Fern sei die Zivilisation

Während im 19. Jahrhundert Gott, Zeit und Raum schrumpfen, dehnen sich in der Musik Felder und Wälder, Berge und Meere aus

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Es war ein Großstädter, der in Wien die Pastorale schrieb. Für uns sind 250.000 Einwohner nicht mehr viel, aber um 1800 hatte selbst London noch nicht die Million erreicht (im Gegensatz übrigens zu Peking). Wien war eine Großstadt, deren Vorstädte und -orte rasant ins Umland hineinwuchsen. Ludwig van Beethoven, 36 Jahre alt, träumte von Land und Ruhe um so mehr, als es unruhige Zeiten waren. 1805 hatten Napoleons Truppen die Stadt kampflos besetzt, ehe sie bei Austerlitz Russen und Österreicher vernichtend schlugen und tausende russischer Kriegsgefangener in den Spitälern, Klöstern und Schulen der Kaiserstadt lagen. Die Pastorale entstand 1807 und 1808, nach Napoleons Abzug und ein Jahr vor seiner Wiederkehr nebst Beschuss der Stadt.

Mit den Napoleonischen Kriegen beginnt ein Jahrhundert umwälzender Veränderungen, an dessen kalendarischem Ende mehr als 200.000 Kilometer Eisenbahnschienen Europa überziehen und elektrische Telegraphenleitungen ein erstes Worldwide Web bilden. Sein historisches Ende ist der Erste Weltkrieg. Und in diesem Jahrhundert, in dem Triumphe der Wissenschaft und soziales Elend gleichermaßen die Welt entzaubern, breitet sich in der Musik die Natur aus. Nicht als Genrestück barocker Hirtenidyllen und kurzer Seestürme für die Opernbühne, effektvoller Jahreszeiten für den Konzertsaal oder als sakrale Hirtenmusik zur Geburt Jesu, sondern als orchestrale Projektionsfläche – ganz zu schweigen von unzähligen Naturmetaphern in Liedern von Schubert bis Wolf, den Flüssen, Wäldern, Bergen in Klavierimpressionen von Liszt bis Grieg.

Biblische Rinder, aufgeklärtes Chaos

An der Bruchstelle zwischen der Säkularisierung und der Natur als neuem Hoffnungsträger steht Joseph Haydns Schöpfung, 1799 im Wiener Burgtheater erstmals öffentlich aufgeführt. Fern der Liturgie entdeckt ein Zeitgenosse der Aufklärung die Bibel neu – das führt zu stilistischen Spannungen. Während im „Chaos“ die Verunklarung harmonischer Bezüge weit in die Zukunft weist, zitiert ein Bariton fast im Duktus eines Papageno aus der Genesis. Und während der Sonnenaufgang noch heute als atemberaubende Erweiterung des Klangraums zu erleben ist, führt Haydn die Tiere wie in einem postbarocken Kasperltheater vor. Seine Rinder grasen im Pastoralrhythmus, den man schon aus Messias und Weihnachtsoratorium kennt , und die sakrale Erzählung dazu wirkt fadenscheinig, ehe noch Darwin geboren ist.

Beethoven nannte die Schöpfung seines Lehrers „ein Lehrgedicht“. Seiner eigenen Pastorale gab er die Erklärung „mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“ mit auf den Weg, um nicht in den Verdacht der Tonmalerei zu geraten, die Kritiker sogar Haydn vorgeworfen hatten. „Malereien“, hatte 1771 der einflussreiche Ästhetiker Johann Georg Sulzer am Beispiel von Meeresbrausen, Donner und Blitz geschrieben, „sind dem wahren Geist der Musik entgegen, die nicht Begriffe von leblosen Dingen geben, sondern Empfindungen des Gemüts ausdrücken soll.“

„Das ist kein Regen mehr, das ist das Ende der Welt“

Hector Berlioz kannte diesen Diskurs nicht. Er war anno 1829 dabei, als Beethovens Pastorale erstmals (und exzellent) in Paris gespielt wurde. „Wir haben es hier mit wahrer Natur zu tun“, schrieb er vier Jahre später und fand an den Imitationen nur auszusetzen, dass der Gesang einer Nachtigall von Instrumenten mit halbtöniger Stimmung nicht zu realisieren sei – ein Problem, das nicht nur Nachtigallen betrifft und in neuer Dimension eigentlich erst von Olivier Messiaen gelöst wurde. Im vierten Satz der Sinfonie hörte Berlioz weit mehr als nur einen Sturm. „Das ist kein Regen mehr, kein Wind, das ist eine grauenhafte Katastrophe, die universale Sintflut, das Ende der Welt“, schrieb er 1833. Berlioz hatte da schon das Ende der napoleonischen Welt und die Julirevolution von 1830 miterlebt – keine Weltuntergänge, aber er wusste, wie jäh und grundlegend sich die Verhältnisse ändern können.

