Die ungleichen Brüder

Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel Bach kommen mal eben in die Zürcher Opernkantine – eine rare Begegnung anlässlich des Tanzabends “Corpus”

Nur einer? Er steht vor der Glastür und blickt unruhig auf und ab, die kräftigen Augenbrauen sind zusammengezogen. „Herr Musikdirektor?“ Ich bringe es nicht fertig, den großen Namen auszusprechen, aber das stört nicht. Er begrüßt mich erfreut, erzählt gleich, wie angenehm es sei, „einmal nicht auf der Achse reisen zu müssen“, spricht von einer „schleunigen Visite“ und ist kein bisschen erstaunt, sich vor der Kantine der Züricher Oper zu befinden, so wenig die Leute hier erstaunt sind über einen eher kleinen Mann, dessen weiß gepuderte Perücke seinen dunklen Teint noch betont wie die Rüschenkrawatte im beknöpften Rock. Schließlich ist es ein Theater und die Kostümwerkstatt nicht fern.

Er habe eine gute Reise gehabt, sagt Carl Philipp Emmanuel Bach, Musikdirektor der Hamburger Kirchen, eine gewisse Ermüdung möge ich ihm nachsehen, gestern habe er fast den ganzen Tag einen Engländer herumgeführt. „Ach, war Burney bei Ihnen?“, frage ich. Er freut sich, dass ich den kenne, den Musikreisenden Charles Burney, und will wissen, was ich von ihm halte. Ein verständiger Mann, meine ich, der ja schon aus Frankreich und Italien gute Musikerporträts geschrieben habe. „Hoffentlich gerät ihm meines nicht wie dem Maler, der unter seinen gemalten Vogel schrieb: Dies soll ein Vogel sein“, sagt er und lacht schallend. „Ich habe ihm bis elf Uhr nachts die sechs Konzerte vorgespielt, die ich neulich auf Subskription herausgegeben…“

Welches übrigens hier gespielt werden solle, fragt er, „zu der Tanzkunst?“ „Eines in d-Moll, aus Ihrer Berliner Zeit.“ Er blickt nachdenklich, während wir uns setzen. „Das war noch vor des Seligen… wo nur immer der Friede bleibt?“ Will er jetzt über Politik sprechen? „Der Frieden…“, sage ich zögernd, „mögen Sie einen Kaffee?“ „Ah, da ist mein Bruder!“, ruft er und richtet sich auf. „Friede!“ Ein Mann von Anfang sechzig ist hinter der Glastür erschienen und weiß sie nicht gleich zu öffnen, ich gehe hin. Wilhelm Friedemann ist größer als sein jüngerer Bruder, aber ein wenig nach vorn geneigt, schwerer Kopf, keine Perücke, sondern weiße Haare, die unter schwarzem Hut hervorwuchern, dazu ein Reisemantel: „Ich hoffe, die Verspätung wird zu pardonieren sein.“

Die beiden umarmen sich, dann erklärt Friedemann, er komme eben von London. „Nicht aus Braunschweig?“, frage ich erstaunt. Da jedenfalls könnte man ihn vermuten, wenn ihn diese Visite, wie Carl Philipp, aus dem September des Jahres 1772 herauskatapultiert hat. „Braunschweig?“ Er funkelt mich an zwischen schweren Augenlidern. Oh, ein ganz schlechtes Stichwort. Als wenn ich nicht wissen könnte, dass er in der Stadt am Harz voriges Jahr für das Organistenamt an St. Katharinen vorgespielt hat, natürlich alle Konkurrenten überfliegend, „aber er ist, wie man verlässig vernommen, dabey auch ein ziemlich eigensinniger Mann“, und solche Leute mögen die Braunschweiger nur als Durchreisende. Er wohnt noch da, aber gestern ist er in London aufgetreten. Also wirklich! In der Wissenschaft wird das nur gemutmaßt für diese schlecht dokumentierte Zeit seiner Vita. Endlich das Aufnahmegerät anschalten, „ist es Ihnen recht?“ Die beiden blicken nur beiläufig auf das Silberding. Man merkt, dass sie geübte Reisende sind, Profis. Andere Länder, andere Sitten, Hauptsache, es geht um Musik.

Meine übliche Frage, was einen zur Musik gebracht habe, kann ich mir bei ihnen ersparen. Die nächste Frage stellt ohnehin Carl Philipp, mit dem Friedemann, den Stuhl etwas abgerückt vom Tisch, nun über Eck sitzt. Ob er in London beim Christl logiert habe? Friedemann nickt. Das „Jüngelchen“ verdiene einträglich und stehe in hohem Ansehen, gerade sei am Königlichen Theater seine Serenata Endimione gespielt worden. Jetzt sei Johann Christian Bach auf dem Weg nach Mannheim, „noch eine comission…!“ Seine Miene verdüstert sich, ich frage schnell, was er selbst gespielt habe. Einiges für Klavier allein in der King´s Street, mit Orchester sein neues e-Moll-Konzert. Das, sage ich, werde auch hier gespielt, bei der Tanzkunst. „Erhält das hiesige Orchester durchgängigen Beifall?“, will er wissen. Sicher! Und wie gern würde ich ihm erzählen, dass Mozart das todtraurige Adagio aus Friedemanns Dresdner Sinfonia d-Moll fast bis auf den Ton genau, in Tonart, Taktart, Harmonik ins „Recordare“ seines Requiem übernommen hat.

