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„Der Mensch ist ein Abgrund“

Seit dem frühen 20. Jahrhundert reagiert die Musik auf einen Krieg nach dem anderen. Vorahnend, unmittelbar oder verzögert, mit und ohne Botschaft, klagend oder anklagend. Eine Spurensuche von Alban Berg bis Steve Reich

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Vielleicht gelingt mir doch einmal etwas Heiteres“, schrieb Alban Berg im Juni 1913 zu einer geplanten Folge von Orchesterstücken. Aber was der 29-Jährige am 23. August 1914 zuerst vollendete, „Marsch“ genannt, letztes der drei Orchesterstücke opus 6, mündet in den brutalsten Schluss, der je komponiert wurde. Nach 174 Takten in einer gerade noch durchhörbaren Dichte polyphoner Ereignisse schlägt sich die Musik mit einem Hammerschlag des ganzen Orchesters gleichsam selbst tot. Zu dieser Zeit sind innerhalb von drei Wochen, seit der Krieg begann, schon Hunderttausende umgekommen.

Der Komponist hat, zurückgezogen in ein Alpenidyll südwestlich von Graz, kaum etwas davon mitbekommen und diesen letzten Satz seiner Orchesterstücke ohnehin schon seit dem Frühjahr 1914 konzipiert – keineswegs als „Kriegsstück“. Gerade deshalb kann man in dieser Partitur die Spannungen dieser Jahre, ihre Hypertrophie, ihr destruktives Potential, ihr kollektives Unbewusstes fast mitlesen wie in einer Computertomographie – nur dass es hier ein „tongebendes Verfahren“ ist, kein bildgebendes. Beklemmend ist auch die leise, beharrliche Mechanik, das Weckerticken vor dem finalen Ausbruch. Alban Berg konnte nicht wissen, dass ihn diese Partitur vom Frieden in den Krieg begleiten würde.

Wer mit dem Blick auf Krieg und Frieden die Musikgeschichte seit dem frühen 20. Jahrhundert erkundet, findet hellseherisch anmutende Innenansichten wie seine, aber auch unmittelbare Reaktionen, politisch motivierte Statements und versteckte Botschaften. Manches Werk reagiert mit „Verspätung“ auf nicht zu bewältigende Traumata, manches entsteht „in Echtzeit“ parallel zum Kriegsgrauen, mitunter als bewusster Gegenentwurf dazu.

Aber ist nicht jede kreative Arbeit ein Gegenentwurf zum Krieg? „Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg“, schreibt Sigmund Freud 1933 an Albert Einstein, in einem öffentlichen Briefwechsel zum Thema Krieg. Für den überzeugten Pazifisten Freud gehört die Dominanz des Liebens gegenüber dem Hassen zu den Errungenschaften der Kultur. Was für den Psychoanalytiker Freud nicht heißt, dass „die Aggressionsneigung mit all ihren vorteilhaften und gefährlichen Folgen“ in der Kultur keinen Platz hätte – sie gerät aber unter die Kontrolle des Intellekts. Das können wir in vielen großen Werken unseres Themas erleben. Jedes von ihnen verhält sich zur militärischen Destruktivität aus kultureller Erfahrung heraus, und selbst eine für den Verteidigungskampf komponierte Sinfonie wie die „Leningrader“ von Dmitri Schostakowitsch erweist sich bei näherem Hören als hochsensibel.

Auf „Freund“ und „Feind“ ist Kunst nicht zu reduzieren. Das zeigt vor allem Maurice Ravel, der sich nach Beginn des Ersten Weltkriegs freiwillig als Lastwagenfahrer bei Verdun einsetzen lässt. Parallel arbeitet er an der Klaviersuite „Le Tombeau de Couperin“, die er nicht nur dem Barockmeister, sondern auch sieben im Krieg getöteten Freunden widmet. Und doch antwortet er der „Liga zur Verteidigung der französischen Musik“, die 1916 ein Aufführungsverbot zeitgenössischer Musik aus Deutschland und Österreich anstrebt: „Es bedeutet mir wenig, dass Herr Schönberg, zum Beispiel, österreicherischer Nationalität ist. Er ist darum nicht weniger ein Musiker von hohem Verdienst, dessen Erkundungen (…) einen glücklichen Einfluss auf gewisse Komponisten auf alliierter Seite und bis hin zu uns gehabt haben.“

Er weiß freilich nicht, was Arnold Schönberg schon am 28. August 1914 an Alma Mahler über „alle ausländische Musik“ schrieb: „Aber jetzt kommt die Abrechnung! Jetzt werfen wir diese mediokren Kitschisten wieder in die Sklaverei und sie sollen den deutschen Geist verehren und den deutschen Gott anbeten lernen.“ Übrigens arbeitet Ravel in einem seiner bis heute meistgespielten Stücke tatsächlich mit „Kitsch“, mit Wienerischem gar noch – indem er einen Wiener Walzer in jene Katastrophe führt, die von Anfang an in den unheimlichen Farben, Akzentverschiebungen, Binnendramen von „La Valse“ lauert, wie eine danse macabre. Das Orchesterwerk fasst gleichsam die Jahre von 1906 – damals entstand das früheste Material – bis 1920 in zwölf Minuten zusammen. Aus schwelgerischen Streichermotiven werden Fetzen, Heultöne; Rhythmus und Harmonik des Walzers werden zur immer dünneren Folie über den Spannungen, der Walzer vernichtet sich am Ende selbst.

Das lässt an die virtuos komponierte Orgie der Zerstörung denken, die Richard Strauss als „Gewitter und Sturm“ in seiner „Alpensinfonie“ realisiert, einem so beliebten wie zugleich unterschätzten Werk, das nicht nur in seiner Entstehungsgeschichte weit über eine alpine Tondichtung hinausgeht. In Skizzen schon 1900 beginnend, wird ein vielschichtiges Panorama daraus, das –wie Bergs Orchesterstücke – erst im Krieg vollendet wird. Einem Krieg, den Strauss zuerst als „herrlich“ begrüßt und schon im Februar 1915 – da ist die Orchestrierung abgeschlossen – ernüchtert als „Morden“ bezeichnet. Im „Gewitter“ wird eine ganze Welt zermahlen und geschreddert. Strauss wirft – mit Ausnahme des Sonnenmotivs – alle Bestandteile seiner Alpensinfonie in den Häcksler. Nicht erst von hier aus kann man das ganze Werk auch als Zeitkino hören, als „Abschiedsfeier von einem scheinbar intakten Weltbild“, wie der Komponist Helmut Lachenmann meint, der diese Musik „apokalyptisch“ findet.

