft der Musik nun mal nicht am Geld vorbei, Musik, Gesellschaft und Wirtschaft sind eng verbunden. Das heißt aber gerade nicht, dass die Musiker nun ängstlich jene »Systemrelevanz« bedenken sollten, von der zuletzt so viel die Rede war. Sie könnten umgekehrt fragen, welches System eigentlich für ihre Kunst relevant sein soll. Denn sie sind in der Lage, uns mitten in der Gesellschaft von faktoidem Denken zu befreien, uns Gefühle entdecken zu lassen, aber ebenso Welten jenseits der menschlichen. Sie können uns erleben lassen, »dass die Dinge auch ganz anders sein könnten«, wie es der amerikanische Philosoph Timothy Morton formuliert.

Mitten in der Gesellschaft, das heißt auch, wirklich zusammen mit Mitmenschen. In der Krise haben wir begriffen, was wir mit dem Konzertleben vorübergehend verloren hatten, was uns real erlebte Musik tatsächlich bedeutet – sei es auf einem Sitzplatz oder Stehplatz, sei es vor oder hinter einem Podium, auf dem Musiker zwar ziemlich genau wissen, was sie vorhaben, aber nie, was wirklich geschehen wird.

Jeder Ton birgt Möglichkeiten und Erfahrungen; jeder Mensch, der live dabei ist, auch. Das alles kommt hier und nur hier zusammen. Und diese Begegnung ist so existenziell, wie es das Berührtwerden für ein Baby ist. Sie kann so stark sein, dass selbst ein Datenstrom noch Spuren davon trägt und einen fernen Hörer in seiner Küche mit Mozarts KV 201 begeistert. Aber dieser Hörer bleibt alleine damit. Und wenn er sein Tablet ausschaltet, ist es, als habe er alles nur geträumt.

Dieser Essay entstand für das Magazin der Elbphilharmonie, “Visionen”, Dezember 2020, S. 4-9, und ist urheberrechtlich geschützt. Eine Vorschau auf das Magazin ist hier zu finden.

„Ein wundervolles, mildes Licht”

Ob sie an Gott, an Bach oder an den Fortschritt glauben – Komponisten sind oft Bekenner. Und ebenso oft befreien sie uns aus der Enge der Dogmen

Rund 2500 Menschen versammeln sich im Hamburger Michel , als am 29. März 1894 der Gottesdienst für den berühmtesten Dirigenten der Epoche beginnt, Hans von Bülow, der sechs Wochen zuvor mit 65 Jahren in Kairo gestorben war. Einer der Trauergäste ist jener junge Kollege, der in Hamburg mehrfach für Bülow eingesprungen ist, ihn früh schon bewunderte und ihm noch vor wenigen Monaten einen Satz aus der Sinfonie vorgespielt hat, an der er noch immer arbeitet: der 33-jährige Gustav Mahler. Nach den Worten des Geistlichen hört er Werke von Bach, einen Satz aus Brahms’ »Deutschem Requiem« und schließlich, von Frauen und Kindern gesungen, einen Choral auf Worte des Hamburger Dichters Friedrich Gottlieb Klopstock: »Aufersteh’n, ja aufersteh’n wirst du, / Mein Staub, nach kurzer Ruh …«

Wir kennen diese Worte aus Mahlers Zweiter Sinfonie, von Chor und Sopran gesungen. Eines von vielen großen Werken der Musik, die uns auf die Frage nach dem Glauben bringen – und das ist nicht nur religiös gemeint. Immer wieder geht es bei Komponisten auch um Weltanschauung und um Wege der Kunst, die mit missionarischer Energie abgesteckt und wieder verlassen werden. Man begegnet Bach-Anbetern, Wagnerianern, faustischen Suchern, einem dogmatischen und einem abgeklärten Pierre Boulez. Es gibt die Komponistin, die religiös denkt, aber nicht darüber definiert werden will, und den Atheisten, der für Pfingsten transzendente Klänge findet. Und einen wie Gustav Mahler, der zwischen allen Stühlen aufs Ganze geht.