Auch Beethovens Landidyllen beeindruckten ihn, der dank seiner Heroen Gluck und Weber stark von der Bühne dachte. Er schrieb sie fort in der „Scène aux champs“ seiner Symphonie fantastique (kurz nach der Erstaufführung der Pastorale, kurz vor der Julirevolution), mit Hirtendialogen zwischen sanft raschelnden Bäumen, auf die er in seiner Programmnotiz eigens hinweist. Die Ungewissheit des verliebten Helden ist in der flimmernden Atmosphäre zu spüren, und seine Enttäuschung kündigt sich im Donnergrollen der Pauken am Ende an. Den 25-jährigen Robert Schumann brachte diese Partitur in Verlegenheit. Sie faszinierte ihn, obwohl er Programme zur Musik für etwas „Charlantanmäßiges“ hielt, nicht dem deutschen Reinheitsgebot entsprechend. Er rang sich dazu durch, „zufällige Einflüsse und Eindrücke von außen nicht zu gering“ anzuschlagen: „Unbewußt neben der musikalischen Phantasie wirkt oft eine Idee fort, neben dem Ohr das Auge.“ So könnten sich „gewisse Umrisse“ in der Musik „zu deutlichen Gestalten verdichten und ausbilden.“

Die Fliege im Park von Pankow

Keineswegs unbewusst hatte auch Felix Mendelssohn so etwas längst realisiert, freilich im formalen Schutz einer Schauspielmusik, dem Sommernachtstraum von 1826. Bekannt ist der Eselsschrei – jene große None im Rüpeltanz, die bis heute jeder Esel genauso schreit, wie Mendelssohn sie festgehalten hat. Weniger bekannt ist, was aus der dicken Fliege im Park von Pankow wurde. Dorthin war Mendelssohn mit einem Freund geritten, dort hatte er, als sie im Grase plauderten, plötzlich das Gespräch unterbrochen, um dem brummenden Insekt zu lauschen. Als der Sommernachtstraum fertig war, zeigte er dem Freund die Takte 264 bis 270 in der Partitur: Da brummt eine Achtelkette der Celli einsam von h-Moll nach fis-Moll. „Das ist die Fliege,“ sagte Felix. Der übrigens, wie Berlioz, beeindruckt war durch die Verschmelzung von Naturmotivik und Klangsymbolik, wie Carl Maria von Weber sie in seinen Opern realisierte.

Die Oper des 19. Jahrhunderts setzt gern Natur als höhere Gewalt ein – der Aufstand in Daniel Aubers Die Stumme von Portici wird durch einen Vulkanausbruch beendet (während die Oper selbst 1830 zum Auslöser der belgischen Revolution wurde). Wahrhaft katastrophisch bricht das Meer in einer Partitur herein, die 1841 entsteht, unfern der Bahnstation Meudon an der frisch eröffneten Eisenbahnstrecke von Paris nach Versailles. Hier komponiert Richard Wagner die Urfassung seines Fliegenden Holländer, der als legendenhafte Meeresoper geradezu ein Gegenentwurf zur boomenden Metropole Paris ist, in der Wagner nicht Fuß fassen kann, aber ein Übermaß an Eindrücken erhält.

Dazu gehören auch die sozialen Spannungen im Kapitalismus, dessen verhängnisvolle Mechanik Wagner im Ring des Nibelungen vorführt. Die Welt vor den Fluch des Goldes und seiner Macht stellt Wagner als reine Natur dar, statisch und fließend zugleich – 136 Takte lang fließt in Es-Dur der Rhein im Rheingold dahin. Weitaus länger noch wird der Ton C gespielt, der bei Félicien David in die Wüste Arabiens führt, in Le Désert von 1844 – dem Jahr übrigens, in dem William Turner die erste Dampflok in die Kunstgeschichte fahren lässt und Felix Mendelssohn liebevoll die Lok „Saxonia“ zeichnet. Heute kaum bekannt, ist Die Wüste eines der erfolgreichsten Werke im Paris jener Zeit, eine „ode-symphonie“ mit Orchester, Sprecher, Solist und Chor, in der Kamelkarawanen unter brennender Sonne durch die Wüste ziehen. Hier findet die Sehnsucht nach exotischer Ferne Ausdruck, der ein Gustave Flaubert zuerst als Reisender und dann als Autor des Romans Salammbô folgt.

Die Natur wird politisiert

Freilich spielt auch ein kolonialistisches Moment in solche Programmusik hinein. Mit zunehmendem Nationalismus wird die Natur politisiert. Bedřich Smetana, deutschsprachig aufgewachsen unter habsburgischer Herrschaft, träumte von einer Musik, in der „die tschechische Seele ihren Widerhall finden würde“, und realisierte sie im Zyklus Mein Vaterland. Auf dessen erste vollständige Aufführung 1882 reagierten die Prager so enthusiastisch, mit Überreichung von Kränzen in den nationalen Farben, als sei in der Musik die politische Autarkie der Böhmen und Mährer schon wahr geworden. Autark war der Komponist auf jeden Fall in seiner Emanzipation vom Vorbild der sinfonischen Dichtungen Franz Liszts, der an der Sonatenform festhielt. Formal offen folgte Smetana seinen Motiven, und mit der Moldau landete er einen Welthit, neben dessen erzählerischer Qualität das andere „Naturstück“ seines Zyklus durch dichte Struktur beeindruckt: Aus Böhmens Hain und Flur.