Gespenstische Verzerrung

Die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts reicht auch in der Musik weit in die Zukunft. Alban Berg erlebt militärische Verrohung zuerst als Reserveoffizier, dann als Kanzlist im Kriegsministerium, Erfahrungen, die in seine 1925 vollendete Oper „Wozzeck“ einfließen. „Es steckt ja auch ein Stück von mir in seiner Figur“, schreibt Berg schon 1918 über den Soldaten Wozzeck. In extremer Verdichtung zeigt sein Werk das Zerbrechen des Ich und gibt Wozzecks Satz „Der Mensch ist ein Abgrund“ – von Georg Büchner 1836 geschrieben- eine immense Aktualität. Bergs neue Oper wurde nach der Uraufführung 1925 an so vielen Häusern gespielt, dass der Komponist von den Tantiemen ein Sportcabriolet kaufte und mit Zuversicht den 1930ern entgegenfuhr.

Schon zu deren Beginn zeichnet sich in Deutschland der Aufstieg der Nationalsozialisten ab, deren Diktatur dann den wohl größten Talenttransfer der Weltgeschichte auslöst – um es positiv zu formulieren neben der Tatsache, dass noch nie so viele Talente in so kurzer Zeit ihr Leben verloren. Dass mindestens 1500 europäische Musiker in die USA flohen, darunter bedeutendste Komponisten und Interpreten, gehört auch zum Thema „Krieg und Frieden“.

Wie gespenstisch, wenn Richard Strauss 26 Jahre nach der Uraufführung seiner „Alpensinfonie“ dieses Werk dirigiert, im Juni 1941 in München, mit nun 77 Jahren, während im Osten drei Heeresgruppen für den Überfall auf die Sowjetunion vorbereitet werden. Im „Gewitter“ kommt die Aufnahmetechnik an ihre Grenzen, und das auskomponierte Chaos klingt – für unsere Ohren – so verzerrt, dass es sich realen Frontgemetzeln anzuverwandeln scheint. Eine zufällige und unheimliche Vorwegnahme der Effekte, mit denen Jimi Hendrix 1969 in Woodstock die amerikanische Nationalhymne auf der E-Gitarre in einen Fliegerangriff verwandelte, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren.

Keine Hymnen, keine Helden

Nach dem Angriff am 22. Juni 1941 entstehen in der Sowjetunion unzählige Lieder und Märsche heroischen Charakters, vor allem aber nehmen zwei Werke ihren Anfang, die den Krieg überdauern. Sergej Prokofjew, 50 Jahre alt, konzipiert seine Oper „Krieg und Frieden“ nach Tolstois Roman über den gescheiterten Feldzug Napoleons gegen Russland. Daran wird der Komponist bis zu seinem Tod 1953 arbeiten – eine finale Fassung gibt es nicht.

Das prominentere Werk ist die „Leningrader Sinfonie“, mit deren Komposition der 34-jährige Dmitri Schostakowitsch schon vor der Beginn der Blockade seiner Heimatstadt beginnt, des vormaligen (und jetzigen) St. Petersburg. Die Belagerung durch die Wehrmacht beginnt am 8. September 1941 mit dem Vorsatz, die Bürger der Stadt verhungern zu lassen. Bis Juni 1942 sind bereits 400.000 Leningrader an Unterernährung gestorben. Um so wichtiger wird, als symbolischer Widerstand, diese Siebte Sinfonie, die der beizeiten evakuierte Komponist schreibt. Seitdem auch nur Gerüchte darüber die Runde machten, reißen sich die Dirigenten um das Stück. Ein Mikrofilm der Partitur wird nach New York gebracht, wo Arturo Toscanini die amerikanische Erstaufführung realisiert.

Die Propagandatauglichkeit – Schostakowitsch erhält den Stalinpreis 1. Klasse – steht zugleich der späteren westlichen Rezeption im Weg, die hier mehr Botschaft als Originalität wahrnimmt und den „wahren“ Schostakowitsch erst wieder in seiner Achten Sinfonie erkennen möchte. Indessen ist der immerwährende Rhythmus des ersten Satzes, an Ravels Bolero angelehnt, eine Abstraktion der Logik des Krieges, von schmerzhaften Intervallen überlagert. Es gibt keine Hymnen, keine Helden. Der zweite Satz zeigt ein zerbrechliches Glück, wie etwas Buntes, das ein Kind mit Kreide an eine Wand gemalt hat. Im Adagio zerfällt förmlich das komponierende Subjekt – und selbst im virtuosen Sturmgetöse des Finales finden sich marschuntaugliche Siebenviertel-Takte.

Die Siebte hat also durchaus einen Platz an der Seite ihrer dunkleren Schwester, der Achten, verdient, einer Musik der verbrannten und beweinten Erde und der zerreißenden Maschinerien, der Schreie. Eine so persönliche wie komplexe Musik, in der auch die Angst und Not unter dem Regime des Massenmörders Stalin gehört werden können – und die nach ihrer Moskauer Uraufführung 1943 in der Sowjetunion überaus kühl aufgenommen wurde.

Botschaften aus dem Jahr 1943

Im selben Jahr 1943 wird im von den Deutschen besetzten Paris ein Werk uraufgeführt, dessen Komponist damit ein beträchtliches Risiko eingeht, auch wenn es „nur“ eine Violinsonate ist, die die junge Ginette Neveu in der Salle Gaveau spielt, mit dem 44-jährigen Francis Poulenc am Klavier. Zwei Tage zuvor hat er in der Zeitung „Comoedia“ ausdrücklich auf den Widmungsträger hingewiesen: Federico García Lorca. Diesen berühmtesten spanischsprachigen Autor der 1930er Jahre haben Francos Faschisten am 19. August 1936 brutal ermordet, seiner Liberalität wie seiner Homosexualität wegen.

Es ist ziemlich unerschrocken, in Paris ein Werk zu seinem Gedenken aufzuführen, mit einem Zitat aus seiner Lyrik, wenn sich die Propandastaffel der Nazis gerade mal 800 Meter weiter weg befindet. Dass zudem amerikanischer Jazz zitiert wird, nämlich der Standard „Tea for two“, ist auch eine Botschaft. Eine von vielen in diesem persönlichsten Werk Poulencs, das viel über jene Jahre erzählt, nicht weniger als Olivier Messiaens „Quartett für das Ende der Zeiten“, das Poulenc hoch schätzte. 1943 schrieb er auch eine Musik, die vorerst unaufführbar war. „Figure humaine“ für Chor zu Gedichten von Paul Élouard endet mit „Liberté“ – jenen Strophen, die als Flugblatt zu Tausenden von britischen Flugzeugen über dem besetzten Frankreich abgeworfen worden waren.