Der Abschied von Bülow, der Gesang im Michel bescherte dem Komponisten die Idee für das Finale seiner riesigen Komposition, der Auferstehungssinfonie, die, kurz gesagt, ein aufwühlendes Leben nachzeichnet. Mahler folgte Klopstock nicht zu den Zeilen, in denen Jesus als Mittler gefeiert wird; er dichtete anderes dazu: »Mit Flügeln, die ich mir errungen / werd’ ich entschweben.« Dass es den Helden aber »zu Gott« führen würde, war für den Komponisten unzweifelhaft, er schrieb es auch ins Programm: »Da erscheint die Herrlichkeit Gottes! Ein wundervolles, mildes Licht durchdringt uns bis an das Herz (…) Und siehe da: es ist kein Gericht – Es ist kein Sünder, kein Gerechter, kein Großer und kein Kleiner …«

Es war kein Kirchenglaube, den Gustav Mahler da vertonte, und auch die jüdische Religion, mit der er (wenn auch in einer sich »assimilierenden« Familie) aufgewachsen war, sieht keine bedingungsfreie Auferstehung vor. Mahler hatte, wie der Kulturwissenschaftler Jens Malte Fischer schreibt, »eine Privatreligion, wenn man so sagen darf«, in der sich Goethes Pantheismus, Nietzsches Selbstdenkertum, Naturreligiosität und das Bewusstsein einer »Bestimmung« verbanden. Aber auch bei religiös orthodoxen Komponisten wie Claudio Monteverdi und Johann Sebastian Bach käme man nicht weit, wenn man ihre Musik nur auf ihre Kirchen bezöge. Erst das Universum, das Bach musikalisch öffnet, ermöglichte es Felix Mendelssohn Bartholdy, sich mit ganzem Geist auf christliche Vorstellungen einzulassen.

Für Robert Schumann war schon Bach selbst eine überzeitliche Instanz. »Mendelssohn, Bennet, Chopin, Hiller, die gesamten sogenannten Romantiker«, schreibt er 1840 an einen Freund, »stehen in ihrer Musik Bachen weit näher als Mozart, wie diese denn sämtlich auch Bach auf das Gründlichste kennen, wie ich selbst im Grund tagtäglich vor diesem Hohen beichte, mich durch ihn zu reinigen und zu stärken trachte.« Bach erscheint ihm als Heilsbringer, und Schumann bezieht sich dabei nicht auf den Sakralkomponisten, sondern auf das »Tiefkombinatorische« der Polyphonie. Schumann ist nicht der Letzte, der gleichsam »an Bach glaubt«. Auch Mauricio Kagels »Sankt-Bach-Passion« von 1985 ist keineswegs ein Werk der Ironie, sondern eine respektvolle Reverenz.

Schwarze Handschuhe für die “Eroica”

Doch Bach ist nicht der Einzige, um den sich Gemeinden scharen. Im Verlauf der Säkularisierung des 19. Jahrhunderts übernimmt die europäische Musik metaphysische Rituale, was so weit führt, dass Hans von Bülow sich vor dem Trauermarsch der Beethoven’schen Eroica schwarze Handschuhe auf einem Silbertablett reichen lässt, und dass Richard Wagner den eigenen Werken eine Pilgerstätte errichtet, außerhalb derer sein Parsifal nicht gespielt werden darf, während drinnen Applaus nur am Ende erlaubt ist. Den Wagnerianern, wie die glühenden Anhänger des Meisters genannt werden, kommen dann die Brucknerianer an die Seite, gegenüber den grimmigen Brahminen. Markante Frontverläufe der Ästhetik tauchen in der Musik zwar in allen Epochen auf, aber im späten 19. Jahrhundert werden sie, rund um Wagner, schon ideologisch.

Ein Pionier wie Arnold Schönberg im 20. Jahrhundert verlangt von seinen Schülern die Anrede »Meister« und absolute Loyalität. Als ihm 1926 zugetragen wird, Hanns Eisler habe sich auf einer Zugfahrt abfällig über das Komponieren mit zwölf Tönen geäußert, zitiert er ihn zu sich, es folgt ein verbissener Briefwechsel. »Ich kann Ihnen nicht die kleinste Lücke lassen, durch die Sie entschlüpfen wollen« – wie ein Inquisitor reagiert Schönberg auf Eislers Erklärungsversuche. Dahinter steht auch, dass Eisler sich als Komponist politisch engagierte und Schönberg fand, er werde »den Sozialismus sich abgewöhnen«, wenn er erst »zwei anständige Mahlzeiten im Tag« hätte.