Woran erinnern sich die beiden gern? Friedemann blickt auf den Tisch, Carl Philipp an ihm vorbei. Der Ältere sieht ein bisschen zersaust aus, ohne den Hut. „Potsdam“, sagt er dann, „Schloss Sanssouci, nicht wahr, Bruder?“ „Meine Herren“, erwidert der mit verstellter Stimme, „der alte Bach ist gekommen!“ So habe es damals der König gesagt, „an uns versammelte Kapellisten gewendet, und die Flöte weggelegt.“ „Unser Vater“, ergänzt Friedemann, „wurde sogleich auf das Schloss beordert. Er hatte nicht einmal Zeit, sein Reisekleid mit seinem schwarzen Rock zu wechseln!“ Sie waren beide dabei, im Frühjahr 1747, als Johann Sebastian über Friedrichs Thema eine Fuge improvisierte, Carl Philipp als Cembalist des jungen Königs und Friedemann, 36jährig, als Begleiter des Thomaskantors, selbst Organist in Halle. „Im Jahr danach“, sage ich zu Carl, „haben Sie Ihr d-Moll-Konzert komponiert, gefällt es Ihnen noch, ein Viertelsäculum später?“ Er lacht. Er habe zuviel geschrieben, um sich noch jedes Werkes zu entsinnen, „jetzt beschäftigen mich allein meine Pränumeranten!“

Etwas verwundert ist er doch, dass ich kaum etwas von den Sei concerti weiß, die er gerade in Leipzig hat drucken lassen, von denen allein Burney sechs Exemplare vorbestellt habe, weitere gingen bis nach St. Petersburg und Wien, „und eines bekommt Johann Sebastian.“ „Ihr Sohn?“ Er strahlt. „Er malt, aber er versteht sich auf die Musik.“ Friedemann ist still geworden währenddessen. Er selbst weiß noch ganz gut, was er selbst 1748 schrieb, denn diese Klaviersonate war seine zweite und letzte Publikation. Freilich stehen dem fünzig Mal so viele Werke gegenüber, die in Abschriften erhalten sind oder kursieren wie seine avantgardistischen Polonaisen aus Halle, begonnen, nachdem er dort einfach seine Stelle gekündigt hatte, als 53jähriger mit Frau und Tochter! Im selben Alter, also vier Jahre später, verlässt Carl Philipp den zuletzt frustrierenden Job in Potsdam – aber er wechselt dafür auf den Hamburger Traumposten.

Als läse er meine Gedanken, sagt er unvermittelt: „Burney hält meinen Bruder für den grössesten Fugisten in Deutschland. Er ist dem Vater am nächsten. Kennen Sie die Fuge aus seiner Dresdner Sinfonia?“ Er schwärmt, wie sich die „kontrapunktischen Künste“ da mit der neuen Zeit verbänden, als flöge man dahin. Friedemanns Finger tanzen auf dem Tisch. „Ich werde mehr Polonaisen schreiben“, sagt er, „durch alle Tonarten.“ „Wie das Wohltemperierte Klavier?“, frage ich. Warum er dazu nichts sagt, verstehe ich später. Er hat das Autograph des Wohltemperierten Klaviers vor kurzem seinem Vermieter verkauft. Das braucht Carl Philip nicht zu wissen, der seinen Teil des Nachlasses penibel hütet.

Zum Glück platzt ins Schweigen eine Lachsalve vom Nebentisch, unverkennbar: „Sänger!“, sagt der Musikdirektor und grinst, sein Bruder auch. „Haben Sie nicht in Dresden noch die Faustina gehört?“ Oh ja, sagt Friedemann, es sei ihr Gesang aber oft nur „Ohrenkützel“ gewesen, ohne dass das Herz in Bewegung gerate. „Wir können auch auf einem Instrumente bei guter Ausführung vieles sagen“, meint sein Bruder.

Eine letzte Frage: „Kennen Sie Forkel?“ Denn ich weiß nicht, wann dieser Enthusiast sich zuerst an sie wandte. Sie sehen einander an, lächelnd und lauernd. „Mettwurst!“, platzt dann Carl Philipp heraus, und Friedemann brüllt: „Nein, Mettwürste!“, und die Sänger blicken neugierig herüber zu den reifen Herren im Kostüm. Johann Nikolaus Forkel, junger Organist der Göttinger Universitätskirche, der das Werk von Johann Sebastian erforscht, hat von den Brüdern Autographe zur Abschrift erbeten und sich mit Naturalien bedankt. „Ich verspreche mir nächstens mehr von Göttinger Würsten“, meint Friedemann kichernd. Carl Philipp steht auf. „Lassen Sie die komischen Dinge weg“, bittet er mich zum Abschied. Dann sind sie fort. Mitsamt dem Aufnahmegerät.

Dieser Text entstand für das Magazin der Oper Zürich, MAG 49 / Mai 2017, S. 28-29, anlässlich des Ballettabends „Corpus“, für den Filipe Portugal Werke der Bach-Söhne choreographierte, und ist urheberrechtlich geschützt