1943 ist außerdem das Jahr, in dem sich im Warschauer Ghetto jüdischer Widerstand gegen die deutschen Besatzer erhob, mit der Folge, dass mehr als 56.000 Menschen ermordet oder in KZs deportiert wurden. Ihnen widmet Arnold Schönberg – selbst schon 1933 aus Deutschland über Frankreich in die USA emigriert – sein Werk „A Survivor from Warsaw“ für Sprecher, Männerchor und Orchester, geschrieben im August 1947 als eine der frühesten künstlerischen Reaktionen auf den Holocaust. Nur sieben Minuten dauert es, einfach und schwer zu verstehen zugleich. Einfach, da der Sprecher, der „Überlebende“, auf englisch erzählt, was geschieht, während die Kommandos des berlinernden Feldwebels auf Deutsch gebrüllt werden, bis zu dem Moment, als die zusammengetriebenen Männer das „Schma Jisrael“ zu singen beginnen, eines der wichtigsten Gebete des Judentums. Indessen reflektiert das Orchester das Geschehen in einer zwölftönigen Reihenstruktur, deren komplexe Bezüge sich nicht ohne Weiteres im Zeitmaß der Worte verfolgen lassen.

In zugänglicherer Musiksprache arbeitet 1962 ein Komponist, der – anders als Schönbergs fiktive Erzählgestalt – tatsächlich ein Überlebender ist, der aus Auschwitz in seine Wahlheimat Paris zurückkehrte. Dort berichtet Simon Laks zwar früh über seine Zeit im KZ, doch als Komponist setzt er sich erst als 60-Jähriger direkt mit dem Holocaust auseinander. „Der Sarg war der Ofen des Krematoriums“. So beginnt das Gedicht „Begräbnis“ von Mieczysław Jastrun, der uns auf „ein Grab aus Luft“ blicken lässt, ganz wie Paul Celan in seiner „Todesfuge“. Laks, gebürtiger Pole, dessen Mutter, Schwester, Neffe die Shoah nicht überlebt haben, der einen Bruder in Warschau verlor, lässt das Klavier so etwas wie einen Legendenton anschlagen, wandernde dunkle Akkorde.

Dem unsagbaren Grauen setzt er die Kontinuität seines Musikdenkens gegenüber. Den Akkorden, den traurigen Bögen der Stimme können wir gut folgen, eine letzte tonale Gravitation ist von fern spürbar, wichtiger sind aber die Sensibilität, die Vorsicht und menschliche Wärme, mit der Laks den Worten folgt. Als großer Liedkomponist wird er erst wiederentdeckt, seit die serielle Avantgarde der Nachkriegszeit ihre jahrzehntelange Definitionshoheit verloren hat.

Die galt in Großbritannien allerdings wenig, und dort wurde 1962 ein Werk uraufgeführt, das noch Dur und Moll kennt und bis heute zum Bedeutendsten zählt, was je zum Thema „Krieg und Frieden“ komponiert wurde: das „War Requiem“ des 49-jährigen Benjamin Britten, entstanden zur Einweihung der neuerbauten Kathedrale von Coventry – jener Stadt, über der die deutsche Luftwaffe am 14. November 1940 500 Tonnen Sprengbomben, 50 Luftminen und 36.000 Brandbomben abgeworfen hatte. „Operation Mondscheinsonate“ nannten das die musikalischen Befehlshaber. Britten hatte als Pazifist den Kriegsdienst verweigert und blieb sich darin auch im „Requiem“ treu. „Was für Totenglocken gebühren denen, die wie Vieh sterben?“, sang der englische Tenor Peter Pears in der Uraufführung. Und der deutsche Bariton Dietrich Fischer-Dieskau sang: „Ich bin der Feind, den du erschlugst, mein Freund.“ Das sind Worte des Dichters Wilfred Owen, der im Ersten Weltkrieg mit 25 Jahren das Leben verlor und diesen Krieg verachtet hatte.

Britten vertonte sie eigens für diese beiden Sänger, den Engländer und den Deutschen, während der liturgische Text dem Chor, dazu einem Kinderchor und einer Sopranistin zugeteilt wurde. Der Erfolg war bahnbrechend, die Anwesenheit von Queen Elizabeth II. unterstrich auch den politischen Rang dieses Versöhnungswerkes. Auf die nukleare Aufrüstung der Supermächte in West und Ost hatte das natürlich keinen Einfluss. Natürlich? Wie „machtlos“ die Kunst ist, auch sein muss, darüber lässt sich endlos nachdenken.

Welche Mittel aber die Musik hat, uns unsägliches Leiden so nahezubringen, dass wir auch die unsägliche Anmaßung, Borniertheit, Dummheit und Machtgier erkennen können, die dahinter steht, zeigt einer der großen Komponisten unserer Zeit, Steve Reich, 1937 geboren. Fast ein Klassiker ist inzwischen sein Streichquartett „Different Trains“ von 1988, in dem er vom Band zugespielte Zeugenaussagen zu den Transporten in die Konzentrationslager zum Gegenstand und Ausgangspunkt einer eindringlichen, dokumentarischen Musik macht. Sie fokussiert das Geschehen auf eine Weise, die nichts verkleinert, aber die Hörer nicht mit dem Rücken an die Wand drückt.

Reichs Technik, Sprachmelodien aus Audiodokumenten in instrumentale Patterns zu verwandeln, wird in der Video-Oper „Three Tales“ von 2002 aufs Visuelle ausgeweitet. Drei Fanale „technischen Fortschritts“ nehmen sich Steve Reich und Videokünstlerin Beryl Korot vor. Am erschütterndsten ist „Bikini“ (Youtube: 16’13-38’36) zu den Nuklearwaffentests, die die USA bis 1958 auf den Marshallinseln durchführten, mit unabsehbaren Folgen für die hier lebenden Menschen, die hoher Strahlung ausgesetzt wurden.

Wenn da ein US-Offizier den „Eingeborenen“ erklärt, welch wichtiger Schritt für die Menschheit das sei, und der Rhythmus seiner Worte ins Ensemble wandert; wenn die eisige Laborsprache „test designed to measure effect on metal flesh air water“ weiß auf schwarz flimmert und gleichzeitig von einem Vokalquintett gesungen wird; wenn das digital erstellte Video fast verspielt mit dem Countdown operiert, der den Livemusikern den Takt vorgibt – dann begreift man in dieser perfekt getimten, mitunter bitter ironischen Collage nicht nur die Tragweite der monströsen Aktion. Man spürt auch die Enge in den Köpfen der Verantwortlichen. Sie haben steinzeitlichen Keulenträgern nichts voraus.