Den Dogmatismus der Zweiten Wiener Schule spitzt Pierre Boulez zu, indem er 1951 erklärt, Schönberg sei nicht weit genug gegangen. Ein Zurück gebe es aber schon gar nicht: »Jeder Musiker, der die Notwendigkeit der zwölftönigen Sprache nicht erkennt, ist unnötig. Sein ganzes Werk platziert sich damit jenseits der Notwendigkeiten seiner Epoche«. Dass solche »Notwendigkeiten« auch im Paris der 1950er eine Glaubensfrage waren, hat Boulez in seinem letzten Interview 2013 selbst festgestellt: »Wir waren eine kleine Gruppe gegen das Musikleben einer großen Stadt. Wir waren Kreuzritter, wie im Mittelalter. Wir wollten ein neues Evangelium bringen … Nun, das ist gut für eine Periode. Hinterher muss man unbedingt die Fenster öffnen, das habe ich auch getan. Bei Schönberg gibt es dasselbe Profil. Am Ende ist es nicht mehr so steif und stur.«

Interessant, dass Boulez seinerseits der Schüler eines gläubigen Katholiken war, nämlich Oliver Messiaens, dessen Œuvre mit seiner Religiosität eng verbunden ist, bis hin zum Saint François d’Assise (1983), diesem gigantischen Kirchenfenster aus Klängen. Sie lassen uns auch ein »katholikos« im vorchristlichen Sinn erleben, nämlich »umfassend«: gleißend, bunt, exotisch, geistesbrünstig, rätselhaft, klar, naiv, jeglichen Durst nach Transzendenz stillend. Wer das hört, kann süchtig werden und glauben, was er will. Ausschließlich über Religiosität wäre Messiaens Musik ebenso wenig erfasst wie die der Sofia Gubaidulina, die es sogar »gefährlich« findet, »darüber etwas zu sagen. Ich bin überzeugt, dass die ganze Musik, die ganze Kunst religiös ist, in meiner Definition von religio als Verbindung mit dem Höchsten, mit höchster Vollkommenheit. Aber man sollte mich nicht als religiöse Komponistin bezeichnen«, erklärte sie 2011.

“Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies”

Doch ganz gleich, um welche Glaubensdinge es geht, seien es Kunstprinzipien oder Kirchenlehren, sei es die Spiritualität eines Künstlers oder sein Sendungsbewusstsein: Meist wird mit einem Ernst darüber geredet, als seien ein Lächeln, ein Witz schon Verrat oder des Teufels – der ja zumindest als »Geist, der stets verneint« ein anspruchsvoller Gesprächspartner sein kann. Als hätte sich jemals Kreativität innerhalb von Reinheitsgeboten entwickelt und nicht immer wieder gegen sie, ganz gleich, ob diese Gebote 1564 beim Konzil von Trient oder 1951 auf den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik formuliert wurden. Man könnte die ganze Musikgeschichte als dogmenbrechenden Austausch zwischen Weltlichem und Sakralem, zwischen Populärem und Elitärem beschreiben.

Keiner bringt das in Ton und Wort besser auf den Punkt als Gioacchino Rossini. Er kannte jenen Beethoven noch persönlich, der 1820 in seiner Missa solemnis als Kind der Aufklärung um die Glaubensgewissheit rang und über sein Credo schrieb: »Gott über alles – Gott hat mich nie verlassen«. Bei Rossini hören wir 1863 das Credo befeuert von zwei Klavieren, deren Rhythmen mit schier Offenbach’schem Esprit unter den Choreinsätzen herumspringen. Rossinis Petite Messe Solenelle ist lange nicht recht ernst genommen worden, war ihr Komponist doch ein Altstar der Opera buffa, der sich hier neben eine Gipfelkette von Messvertonungen zu stellen wagte.

»Lieber Gott, voilá, nun ist diese arme kleine Messe beendet. Ist es wirklich musique sacrée, heilige Musik, die ich gemacht habe, oder ist es sacrée musique, vermaledeite Musik? Ich wurde für die Opera buffa geboren, das weißt du wohl! Wenig Wissen, ein bisschen Herz, das ist alles. Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies.« Es war ein katholisch aufgewachsener Italiener, der hier verschiedenste Musiksprachen kombinierte, von Bach bis, ja doch, Offenbach, von Mozart bis Meyerbeer, dabei immer auch ganz Rossini – und zutiefst berührend. Mit seiner skeptischen Heilserwartung zwischen allen Stühlen ist der alte Lebenskenner unserer Zeit verblüffend nah.