Unterdessen war das europäische Eisenbahnnetz auf 190.000 Kilometer gewachsen in den gut 50 Jahren seit der ersten Eisenbahnstrecke zwischen Liverpool und Manchester (1830); ähnlich exorbitant sind die Zahlen zur Entwicklung der Bevölkerung Europas: Zwischen 1850 bis 1900 wuchs sie von 274 auf 423 Millionen Menschen. Schon 1862 hatte der Großstädter Hector Berlioz in Beethovens Pastorale eine weitere Qualität entdeckt: „Diese ungeheure Fläche, die unter der Mittagsonne schlummert, der Mensch ist abwesend!“

„Wie ein Naturlaut“ , größte Weite evozierend, beginnt 1889 die erste Sinfonie von Gustav Mahler. Interessant, dass sich Adorno 1960 von eben diesem Beginn an den „unangenehm pfeifenden Laut altmodischer Dampfmaschinen“ erinnert fühlte. Immer wieder bezieht sich Mahler auf Natur. In der katastrophischen Sechsten (1904) markieren echte Kuhglocken Inseln des Friedens. Michael Gielen hört da „die Befreiung, die Mahler empfand, wenn er auf die Alm ging.“ Auch Maurice Ravel suchte komponierend Freiheit in der Natur. Er fand sie zwischen Antike und Aufklärung, im „Griechenland meiner Träume, das genau jenem Griechenland entspricht, wie es sich die Künstler am Ende des 18. Jahrhunderts vorgestellt und gemalt haben.“

Diese Welt realisierte er mit modernsten Mitteln 1912 in der Ballettmusik Daphnis et Chloé, mit dem wohl berühmtesten Sonnenaufgang der Musikgeschichte. Um „keinen Laut außer dem Gemurmel der Bächlein“ hören zu lassen, setzt Ravel rund hundert Instrumente ein. Die gewaltigen Besetzungen dieser Jahre werden meist mit gewachsenem Publikum und einer generellen Tendenz zur Expansion in Verbindung gebracht. Doch ließe sich erwägen, ob hier, nachdem im 19. Jahrhundert Zeit und Raum geschrumpft waren, nicht auch Ausweichwelten geschaffen wurden.

Gletscher, Gipfel und Gewitter

Mit Sicherheit gilt das für ein Werk, in dem das orchestrale Naturschutzgebiet an seine Grenze geriet, 110 Jahre nach Haydns oratorischem Entwurf. Die Alpensinfonie von Richard Strauss entstand in den Jahren 1914 und 1915; ein Jahr nach Beginn des Weltkriegs hat der Komponist die Uraufführung in Berlin dirigiert. Noch größer besetzt als Ravels Daphnis ist das Werk, allein im Fernorchester spielen zwölf Hörner mit. Sonnenaufgang, Gletscher, Alm, Gipfel, Gewitter – fern sei die Zivilisation. Doch wer heute die historische Situation mitdenkt, hört, wie die Musik durchscheinend wird und – mit ihrer schier filmmusikalischen Stringenz – mitten in den Krieg führt. Da ist die maßlose Arroganz mit maßlosen Mitteln, die jubelnde Kriegsbegeisterung, da erheben sich stolz die Säulen der Ministerien, da sind Giftschwaden über Flandern in herrlicher Beleuchtung und brutale Attacken aus allen Rohren.

Man muss das nicht so hören, aber man kann. Worin ja auch ein starkes Argument für die musikalische Naturschilderung liegt: Ihre Programme legen die Rezeption nicht fest, sie öffnen sie einem mehrschichtigen Hören, dem das „Uneigentliche“ kein Makel ist. Und diese Werke erneuern nicht nur immer wieder die kompositorischen Formen, sie gewähren auch den Blick auf die Situation der Komponisten. Mit der Alpensinfonie und dem Ersten Weltkrieg endet das „alte“ Europa der unbegrenzten Expansion und der Natur als Projektionsfläche in der Musik. Jener Komponist, der sich danach am konsequentesten der Natur zuwendet, Olivier Messiaen, ist gläubiger als jeder Intellektuelle am Ende des 18. Jahrhunderts und scheut keinen Aufwand, um den kleinsten und klangvollsten Wirbeltieren gerecht zu werden – den Vögeln.

Dieser Text erschien in 128, dem Magazin der Berliner Philharmoniker, Nr. 2 2017 (Juni), und ist urheberrechtlich geschützt. Illustration: Joppe Berlin.
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