Wir sind weiterhin von solchen Keulenträgern umgeben. Aber mit ihren Arsenalen wächst der Fundus von Musik, in der wir erleben, dass die Dinge ganz anders sein könnten und werden können. Dazu muss sie nicht einmal vom Leiden erzählen, das Beschwiegene zum Klang bringen, den Krieg ins Visier nehmen. Im Oktober jenes Jahres 1915, in dem die Deutschen erstmals Giftgas eingesetzt haben – 150 Tonnen Chlor auf sieben Kilometern Frontlänge – schreibt der 53-jährige Claude Debussy einem Freund: „Es wäre mutlos, an nichts zu denken als die verübten Schrecken, ohne den Versuch, darauf zu reagieren durch das Wiederherstellen – soweit es meine Mittel erlauben – jener Schönheit, gegen die diese ,Leute‘ wüten…“ Er hat in diesem Jahr ein Trio für Flöte, Viola und Harfe komponiert, wie eine glückliche Insel, schwebend und leuchtend. Nur ein schöner Traum? Mag sein. Aber man spielt es seit es einem Jahrhundert.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Elbphilharmonie Magazin 2024 / 2 “Krieg und Frieden”, erschienen im April 2024. Illustration: Screenshot aus “Bikini” in “Three Tales – a documentary digital video opera” (1998-2002), Steve Reich (Musik), Beryl Korot (Video)

Die Weite der nördlichen Zonen

Sinfonische Entgrenzungen von Esa-Pekka Salonen, Edvard Grieg und Jean Sibelius

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Für Helix braucht man inzwischen wohl eine Triggerwarnung. Eine über neun Minuten sich erstreckende Beschleunigung, mit der ein Crescendo des ganzen Orchesters (fünf Schlagzeuger eingeschlossen) verbunden ist, könnte Angstzustände auslösen. Doch bislang mündete das Stück, das Esa-Pekka Salonen 2005 schrieb, meist in den Jubel eines Publikums, das Freude am pannenfreien Heißlaufen eines großen Orchesters hat. Zu dessen Virtuosen gehört der 1958 geborene Finne als Dirigent und als Komponist. Einer, dem das Material garantiert nicht um die Ohren fliegt und der es auch nicht zerkratzt. Man findet bei Salonen keine Geräusche, sondern das Orchester etwa in jenem Zustand, in dem Strawinsky es mit seinem Le Sacre du printemps hinterließ. Das gilt auch für das rhythmische und harmonische Vokabular. In Helix wird es maximal verdichtet, dem Prinzip einer um einen Kegel gewickelten Spule folgend. Aber Salonen überlässt das Material nicht einfach nur sich selbst. Und er bringt es so behutsam in Gang, dass wir Zeit haben, uns innerlich anzuschnallen…

9. April 1870, Rom. Die Basilika Santa Francesca Romana unfern des Kolosseums wurde einst in den Ruinen eines Venustempels errichtet. Eine passendere Adresse konnte sich Franz Liszt nicht aussuchen, der hier eine komfortable Wohnung im Kloster hat. 58 Jahre alt ist er jetzt, seit vier Jahren Abbé mit niederen Weihen, stets in der Soutane und doch immer noch der funkelnde, gefeierte Virtuose des Lebens und der Kunst.  An diesem Samstag scharen sich junge Damen um ihn, „die Liszt gern mit Haut und Haaren gefressen hätten“. So beobachtet es ein junger Besucher aus Norwegen, dessen Partitur Liszt gerade auf den Chickering-Flügel in der großen Halle des Klosters gestellt hat: Edvard Grieg. Dann sind da noch Griegs Komponistenfreund August Winding, der hochbegabte Pianist und Dirigent Giovanni Sgambati und ein deutscher Bewunderer, der Liszt imitiert und selbst ein Abbékostüm angelegt hat.

Es ist eine schwankende Zeit, in der sich diese bunte kleine Gesellschaft im sakralen Ambiente versammelt. Noch, aber nicht mehr lange ist ganz Rom ein Kirchenstaat, Enklave im jungen Königreich Italien. Es herrscht jene Atmosphäre des Umbruchs, in der einer wie Liszt aufblüht. „Wollen Sie spielen?“, fragt er Grieg, der mit dem Manuskript seines a-Moll-Klavierkonzerts gekommen ist. „Ich kann nicht“, bekennt der 26-Jährige, das Stück müsse er erst noch üben. „Dann werde ich Ihnen zeigen, dass ich es auch nicht kann“, sagt Liszt und lächelt seltsam. Die Damen drängen sich näher um ihn und starren auf seine langen, schmalen Finger. Winding und Grieg, die beiden Norweger, sehen einander an, skeptisch. So etwas kann man nicht vom Blatt spielen, noch dazu aus dem Manuskript.

Liszt stürzt sich hinein in die Kaskaden des Anfangs, zunächst viel zu schnell. Aber dann beginnt er sich in der Musik umzusehen, die seine Hände mühelos aus der Partitur zaubern. Natürlich hat er gleich erkannt, dass die a-Moll-Kaskaden zu Begin denen von Robert Schumanns Klavierkonzert folgen – Grieg hat das schon als 15-jähriger Leipziger Student mit Clara Schumann am Klavier erlebt -, aber ganz andere Welten wachrufen. Kleine Sekunde und große Terz abwärts, das kommt aus der norwegischen Folklore, die Liszt nicht kennt, aber eine neue, starke Sprache erkennt er, so, wie er schon als 18-jähriger in Paris das Genie von Berlioz erkannte und in der Uraufführung Symphonie fantastique einfach aufschrie.

Das tut er jetzt nicht, aber immer wieder kommentiert er beglückt, während er spielt. Es mögen die gnomenhaften Punktierungen im Klavier sein, später das herrliche E im Horn über fis-Moll, dann ein paar harmonische Tricks, die simpel sind und doch taufrisch wirken, wie nie vorher gehört. Ohne die Anstrengung, das Zielgerichtete der Deutschen um Schumann und Brahms, freier, unter sehr weitem Himmel, auch fern von Rom. Mit Norwegen im Sinn hat Grieg sein Klavierkonzert in Søllerød nahe Kopenhagen begonnen und in Oslo vollendet.

Kurz vor Schluss springt Liszt auf und brüllt “Famos!”