Und mit ihm sein Zeitgenosse Hector Berlioz, den in La Damnation de Faust die Ungewissheiten zwischen Himmel und Hölle zum Aufbrechen der Formate führen: Weder Oper noch Sinfonie, ist diese Légende-dramatique eine moderne Versuchsanordnung. In Goethes Faust I geht der Held zum Teufel, in Faust II wird sein »Unsterbliches« zur »Himmelskönigin« emporgetragen. Daraus schuf Mahler in seiner Achten Sinfonie eine hochdifferenzierte Auseinandersetzung, das Gegenstück zum Pfingsthymnus »Veni creator spritus«, den er im ersten Teil zum Universum machte. »Sehen Sie, das ist meine Messe«, sagte er dem Freund Alfred Roller – mit einem Augenzwinkern, denn zuvor hatte ihm Mahler erklärt, dass er eine Messe wegen des »Credo« nicht schreiben könne. Er war offiziell Katholik, weil ihm sonst der in Wien virulente Antisemitismus den Weg an die Spitze der Hofoper verstellt hätte.

Es kommt also auch vor, dass Komponisten über ihre Auseinandersetzung mit Glaubensdingen mit einer leichten Selbstironie sprechen, die aber – wenn man die Werke hört – durchaus von Demut zeugt. Das Pendant zu Rossinis Grußwort »Lieber Gott, voilà …« ist Paul Hindemiths Briefzeile aus London: »Von elf bis fünf habe ich dann ziemlich heftig getrauert …« Eigentlich hatte der Komponist und Bratschensolist mit dem BBC Symphony Orchestra sein Konzert Der Schwanendreher spielen sollen, als am 20. Januar 1936 König George V. starb und das Programm umgestellt werden musste. Man stellte Hindemith ein Studio zur Verfügung, in dem er binnen sechs Stunden ohne jedes Selbstzitat eines der intensivsten Werke der Violaliteratur schuf, seine Trauermusik, endend mit einer von fern an Bach anklingenden Vertonung des Chorals »Vor deinen Thron tret ich hiermit«. Am selben Abend hat Hindemith das Werk als Solist mit den Streichern des Orchesters uraufgeführt.

Am 28. August 2007 saß Hans Werner Henze abends mit ein paar Besuchern vor seinem Haus in Marino, südlich von Rom. Er hatte länger geschwiegen und dem Gespräch gelauscht, es ging um seinen Nachbarn, den Papst, dessen Helikopter im Anflug auf Castelgandolfo tagsüber die Ruhe störten. Auf einmal sagte er: »Ich finde es gut, wenn die Leute an nichts glauben. Keine Religion. Mit dem Tod ist finita la commedia. Es macht unser Leben intensiver und klüger, wenn wir das wissen.« Im Jahr zuvor hatte er seinen Lebensgefährten Fausto Moroni verloren, Henze blieb erklärter Atheist. Und doch vollendete er fünf Jahre später, wenige Monate vor seinem Tod mit 86 Jahren, ein Musikstück zu Pfingsten, für Chor und Instrumente, uraufgeführt in der Leipziger Thomaskirche, in dem er die Worte des jungen Dichters und Theologen Christian Lehnert zu klingender Transzendenz brachte: »Es fehlt ja nur ein Rascheln zum Erwachen, ein Flügelschlag, ein Wind, ja nur ein Hauch.« Woran auch immer Henze glauben mochte – wer Musik macht, die atmende Kunst, ist diesem Hauch nie fern.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien mit der Überschrift „Ich glaube an…“ im Magazin der Elbphilharmonie im März 2020, anlässlich des Internationalen Musikfestes Hamburg mit dem Motto „Glauben“. Die Konzerte bis zum 30. April wurden abgesagt; vorerst (Stand 11. April 2020) hofft man, dass die Konzerte ab Mai stattfinden können wie geplant.

Bis zum Rand und dann weiter

Wer in der Musik nach „letzten Dingen“ sucht, findet sie auch außerhalb der Gotteshäuser. Eine Erkundung von Mozart bis Carter, von Cadiz bis Kalifornien, vom Ende bis zum Anfang

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Seit Längerem schon leidet Arnold Schönberg an Herzrhythmusstörungen und Schwächeanfällen. Er ist 71 Jahre alt und lebt, vor den Nazis geflohen, seit gut zwölf Jahren mit seiner Familie in den USA; seine beiden Söhne Ronald und Lawrence sind jetzt neun und fünf Jahre alt. Am 2. August 1946 erleidet er in seinem Haus im kalifornischen Brentwood eine Herzattacke, begleitet von unerträglichen Schmerzen, die sein Arzt mit einer Injektion des Schmerzmittels Dilaudid behandelt. Es wirkt sofort: Der Schmerz weicht, Schönberg verliert das Bewusstsein. Als er erwacht, erblickt er einen ihm unbekannten, riesenhaften Mann, den Ex-Boxer und Pfleger Gene, der den Patienten, wie Schönberg sich erinnert, so mühelos herumtragen kann „wie ein Sofakissen“.

