„Wie fremd fühlt man sich im fremden Land?”

Piotr Beczala begann als Spätstarter, heute ist der Tenor weltberühmt – und sich für Operetten nicht zu schade. Ein Probengespräch über Provinzen, Metropolen und das “Land des Lächelns”

Seit drei Jahren gibt es eine neue Attraktion in Czechowice-Dziedzice, einem Städtchen von 35.000 Einwohnern im Süden Polens, an den Ausläufern der Karpaten. An manchen Tagen wird das Miejski Dom Kulturi, das Kulturzentrum im Art-Deco-Stil, zum Opernkino. Dann werden Produktionen der MET live aus New York übertragen. „Sie kommen alle in Anzügen mit schwarzen Fliegen und so, trinken ein Glas Wein, das ist wirklich ein großes Ereignis“, sagt Piotr Beczala, der dieses Kulturzentrum bestens kennt. Er sagt nicht, dass es für die Leute ein besonders großes Ereignis sei, wenn er selbst auf der Leinwand zu erleben ist, als Lenski im Onegin etwa oder als Herzog im Rigoletto. Aber das ist es. Erst recht, wenn er sie im Pauseninterview auf polnisch grüßt.

Da sehen sie dann sehr helle Augen über breiten Wangenknochen, ein Kinolächeln, in dem auch ein wenig Raubtier steckt, einen stattlichen Mann, mal mit, mal ohne Bärtchen unter der Nase, den man sich auch gut als Hollywoodmusketier der 1960er Jahre denken kann. Jetzt sitzt er mir gegenüber, im Foyer der Probebühne, nach einer szenischen Probe für Das Land des Lächelns. Die Art von Arbeit, bei der auch die zehnte Wiederholung eines Ganges nicht langweilig wird, weil so vieles gleichzeit passiert in wenigen Takten, weil Julia Kleiter und Piotr Beczala den Flirt zwischen Lisa und Sou-Chong so virtuos zwischen Erotik und Komik balancieren, wie Regisseur Amdreas Homoki sich das wünscht. Zwischendurch wird viel gelacht.

Wenn Piotr Beczala von Czechowice-Dziedzice erzählt, wo er vor 50 Jahren geboren wurde, gerät man in eine andere Welt. Hätte es jenes Kulturzentrum nicht gegeben, in dem sich auch ein Chor zum Proben traf in den 1980er Jahren, dann könnte er jetzt nicht ab und zu live aus New York grüßen, stünde nicht auf Opernbühnen rund um die Welt, von denen er als junger Mann nicht den blassesten Schimmer hatte. „Meine Eltern sind wirklich einfache Leute, und die nächste Musikschule war dreißig Kilometer entfernt. Das einzige, was in Czechowice-Dziedzice kulturell wirklich funktionierte, war dieser Chor.“ Mit neunzehn sang er da mit, und die Dirigentin hatte gute Ohren. Sie fand, Piotr könne sich ausbilden lassen, an der Musikakademie in Katowice.

Das war eine exzellente Idee. Dabei spielte Piotr nicht Klavier, wusste nichts von Harmonik und Gehörbildung, „ich war der einzige Student ohne jegliche Vorbereitung“, sagt er, „aber – pffff – das geht auch. Ich habe sechs Jahre lang brav studiert und hatte immer das Gefühl, irgendwas stimmt nicht mit der Ausbildung. Musikgeschichte, Fechten, sogar Ballett, das hatten wir alles, aber viel zu wenig Gesangsstunden.“ Er besuchte dafür Kurse bei Sena Jurinac, der serbischen Sopranlegende, „die hat gesagt, Junge, vergiss den Puccini, viel zu früh, jetzt singst du Mozart. Wenn so eine große Sängerin das sagt, dann halte ich die Klappe und folge. Man kann in diesem Beruf schon viel verlieren, wenn man nur wenig falsch macht.“ Sena Jurinac stellte die richtige Weiche.

Die führte den jungen Mann erstmal in die Opernprovinz, denn das war Linz damals noch, Anfang der 1990er Jahre. Piotr sah sich als Mittzwanziger „am Ende der Welt“ gelandet. Aber am Landestheater lernte er seine Frau kennen, eine Sängerin, und in Salzburg nahm er Unterricht bei Dale Fundling, einem texanischen Gesangslehrer, der mit ihm nochmal bei Null begann. „Die Arbeit hat ziemlich schnell Früchte getragen. Bald wusste ich, dass mein Können über Linz schon hinausgewachsen war. Aber alles in meinem Leben kommt ein bisschen spät.“ Oder gerade richtig, wie 1996. „Ich hatte vormittags Belmonte in der Probe gesungen, um halb eins hat der Agent angerufen und gesagt, dass abends in Zürich ein Rinuccio gebraucht wird. Ob ich mir das zutrauen würde?“

Die Partie in Puccinis Gianni Schicchi konnte er. „Um vier geflogen, um sechs in Zürich, auf Video das Ganze angeschaut, Hosen angepasst, ruckzuck auf die Bühne.“ Er muss der Kracher gewesen sein. Am nächsten Morgen hatte Intendant Alexander Pereira schon einen Dreijahresvertrag vorbereitet. Kurz danach kam Ion Holender, Chef der Wiener Staatsoper, mit demselben Angebot. Dort war Beczala bei einem Te Deum von Anton Bruckner eingesprungen. Es scheint dem Schicksal mitunter zu gefallen, jemanden zappeln zu lassen und ihm dann alle Türen aufzustoßen. „Man muss ein bisschen Geduld haben, ein bisschen Glück.“ Zürich blieb für siebzehn Jahre Beczalas Basis, und in der Probe merkt man, dass er sich hier zuhause fühlt. Und in der Operette.