Im Adagio ist Liszt sogar noch begeisterter. Er spielt das sanfte, sarabandenhafte Thema – so dürfen wir es uns vorstellen – wie die Erzählung einer großen Liebe, und seine Ornamente sind wie Zärtlichkeiten. Ohne Pause geht es danach ins Finale, in dem besonders die Norweger in der Klosterhalle nur staunen können. So, wie Liszt nach dem heftigen norwegischen Männertanz die völlig überraschende Idylle, das schwebende Thema der Flöte erscheinen lässt, sieht man hier, dem schmutzigen Tiber nahe, einen klaren endlosen Fjord vor sich. Wie Liszt später im Presto die Betonungsänderungen, die Hemiolen greift, als hätte er sie selbst dorthin gesetzt, aus zwei schnellen Dreiertakten einen langsamen machend – und wie er dann aufspringt. Ja, er springt auf, vier Takte vor Schluss, und seine Anbeterinnen treten erschrocken zurück vom Flügel.

Gerade hat er noch mit der linken Hand eine rasende Skala aufwärts genommen und mit der rechten Trompeten und Posaunen erschallen lassen. Die machen aus dem idyllischen Flötenthema ein Maestoso wie für den Circus Maximus, und aus dem Gis, dem Leitton für a-Moll, ist ein G geworden, gegen alle Schulregeln. Liszt brüllt das Thema geradezu, während er mit erhobenem Arm und hochgewachsen, wie er ist, durch die Halle schreitet. „G, g, nicht Gis! Famos!“ ruft er. Diese Szene wird später in keinem Text über das Werk fehlen, aber genau wie Griegs Konzert wird sie durch Wiederholung nicht schwächer… Liszt setzt sich wieder hin und spielt die letzten 18 Takte noch mal richtig. Nimmt die Noten, gibt sie dem Komponisten und sagt, leise und bewegt: „Fahren Sie so fort, Sie haben das Zeug dazu.“

Auch für Jean Sibelius wird Franz Liszt wichtig, aber auf andere Weise. Liszt ist schon seit fünf Jahren in Bayreuth begraben, als dort im Sommer 1894 der 28-jährige Finne, überwältigt von Tristan, Parsifal und Die Meistersinger, in eine Krise gerät und sich von eigenen Opernplänen verabschiedet. „In Wirklichkeit bin ich ein Tonmaler und Dichter“, schreibt Sibelius seiner Frau Aino. „Ich stehe der Meinung von Liszt über die Musik am nächsten…“ Das ist allerdings eher eine Bestätigung des Wegs, auf den sich Sibelius mit Kullervo längst begeben hat, einer Komposition der Heldensage aus dem finnischen Nationalepos Kalevala. Die Uraufführung 1892 in Helsinki ist sofort als „Geburtsstunde der finnischen Musik“ gefeiert worden, und das sagt schon einiges über das Spannungsfeld, in dem sich Jean Sibelius bewegt.

Da ist der kulturelle und politische Einfluss Schwedens einerseits und Russlands andererseits, eine komplexe Geschichte, keineswegs nur eine der Unterdrückung, die zum Erwachen eines finnischen Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert führt. Es gibt eine unter schwedischer Herrschaft etablierte europäische Kultur, es gibt seit 1809 ein russisches Großfürstentum Finnland mit schwedischen Gesetzen, und mit dem wirtschaftlichen Erfolg Finnlands wächst der Wunsch nach Autonomie, die Suche nach eigener Identität. Für diese spielen die überlieferten Tonformeln eine große Rolle, mit denen die Verse aus der Kalevala zu rezitieren sind, gebildet aus einem melancholischen Fünfklang in Moll. Hunderte dieser Formeln sind im 19. Jahrhundert in Finnland aus der mündlichen Überlieferung transkribiert worden, und sie inspirieren Sibelius.

Doch nicht weniger beeindruckt ihn in Wien 1890 eine Aufführung von Bruckners Dritter Sinfonie. Bruckner, Wagner, Liszt, dazu noch Tschaikowsky – das sind die Zeitgenossen, die Sibelius anregen. Tschaikowsky in der Körperhaftigkeit des Orchesterklangs, Liszt als komponierender Erzähler, Wagner als Faszinator, zu dem jeder eine eigene Position finden muss, Bruckner als Outsider, der das Arbeiten an Sinfonien in ein neues Universum geführt hat. All diese Einflüsse treffen sich mit Sibelius´ „finnischem“ Ton in seiner Zweiten Sinfonie so offen wie vorher und nachher nicht, ein Werk übrigens, dessen Entstehungsgeschichte 1901 auf einer Italienreise beginnt, nicht in Finnland.

Wie nach und nach ein Thema erscheint

Eigentlich zeigt jeder Satz eine andere Position inmitten der Strömungen, der erste wohl die am meisten ausbalancierte. Wie sanft uns die Streicher entgegenkommen, mit welcher Selbstverständlichkeit sich alles entfaltet – das hat etwas vom Erleben einer Landschaft. Wenn man sich das Material näher ansieht, kommt hinter dem Naturhaften eine geniale Themendisposition zum Vorschein, besonders beim nachhaltigsten Thema. In voller Größe erscheint es erst nach zwei Dritteln des ersten Satzes. Es ist uns aber vorher schon nach und nach bekannt geworden, wie ein Berg, den man auf kurvigem Weg zunächst in Auschnitten oder umrisshaft durch das Laub der Bäume schimmern sah. Den ersten Teil dieses Themas spielen die Holzbläser schon früh: Ein über dreieinhalb Takte gehendes C, von dem eine kleine Wellenbewegung aus Achteln in eine Quinte nach unten mündet.

Es ist da noch umhüllt von Blechbläsertönen und dem Bogenvibrato der Streicher, mit dem der Satz begann. Zusammen mit den Streichern ist es wenig später deutlicher zu hören. Dann folgen 14 Takte gespannter Ungewissheit, die Oboe spielt das Thema allein auf weiter Flur, das Fagott spinnt es fort bis zu einem sehr auffälligen, fast dramatischen Sprung nach oben, im „Teufelsintervall“ einer verminderten Quinte. Immer wieder kommen Details ins Spiel, die wir schon kennen und bereits wieder vergessen haben, und tragen bei zu der eigentümlichen Vertrautheit im Neuen, das sich entwickelt. Nach vielen Andeutungen und Anläufen ist es dann pures Glück, das Thema komplett zu erleben, mit Paukenwirbel und acht Takte lang.