Kaum wieder bei Kräften, komponiert Schönberg in fünf Spätsommerwochen sein Streichtrio opus 45 und erzählt dann dem unfern residierenden Schriftsteller Thomas Mann, er habe in dem Stück „seine Krankheit und ärztliche Behandlung samt Male nurse und allem” dargestellt. “Scherzhaft“, wie der Komponist später betont, habe er die Herzattacke seinen „Todesfall“ genannt und das Trio „eine ,humoristische´ Darstellung meiner Krankheit.“ Es ist, als wolle er herunterspielen, was er doch thematisiert: Dass sein Werk eine Begegnung mit dem Tod birgt und eine Neugeburt (statt „Sofakissen“ hätte er auch „Säugling“ schreiben können). Es geht um letzte und um erste Dinge.

Das ist auch in der Eschatologie so, der theologischen Lehre von den letzten Dingen, die in vielen Varianten mit der Erwartung eines Neubeginns verbunden ist. Aber wer sich auf die Suche nach „letzten Dingen“ in der Musik begibt, findet sie nicht nur im liturgischen Bereich, den sie geradezu definieren. Schönberg, bekennender Jude, hat mit seinem Trio kein Glaubensbekenntnis hinterlassen, eher eine Musik mit autobiografischem Hintergrund, so wie sie auch Ludwig van Beethoven 1825 im dritten Satz seines a-Moll-Streichquartetts schrieb, seinem „Heiligen Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart“. Von einer schweren Erkrankung sah er sich auch durch eigene Bemühungen kuriert, neben denen seines Arztes, dem er einen Kanon schrieb: „Doktor sperrt das Tor dem Tod / Note hilft auch aus der Noth.“

So, wie Beethoven sich in seinem „Dankgesang“ bei der lydischen Tonart rückversicherte und damit beim Kirchenkomponisten Palestrina, der ihn zu der Zeit beschäftigte, gibt es auch in Schönbergs Überlebens-Stück eine Reminiszenz: „In das Trio eingearbeitete fragmentarische Allusionen an das Ur-Wiener Genre des Walzers können gedeutet werden als Festhalten an den alten Werten (Wiener) Tradition, aus dem sich der Komponist in einem auf Sekundenkürze kondensierten Lebensrückblick instinktiv niemals zu lösen vermochte”, schreibt die Musikwissenschaftlerin wie Therese Muxeneder.

Erinnerungen an Fanny und Bach

Ähnlich subtil hat Felix Mendelssohn Bartholdy frühe Eindrücke in die Struktur versenkt, mitten in der Auseinandersetzung mit dem Tod: In rasender Trauer um seine Schwester Fanny schrieb , kurz bevor er ihr im selben Jahr 1847 nachstarb, sein siebtes Streichquartett. Aus schwärzestem f-Moll gerät er im ersten Satz an eine Stelle, die seltsam vertraut klingt: Ein Fragment aus dem D-Dur-Präludium des Wohltemperierten Klaviers I – aus den Klavierkindertagen der Geschwister.

Das alles sind Stücke, die – unabhängig von einem Programm und doch konkret – auf die Endlichkeit des irdischen Lebens Bezug nehmen. Auf gewisse Weise tut Musik das natürlich immer, da sie in der Zeit erklingt und verklingt, um nicht zu sagen: vergeht. Schon deshalb lässt sie uns „das ,Sein zum Tode´ besser als alles andere begreifen“, wie Peter Gülke schreibt. Aber so leicht begreift man das heute nicht mehr, wo Musik beliebig verfügbar ist und wir kaum daran denken, dass sie noch bis zur Verbreitung des Grammophons nur gehört werden konnte, wo sie von Lebenden gespielt und gesungen wurde. Nur zu einem konkreten Zeitpunkt, nur an einem bestimmten Ort, nur live.

So war das auch am 15. Januar 1941 in einer ungeheizten Baracke des Stalag VIII A in Görlitz, als vor dreihundert (von 5000) Kriegsgefangenen und einigen deutschen Offizieren das „Quatuor pour la fin du Temps“ zum ersten Mal erklang, komponiert vom 33-jährigen Olivier Messiaen, gespielt von ihm selbst am Klavier und drei weiteren französischen Kriegsgefangenen, die exzellent Klarinette, Geige und Cello spielten. Vielleicht hat es selten aufnahmefähigere Hörer gegeben.