Da stelzt kein Jetsetter herum, der sich mal eben zum leichteren Genre herablässt, da wirft sich einer ganz in die Rolle des verliebten und verstörten Exoten. „Wie fremd fühlt sich jemand im fremden Land? Das ist ein heißes Thema“, meint Beczala. „Während der Mann am Anfang große Unsicherheit zeigt, bekommt er später, zurück in China, ein anderes Gesicht. Da spielt er den Macho. Wenn man auf eigenem Boden ist, verliert man schnell das Korsett der Höflichkeit. Wie in einer Kneipe, in die nur die Einheimischen gehen.“ Auch stimmlich sieht er sich herausgefordert. „Sou-Chong ist fast ein lirico spinto-Tenor. Er hat viel Expressives in der Mittellage, muss aber auch eine ganz elegante hohe Lage präsentieren können. Und das oft in raschem Wechsel.“

Das sei der sängerische Unterschied zwischen Operette und Oper, in der eine Partie weitgehend für einen bestimmten Stimmtypus durchkomponiert ist. „Auch Mahler macht es im Lied von der Erde wie ein Operettenkomponist. Die drei Tenorlieder sind für drei verschiedene Typen geschrieben, man muss da einen Spagat machen zwischen Dramatik und Lyrik.“ Gesangstechnik interessiert ihn immens, über Sänger des 19. Jahrhunderts wie Meyerbeers Startenor Adolphe Nourrit spricht er wie über lebende Kollegen: „Eine ganz robuste Stimme mit einem weißen Top! Heute ist ein hohes C ein Prunkton, bei Meyerbeer muss man dort Vokale und Konsonanten sprechen können, mit der voix mixte, einer Mischung aus Brustton und Falsett. Ich selbst benutze eine Art des Gesangs, die Ende des 19. Jahrhunderts erfunden wurde, zu Carusos Zeit.“

Es war ein langer Weg zur differenzierten Technik für das Repertoire zwischen Verdi und Puccini, Gounod und Massent. Als er sich dort längst sicher fühlte und ihm die MET für sein Debüt Mozarts Tamino anbot, lehnte Beczala ab. „Alle sagten, du hast nicht alle Tassen im Schrank, der MET sagt man nicht nein! Aber ich wollte mich da nicht als Mozarttenor präsentieren, also mit meinen Anfängen. Und was kann man über Tamino sagen? Nett, mehr nicht.“ So wurde es der Herzog im Rigoletto, mit dem Beczala die New Yorker 2006 so nachhaltig begeisterte, dass er inzwischen einen seiner drei Wohnsitze in New York hat, einen weiteren in Wien und immer noch die Basis in der Schweiz, deren Staatsbürger er inzwischen auch ist. Hauptnationalität? „Kosmopolit.“

Seine polnische Herkunft erklärt aber ein bisschen, warum er Oper und Operette völlig gleichrangig behandelt. Nicht nur sein Lehrer in Katowice war Operettensänger, auch der Heros polnischer Vokalkunst schlechthin, Tenor Jan Kiepura, verband selbstverständlich Verdi und Léhar. Beczalas Liebling ist aber Richard Tauber, dem er bei der Deutschen Grammophon eine Hommage widmete. „Schock, Wunderlich, Gedda… jeder, der was von sich hielt in der goldenen Zeit, hat dieses Genre gesungen. Die Musik ist wunderbar gut instrumentiert! Aber in den 1970ern, 1980ern hat man sie für unbedeutend gehalten. Und je höher man sich als Sänger gearbeitet hat, je besser die Häuser waren, desto weniger spielten sie Operette. Das ändert sich allmählich.“

Wobei er zugibt, dass die klassische Nummernfolge mit Dialogen dazwischen „ein bisschen zu wenig für ein ambitioniertes Haus“ ist. Ihm gefällt es darum, dass Andreas Homoki das Land des Lächelns umgebaut hat: Weniger Dialoge, neue Konstellationen. Sou-Chong singt „Von Apfelblüten einen Kranz“ nicht mehr staunenden Hofdamen vor, sondern ausgerechnet Gustl, dem abgeblitzten Nebenbuhler. Und er ist bei aller Liebe einsam in der Fremde. „Mach dir klar: Ich passe nicht hierhin!“, ruft der Regisseur. Piotr Beczala, hoch aufgerichtet in Bluejeans und schwarzem Frack, parodiert einen Weinkrampf und erklärt schluchzend: „Ich dachte, Operette ist lustig!“ Dann singt er sehr zart.

Der Text erschien im Magazin der Oper Zürich, MAG 49 / Juni 2017, S. 34-35, anlässlich der Neuproduktion von “Das Land des Lächelns” , und ist urheberrechtlich geschützt.