Bis dahin hat Sibelius ein anderes Thema, sein bis dahin etwa zehntes, aus Vorstufen entwickelt und so exzessiv gesteigert, dass man sich fragen konnte, wohin das noch führen soll. Voilà: zum vollen Bergblick! Ungefähr zehn Themen (je nach dem, wo man die Grenze zwischen Motiv und Thema ziehen möchte, was bei Sibelius nicht viel Sinn hat) – das liest sich komplex. Aber alles ist so unangestrengt aufeinander bezogen, derartig aus einer Vision heraus entwickelt, dass wir uns immer gut aufgehoben fühlen. Dazu noch gibt es unverhoffte Harmonien, die in die Zeit vor der Diatonik führen, Durakkorde wie aus der Renaissance, reines Blau, reines Grün…

Im zweiten Satz wächst ein Motiv, ein Thema aus dem anderen so hervor, dass wir uns nicht mehr auf einem klar sichtbaren Weg befinden, sondern in einer Wildnis. Sibelius kann ohne Vorwarnung Gefahren hervorbrechen lassen, etwa Violinen wie angreifende Hornissenschwärme – aber anders als etwa bei Mahler führt so etwas nie zu Katastrophe oder Durchbruch. Stattdessen, beispielsweise, in ein Bruckner-Idyll, Triolen der Streicher zum Viervierteltakt der Bläser, die auch hier und da mal den Tristanakkord spielen. Anspielungsreiche Anarchie, zusammengehalten von einem Thema in der Melancholie der Kalevala-Formeln.

Dann, im dritten Satz, wieder eine andere Perspektive, die man eine der kosmopolitischen Raffinesse nennen könnte: Sibelius liefert ein (von ihm nicht so genanntes) Sechsachtel-Scherzo, das Tschaikowsky in einer siebten Sinfonie hätte schreiben können: spritzig, elegant, drängend, mit einem Mittelteil, in dem sich Tschaikowsky und Sibelius gleichsam an der Grenze ihrer Heimatländer im einsamen finnischen Südosten treffen. Das Thema beginnt mit einem achtmal wiederholten b in der Oboe, halb Ruf, halb Naturlaut, bevor sehnsüchtiges Melos daraus wird. Dieser B-Teil ändert nicht nur die Reprise des schnellen A-Teils, in dem nun Schatten zu hören sind, er führt am Ende auch ins Finale.

Was dann passiert, ist nicht sehr subtil, aber eben auch ein Aspekt dieser Sinfonie. Das Finale beginnt schon, wie es enden wird. Man kann dem triumphalen Thema zugute halten, dass es aus den Kontrasten im dritten Satz hervorgeht, und man kann auch nicht behaupten, dass neben dieser Pracht kein Gras mehr wachse. Es gibt noch andere Themen und Motive, auch nachdenkliche. Aber sie taugen nur zum Atemholen, nicht für Unwägbarkeiten und Überraschungen. Dass nun „alles gut“ ist, steht außer Frage. Was etwas überrascht. Denn ein Kampf, dem ein derartiger Triumph folgen könnte, hat den Komponisten vorher nicht interessiert – dieses Finale ist wohl auch die vom finnischen Publikum erwartete Botschaft auf dem Weg zur Autonomie der Nation. Bei der Uraufführung am 8. März 1902 im ausverkauften Saal der Universität von Helsinki bricht Begeisterung aus, der 36jährige Sibelius erhält Lorbeerkränze. Nimmt man aber die mutmaßliche politische Botschaft weg, bleibt doch etwas Neues. In der additiven Struktur des Finales ist auch die pure Lust am Material zu erleben – gut hundert Jahre, bevor sie bei Jean Sibelius´ Landsmann Esa-Pekka Salonen und Helix ins Zentrum rückt.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programm des Gürzenich Orchesters Köln, das die Werke unter der Leitung von Tarmo Peltokoski – mit dem Solisten Jan Lisiecki am Klavier – am 4. und 5. Februar 2024 in der Kölner Philharmonie spielt. Illustration: Edvard Munch, Landschaft mit Fjord (1906), Bühnenbildentwurf für Henrik Ibsens Gespenster (3. Akt, letzte Szene), Öl auf Leinwand, Munch Museum Oslo

Himmel mit und ohne Menschen

Gebrochene Blicke in die Ewigkeit: Strawinskys „Psalmensinfonie“ und Mahlers Vierte Sinfonie ergänzen einander über eine weite Distanz

Ich habe seit zwanzig Jahren nicht gefastet, und ich tue es nun aus größter geistiger und spiritueller Notwendigkeit heraus“, schreibt Igor Strawinsky am 6. April 1926 aus Nizza an den Freund und Impresario Serge Diaghilev. Er werde zur Beichte gehen. „Serjoscha“ ist tief gerührt und begrüßt den 44-jährigen als Bruder im Schoß der russisch-orthodoxen Kirche, die für Strawinsky kaum noch eine Rolle spielte, seit er in Paris zum shooting star wurde. Doch im späteren Paris der 1920er, Strawinskys geistigem Lebensmittelpunkt, liegt das (Re-)Konvertieren in der Luft, gerade bei Intellektuellen. Im Vorjahr ist Jean Cocteau katholisch geworden, mit dem der Komponist eng zusammenarbeitet. Man liest Jacques Maritain, den katholischen Philosophen auf den Spuren des Thomas von Aquin, dessen Schriften auch in Strawinskys Bibliothek stehen, man ist fasziniert von mittelalterlicher Demut und Anonymität, von neuer Spiritualität.

Für Strawinsky, mutmaßt sein amerikanischer Assistent Robert Craft, kommen noch Schuldgefühle dazu: Er hat mit dem Wissen seiner an Tuberkulose erkrankten Frau Katia eine anhaltende Beziehung mit Vera Sudeikina. Zudem soll es im Frühjahr 1926 ein Erweckungserlebnis gegeben haben. Auf dem ersten, kurzen Flug seines Lebens, von Triest nach Venedig, ist der Komponist einer Pilgergruppe begegnet und ihr zum 700. Geburtstag des Heiligen Antonius nach Padua gefolgt, so will es sein Biograph Eric Walter White von ihm gehört haben, und dort habe es „den wirklichsten Moment meines Lebens“ gegeben. Kein Zweifel besteht jedenfalls daran, dass der Mann tief gläubig ist, der sich Anfang 1930 an die Arbeit macht, eine Psalmensinfonie zu schreiben.

Das ist nicht gerade das Werk, mit dem Auftraggeber Sergej Kussevitzky rechnet, Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra, dessen 50-jähriges Bestehen mit der Novität gefeiert werden soll. Ist es überhaupt eine Sinfonie, dieses Oratorium in drei Sätzen, in denen ein gemischter Chor Verse aus den Psalmen 38 und 39 (nach vorlutherischer Zählung), „Erhöre mein Gebet, Herr“ und „Ich harrte des den Herrn“ sowie den ganzen Psalm 150 („Halleluja“) singt? Auf jeden Fall, so der Komponist, ist es „keine Sinfonie, die auch das Singen von Psalmen umfasst. Im Gegenteil, ich mache das Singen von Psalmen zur Sinfonie.“ Gleichzeitig macht er die Sänger zu Instrumenten des Orchesters. Den lateinischen Text hat er auch gewählt, „um die Stimme vom Ausdruck zu distanzieren.“ Nichts Subjektives!