Mit dem „Ende der Zeit“ bezog sich Messiaen auf die Offenbarung des Johannes. Dort fällt der Untergang der Welt zusammen mit dem Beginn der Ewigkeit. Doch bei Messiaen hört man, dass Ewigkeit nicht erst am Jüngsten Tag beginnen muss. Sie beginnt bei den Gesprächen der Vögel, setzt sich fort mit dem Regenbogen, der in sanften Akkordwellen schimmert, und sie wird immer menschlicher, unendlich zärtlich. Wer daneben Franz Schmidts dröhnendes Endzeitoratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ hört, ebenfalls der „Offenbarung“ folgend und 1938 in Wien uraufgeführt, nach dem „Anschluss“ Österreichs ans „Dritte Reich“, begreift erst recht, welch lichte Dimensionen Olivier Messiaen mit seiner Notbesetzung erreicht.

“Sieben Worte” – Haydns herbe Halbinsel

„Kirchenmusik“ ist das so wenig wie ein vergleichbar existentielles Instrumentalwerk des Katholiken Joseph Haydn – obwohl der europaweit gefeierte 54-jährige Österreicher seine Instrumentalstücke zu den „Sieben letzten Worten des Erlösers am Kreuz“ sogar als Auftragswerk für eine bestimmte Kirche schrieb, Santa Cueva in Cadiz auf der Felsenhalbinsel vor der andalusischen Küste. Haydn war nie dort. Und nie hat er konzentrierter, herber, extremer geschrieben als in diesem Werk, das selbst wie eine Halbinsel vor seinem Oeuvre liegt. Mit brennender Genauigkeit bringt er die sieben Worte in Töne, von „Vergib ihnen“ bis „In deine Hände befehle ich meinen Geist“. Haydn zählt dabei nicht zu den Komponisten, die ihre jeweils letzten Werke letzten Dingen widmen. Seiner eher fröhlichen Harmoniemesse von 1802 folgen sogar noch einige schottische und walisische Lieder.

Ein Grenzfall ist dagegen der späte Gioacchino Rossini, der zwar bis zuletzt seine mitunter hochkomischen kleinen Altersünden schreibt, 1863 aber, fünf Jahre vor seinem Tod, auch schon so etwas wie ein Vermächtnis, eine Messe für die Privatkapelle eines steinreichen Parisers. Minimal besetzt, maximal ausgreifend von Bach bis zur Grand Opéra ist seine Petite messe solenelle, dabei durchweg authentischer, reifer Rossini – Summe eines Künstlerlebens mit Blick auf dessen Ende. „Lieber Gott, voilá, nun ist diese arme kleine Messe beendet. Ist es wirklich musique sacrée, heilige Musik, die ich gemacht habe, oder ist es sacrée musique, vermaledeite Musik? Ich wurde für die Opera buffa geboren, das weißt du wohl! Wenig Wissen, ein bisschen Herz, das ist alles. Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies.“

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Augenzwinkernd zeigt sich der 71-jährige aber nur in seinem Begleitschreiben an Gott. Die „Petite Messe Solenelle“ ist zutiefst berührend in ihrer ziemlich weltlichen Musiksprache. Sie bereitet am Ende dem „Agnus dei“ mit seiner Friedensbitte eine Opernbühne für Mezzosopran und Chor, über der der Vorhang offen bleibt und die Zukunft ungewiss ist. Keine Erlösung erklingt in den Schlusstakten, kein Glanz, keine Liebe (und besonders die leuchtet in vielen Teilen des Werks), sondern die trockenen, stockenden Akkorde des Beginns.

Mit dieser skeptischen Heilserwartung zwischen allen Stühlen ist der alte Lebenskenner unserer Zeit näher als den kunstreligiösen Tendenzen der Jahrzehnte nach ihm, besonders den vermächtnishaften Letztwerken von Richard Wagner (der im „Parsifal“ den Erlöser erlösen will) und Anton Bruckner, der seine Neunte „dem lieben Gott“ widmet und Rossinis „voilá“, hätte er es gelesen, für einen Antrag zur Höllenfahrt gehalten hätte.

Frühvollendet? Mozart hatte noch viel vor

Besonders bei den „frühvollendeten“ Genies geht man gern davon aus, sie hätten gewusst, dass das Ende nahe, und dementsprechend grenzüberschreitend, exzessiv, bedeutungsgeladen komponiert. Bei Franz Schubert mag das stimmen. Seit er 1822 mit einer Syphilis ins Allgemeine Krankenhaus Wien eingeliefert wurde, musste er mit einem frühen Tod rechnen. Und was der 31jährige von August bis Oktober 1828 schrieb, von Kopfweh und Schwindelgefühlen begleitet, bis zu seinem Tod am 19. November, ist schwindelerregend: Die vierzehn Lieder des vom Verleger so genannten Schwanengesangs, das Streichquintett und, in vier Septemberwochen, die drei Klaviersonaten D 958-960. Letztere werden mittlerweile als Trias gesehen – aber müssen sie auch gleich ein „Vermächtnis“ sein? Ein „Ende“ sind sie auf keinen Fall. Zum einen wollen sie gar nicht enden (im besten Sinne: es gibt so viel zu erzählen!), zum andern sind sie in ihrer erzählerischen Konzeption auch ein Aufbruch – ein Jahr nach dem Tod des übermächtigen Beethoven, Schuberts Nachbar in Wien.

Auch Mozart befand sich in neuem Aufbruch, als er im Sommer 1791 den Auftrag für ein Requiem erhielt. Das passte ihm nicht nur finanziell gut – das Genre interessierte ihn. Seit vier Jahren machte er Skizzen für neue geistliche Werke, eine Totenmesse hatte er noch nie komponiert, und in der angestrebten Position eines Domkapellmeisters würde er das Werk gut brauchen können. 1790 sah er sich beruflich „an der Pforte meines Glückes“, ein Jahr später waren seine Schulden beim Logenbruder Puchberg fast getilgt, im Oktober 1791 wurde die Zauberflöte zum Kassenschlager. Mit welcher Zuversicht Mozart generell nach vorn blickte, zeigt sein „Verzeichnüß aller meiner Werke“, auf dessen Vorderdeckel „Vom Monath Februar 1784 biß Monath … 1…“ Er hatte vermutlich vor, zu gegebener Zeit eine „8“ hinter die „1“ zu schreiben, für das nächste Jahrhundert. Hundert angefangene Stücke lagen in seiner Wohnung.

An der Fertigstellung des Requiems, neben dem er auch noch den Titus schrieb, hinderte Mozart eine Infektionskrankheit, deren tödlicher Ausgang „keineswegs unvermeidlich“ war, wie Christoph Wolff feststellt: „Es hätte alles ebenso gut ganz anders verlaufen können.“ Es spricht Bände, dass ein Musikwissenschaftler unserer Jahre darauf überhaupt noch hinweisen muss wie Wolff im 2012 zuerst auf Englisch erschienenen Buch „Mozart at the Gateway to his Fortune“. Dass alles hätte anders verlaufen können, passt der Nachwelt gerade nicht, ebenso wenig, dass Mozarts letzte Jahre nicht als „letzte Jahre“ verliefen, dass er nicht im Abendsonnenschein eines kurzen Lebens seine „letzten Sinfonien“ schrieb, nicht beim Entwurf des Requiems mit seinem Ableben rechnete oder gar fand, mit 626 Werken sei es jetzt mal genug.

Aber natürlich ging ihm die Auseinandersetzung mit Tod und Jenseits so nahe, wie wir es im Requiem erleben können.Und dass im Nachhinein ein haltbarer Mythos daraus gemacht wurde, sollte man nicht kalt lächelnd abtun: Es tröstet über den Verlust eines großen wie eines geliebten Menschen, wenn man sich erzählt, gottergeben oder nicht, es habe nicht anders kommen können.

Der Nimbus der Neunten Sinfonien

Dieser Mythos hat religiöse Züge. Im der „entzauberten“ Welt des säkularisierten 19. Jahrhunderts wuchs das Bedürfnis nach neuen metaphysischen Erzählungen, und ihm entspringt wohl auch der Nimbus „Neunter Sinfonien“ als letzten Gipfeln vor den letzten Dingen. „Es scheint, die Neunte ist eine Grenze”, raunte noch Arnold Schönberg. “Wer darüber hinaus will, muss fort…“ So tröstete er sich, als Mahler über seiner Zehnten gestorben war. Seit Beethoven bezeichnet die Nummer Neun jene Eisregion der Sinfonik, in der nur noch mit Sauerstoffgerät komponiert werden kann, wo die Luft  dünn wird bis hin zu Transzendenz und Herzinsuffizienz. Von Bruckners Neunter war schon die Rede -  ihr Widmungsträger rief sogar schon vor dem geplanten Finale seinen getreuen Knecht zu sich. Auch Schubert und Dvořák kamen sinfonisch „nur“ bis zur neun und da jeweils zu ihren sinfonischen Höhepunkten.