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Igor Strawinsky ist noch nie ein Subjektivist gewesen, mit Hector Berlioz etwa konnte er überhaupt nichts anfangen, und sein berühmtestes Werk, Le sacre du printemps, ist bei aller Heftigkeit frei von individueller Emotion. Schon zur Uraufführung 1913 erklärte er, warum das Stück ohne Streicher beginnt: Sie seien mit ihrem Crescendo und Diminuendo „zu anregend, zu sehr die menschliche Stimme repräsentierend“. In der „Psalmensinfonie“ von 1930 dürfen keine Geigen und Bratschen mitspielen, dafür aber zwei Klaviere. So entsteht ein herber, kantiger Klang, dem gerade am Anfang eine ebensolche Struktur entspricht: absolut vertikal. Unmelodiös repetierende Bögen von Flöte und Fagott, Schläge dazwischen. Aber so maschinell, wie der Zweivierteltakt eingeführt wird, bleibt er nicht. Das Solocello bereitet mit einem Legato den Einsatz der Altstimmen vor, die freilich, wenn sie „lacrimas meas“ singen, „Schweige nicht zu meinen Tränen“, ungerührt bei ihrem Wechsel zwischen f und e bleiben, während das Orchester unbekümmert Achtel pocht und vom Text nichts zu wissen scheint. Das soll auch so sein. Strawinsky wollte in der Psalmensinfonie den „lyrisch-sentimentalen ,Gefühlen‘ vieler Komponisten“ etwas entgegensetzen, wie er im Gespräch mit Robert Craft erklärte.

Aber warum wird dann die Bitte an Gott „Ne sileas“, „Schweige nicht“, gleich zweimal im Forte gesungen, mit Nachdruck also, während aus den umgebenden Achteln Sechzehntel werden und Dringlichkeit ins Geschehen kommt? Die währt bis zum Schluss des blendend getimten kurzen Satzes, immer gesteigert bis zu einem gleißenden G-Dur. Schon 1923 erklärte Strawinsky zu seinem Oktett, die Form eines „musikalischen Objekts“ sei bestimmt vom Material, 1935 verschärfte er das: „Musik genügt sich selbst. Suche nicht nach irgendetwas hinter dem, was sie schon enthält.“ 1967: „Die Noten selbst sind das Ende der Straße.“ Wenn das so wäre, bräuchten sie keine Hörer mehr.

Das Spannende an der „Psalmensinfonie“ ist gerade ihr Widerspruch zu Strawinskys Vorstellung einer absoluten, objektiven Musik. Der zweite Satz beginnt mit der „objektivsten“ Form nach dem Kanon, einer Fuge, einem wunderschönen Bläsergespinst, aber er gipfelt in einer Katastrophe. Ihr geht ein stilistischer Rückblick voraus, vielleicht die einzige Passage in Strawinskys Œuvre, die an Mahler denken lässt. Zu den Worten „Er stellte meine Füße auf einen Fels…“ hören wir umarmende Harmonik im Sonnenuntergang der Diatonik. Nun könnte es noch schöner werden: „Er gab mir ein neues Lied in meinen Mund…“ Doch es ist blankes Entsetzen, das wir da hören – auf dem Wort „novum“ wird ein Maximum an siebentöniger Dissonanz erreicht. Das kann hier nur programmatisch verstanden werden. Wenn das das neue Lied für Gott ist, dann wird ihm darin mitgeteilt, wie es um seine Welt beschaffen ist.

Dann ist auch klar, warum im „Halleluja“ nicht gejubelt wird. Das „Lobet ihn“ gleicht einem Kondukt, dumpf und schleppend. Danach kippt das Orchester in rasende Motorik, ein hypervirtuos komponierter Rummelplatz, mitreißend, wahlweise kann man verselbstständigtes Material oder hysterisch gute Laune hören, und darin wird das „laudate Dominum“ zu eiligen Silben verkleinert. Es folgen 50 Takte in schwerem langsamem Dreiermetrum, ganz frei vom Jubel, den der Psalm umfasst, statisch, endlos scheinend, fast wie eine Welt vor oder nach den Menschen. Auf jeden Fall: Viel Raum und Zeit, um nachzudenken.

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Dauernd bleibt Mahler zurück, um sich etwas zu notieren. Er kommt beim Spazierengehen kaum seinen Einfällen hinterher, geschweige denn den drei Menschen, mit denen er im Sommer 1899 in der Steiermark Urlaub macht – seine Schwester Justine, der Geiger Arnold Rosé, der ihr nahe ist, und Natalie Bauer-Lechner, die geduldig hofft, dass Gustav Mahler sich doch noch in sie verliebt. Aber der 39-jährige, seit zwei Jahren Direktor der Wiener Hofoper, hat endlich Ideen für seine Vierte Sinfonie, drei Jahre nach der Dritten, und nur jetzt Zeit, das Nötigste festzuhalten. In der vorigen Spielzeit hat er an der Oper 97 Aufführungen dirigiert, dazu acht Konzerte außerhalb, und genauso wird es weitergehen. Außerhalb der Ferien hat Mahler im Schnitt alle drei Tage einen Auftritt, wozu man sich noch ein paar Proben denken darf. Aber Erholung im Urlaub kommt nicht in Frage, wenn sich ein Werk im Kopf abzeichnet.