Erst Dmitri Schostakowitsch brach mit fünfzehn Sinfonien diesen „Bann“, mit Werken, die oft existentielle Erfahrungen und Ängste spiegeln, in der Dreizehnten (1962) auch ein apokalyptisches Gräuel, für das der Name „Babij Jar“ steht. In dieser Schlucht bei Kiew hatte 1941 die deutsche Wehrmacht 33.771 jüdische Bürger erschossen. Schostakowitschs letzte Sinfonie dagegen, vier Jahre vor seinem Tod entstanden, ist ein Rätselwerk; nach ihr konnte in diesem Format von diesem Komponisten wirklich nichts mehr kommen. Äußerst sparsam gesetzt, mit Grüßen an Rossini im ersten Satz und einer finalen Passacaglia, die sich einer Aussichtsplattform im Kosmos verwandelt. Kühl pfeifen die Quinten, und hinten tickt und klingelt schwerelos und menschenfern die Perkussion, wie ein „letztes Ding“, ein vergessener Wecker, ein Spielzeug ohne Kind.

An Schwerelosigkeit, aber eine in irdischem Sonnenlicht, denkt man auch, wenn man die Musik aus dem hundertunddritten und letzten Lebensjahr eines Mannes hört, der 1908 in New York zur Welt kam, drei Tage, nachdem dort Gustav Mahler mit mäßigem Erfolg seine Auferstehungsstehungssinfonie dirigiert hatte. Elliott Carters Instances, 2012 für Kammerorchester geschrieben, scheinen mehr etwas zu zeigen als auszudrücken. Es ist eine helle, stille Szenerie, Brücken in der Luft in sanftem Licht, klare Linien. Von Anfang an gerät man in ein Ganzes, wie auf einen Horizont blickend. Vor dem entfaltet sich Carters Musik, als hätte er soviel Zeit wie nie zuvor. Das ist sehr beglückend.

Frédéric Chopin hatte kaum noch Zeit, als er seine letzte Mazurka entwarf. Ein „letztes Ding“, ein letztes Blatt, Querformat, 22 mal 28,5 Zentimeter, vierzehn Notensysteme, ein Stoppelfeld von Noten, kaum entzifferbar auf den ersten Blick. Eime Vertraute Chopins fand die Skizze in seinen Papieren, nachdem der Komponist in seiner Pariser Wohnung mit 39 Jahren der Tuberkulose erlegen war. Chopin hatte an den Beginn der Notenlinien nicht einmal Vorzeichen notiert, nur links oben „F mol Maz“. Also eine Mazurka in f-Moll. Vieles muss man ergänzen, in der linken Hand stehen oft nur Grundtöne, manche Harmonien können nur in der Logik dessen erschlossen werden, was ihnen vorausgeht. Chopin hinterließ damit ein Rätselpuzzle, das nicht ganz, aber weitgehend gelöst werden konnte.

Im Gegensatz zu Mozart 1791 wusste er spätestens im Sommer 1849, dass die „Zypressen“ – seine Metapher in einem Brief – nicht mehr fern waren, die Bäume der Toten. Und er hinterließ für die letzte Mazurka das Nötigste: Konturen und DNA eines musikalischen Gedankens, komprimiert in einer analogen Datei für die Überlebenden. Mehr als ein Jahrhundert lang haben sich Pianisten und Musikwissenschaftler an der Rekonstruktion der Mazurka abgearbeitet, denn früh war klar, dass sie, technisch kinderleicht zu spielen, eines der abgründigsten, melancholischsten, schönsten, zugleich elegantesten Stücke aus Chopins Feder ist, wie im Vorübergehen selbst Wagners Tristan um ein Jahrzehnt voraus. Ein „letztes Ding“, an dem eine andere besondere Eigenschaft der Musik deutlich wird: Sie ist ein kollektives Projekt. Musiker, tot oder lebendig, brauchen kein Jenseits, um einander zu treffen – nur die Werkstatt.

chopin skizze mazurka f-moll

Dieser Text erschien, geringfügig kürzer, unter der Überschrift “Letzte Dinge” im Elbphilharmonie Magazin, Dezember 2018, S.20-24, und ist urheberrechtlich geschützt. Das erste Bild ist ein Ausschnitt aus Gustave Dorés Gravur “Charon, Fährmann der Hölle”, 1861 als Illustration zu Dantes “Göttlicher Komödie” erschienen. Das fotografische Portrait Gioacchino Rossinis, hier im Ausschnitt gezeigt, entstand am 6. März 1856 im Pariser Atelier von Nadar, im Internet ist es u.a. zugänglich über die Website des Metropolitan Museum in New York. Das Autograph der f-Moll-Mazurka von Chopin wird im Chopin Museum Warschau aufbewahrt.