Die Grundidee ist immerhin entstressend: Für das Finale wird er den Satz nehmen, der 1892 für die Dritte entstand und ihm dann nicht gewaltig genug war, die Vertonung eines fromm-verrückten Gedichts aus Achim von Arnims und Clemens Brentanos Sammlung Des Knaben Wunderhorn. Nun muss der Rest dazu passen, dort hinführen, was Folgen für Proportionen und Instrumentierung hat: Die Sinfonie wird so kurz wie keine andere von Mahler, also immer noch doppelt so lang wie eine von Haydn, aber nicht länger als beide Ecksätze der Dritten zusammen. Und es gibt weder Posaunen noch Tuba, es wird alles so licht und blau wie ein Sommertag… scheinbar jedenfalls und dem zufolge, was Natalie von Gustav dazu erfährt: „Stell dir das ununterschiedene Himmelsblau vor, das schwieriger zu treffen ist als alle wechselnden und kontrastierenden Tinten.“ Das ewige Blau könne aber „plötzlich grauenhaft“ werden, „wie einen am schönsten Tage in einem lichtübergossenen Wald oft ein panischer Schreck überfällt.“

Das lässt an Strauss´sche Tondichtungen denken, ist aber in jeder Hinsicht das Gegenteil: Eine Sinfonie mit klassischen vier Sätzen, ganz ordentlich aufgebaut, mit einem zugänglichen, überschaubaren ersten Thema. Aber das ist ein bisschen schräg, mit einem wienerischen Glissando darin, Kitschgefahr, und ihm gehen drei Takte Flötenachtel mit Schelle voraus. Eine „Narrenschelle“, befand Theodor W. Adorno 1960, „die, ohne es zu sagen, sagt, was ihr nun vernehmt, ist alles nicht wahr.“ Aus seiner Interpretation der Vierten als „Als-ob von der ersten bis zur letzten Note“ hat sich geradezu ein Dogma der Rezeption entwickelt – die Musik gilt vielen als „ironisch“, passend zum Bild von Mahler als dem Komponisten kommender Katastrophen, für den so etwas wie Ungebrochenheit oder, schlimmer noch, gute Laune, nicht in Frage kommt.

Die Vierte zeigt aber besonders im ersten Satz, dass sich auch in echt guter Laune etwas „Gebrochenes“ schaffen lässt, im Vollgefühl der Beherrschung des Metiers, von der Mahler selbst fand, sie habe hier ein neues Niveau erreicht. Das erste Thema mutet nicht nur trivial an, es klingt dazu noch eher wie die zweite Hälfte eines Themas. Mit insgesamt sieben Themen entsteht dann eine so raffinierte wie lichte Konstruktion, in der das wunderbar sehnsüchtige Cellothema (das fünfte) um so emphatischer wirkt, kein bisschen ironisch. Es geht um Spiel wie um Ernst, und aus dem einen kann das andere werden.

In der Durchführung werden unterschiedlichste Motive so gegeneinander geschnitten, dass sich geradezu szenische Perspektivwechsel ergeben, dann verselbstständigt sich das Material zu einer kleinen Walpurgisnacht mit grausigem Höhepunkt im dreifachen forte, dem nach 14 Takten „einer der genialsten Momente überhaupt bei Mahler“ folgt, wie der Dirigent Michael Gielen den Übergang zur Reprise nennt. Ordnungsgemäß kommt das erste Thema wieder zum Einsatz – aber dem fehlen die ersten beiden Takte! So als wären sie ohnehin gerade erst gespielt worden, dann kam etwas dazwischen, und nun geht´s weiter. So kann man „Reprise“ auch definieren. Das ist Dekonstruktion innerhalb der Konstruktion. „Es scheint, als ob hier die bedeutende Kombinationsgabe des Tonsetzers lediglich um ihrer selbst willen ihre Kräfte versprühe“, zürnte der Uraufführungskritiker Theodor Kroyer 1901.

Was ja auch schön sein kann, wenn auch eher im Sinne des Neoklassizisten Strawinsky. Mahlers Sinfonie hat aber ein ungeschriebenes Programm, und man hört es sogar gleich anfangs. Die Schellentakte sind kein Narrensignet, sondern vorwegnehmendes Zitat aus dem Finale, wo dieser Klang mehrfach eingesetzt wird zur Ausmalung der „himmlischen Freuden“. „Diese Metallinstrumente“, sagte dazu der Dirigent (und Archäologe) Guiseppe Sinopoli, „waren immer ein Ausdruck der Freude, auch in den alten Kulturen, wenn wir zum Beispiel an Mesopotamien denken, oder an Ägypten oder Griechenland.“ Mahler hat den Himmel, der sich im „Wunderhorn“-Gedicht so prall entfaltet mit lauter Heiligen, die Lämmer und Ochsen schlachten und Fische fangen, mit brotbackenden Engeln und einer lachenden St. Ursula, gleichsam wie ein Kind vertont, mit höchster Kunst Einfachheit geschaffen und zum Gesang angemerkt: „mit kindlich heiterem Ausdruck; durchaus ohne Parodie!“

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Kindheit war für Mahler eine große Welt. Die Spielleute und Klezmorim, die er in Iglau gehört hatte, tauchen überall in seiner Musik auf, auch die Militärkapellen; zur Sphäre des „Trivialen“ musste er sich nicht herablassen. Der klezmernahen Solovioline in seiner Achten geht die voraus, die „wie eine Fidel“ im diabolischen Scherzo der Vierten zu hören ist und wie eine Trösterin nach einer dramatischen Entwicklung im langsamen Satz erscheint. Am Ende des Finales deuten Englischhorn und Harfe Bordunklänge an, wie sie in Mahlers Kindheit von Dudelsäcken und Drehleiern zu hören waren. Dass ein Knabe aus jüdischer Familie, der als Berufswunsch „Märtyrer“ geäußert haben soll, sich im katholischen Mähren für katholische Heilige interessierte – möglich.

Unzweifelhaft war aber schon für Gustav Mahler als Komponisten der Auferstehungssinfonie, seiner Zweiten, „die Herrlichkeit Gottes“. „Ein wundervolles, mildes Licht durchdringt uns bis an das Herz“, hatte er dazu notiert. Im Finale der Vierten nähert er sich diesem Licht aus artifizieller Kindersicht, und ihre gutgelaunten Heiligen haben sicher auch ihren Platz in Mahlers „Privatreligion“, wie Jens Malte Fischer die undogmatische Perspektive zwischen Goethes Pantheismus und Naturreligiosität nennt. Dass der Komponist sich in Hamburg nur deswegen katholisch taufen ließ, weil er im antisemitischen Wien sonst nicht den Hauch einer Chance auf seinen Traumjob gehabt hätte, ist bekannt. Dass er aber einen Sinn für die Heldinnen und Helden dieser Konfession hatte, nicht erst für die Goethe´sche „Himmelskönigin“ der Achten, das darf man seinen „Himmlischen Freuden“ auch mal ironiefrei zugestehen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programm “Hinauf”, das vom Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von François-Xavier Roth  am 27. August 2023 um 11 Uhr in der Kölner Philharmonie aufgeführt wird, mit der Sopranistin Sioban Stagg und dem Bürgerchor Köln. Illustrationen: Strawinsky, nachkolorierte Fotografie, um 1930 (Gürzenich-Programmheft), Grafik und Textausschnitt der Erstausgabe von “Des Knaben Wunderhorn”, 1806 (Deutsches Textarchiv)