Kategorie-Archiv: Historisch

Ein Sonntagmittag anno 1864 in der Rue Moncey 12

Zwischen kleiner Besetzung und großer Oper: Die Uraufführung von Gioachino Rossinis „Petite Messe solennelle“ in einem Pariser Stadtpalais

Einen solchen Glanz hat Albert Lavignac zuvor noch nicht erlebt. Als gebürtiger Pariser kennt der 18-jährige Student des Conservatoire natürlich das 9. Arrondissement, eine teure Gegend. Er ist mit ehrfürchtigem Seitenblick an den palais particuliers vorbeigegangen, den Stadtpalästen der Reichen, aber nun, am Sonntagmittag des 13. März 1864, darf er eintreten, mit den anderen Musikern, wenn auch wohl nicht durch das Hauptportal in der Rue Moncey 12, vor dem die Gäste dieser als „Generalprobe“ getarnten Uraufführung ihren Kutschen entsteigen. Comte Alexis und Comtesse Louise Pillet-Will geben sich die Ehre, ihre Privatkapelle musikalisch einzuweihen. Man erzählt sich, das Vermögen des Comte, Chef der Caisse d´épargne de Paris, belaufe sich auf mehr als 20 Millionen Francs – was heutzutage etwa 140 Millionen Euro entspräche.

Aber nicht das beeindruckt Albert, auch nicht, dass Bankiers, Minister, Diplomaten dem neuen Werk zuhören werden. Es sind die Größen der französischen Musik, die sein Lampenfieber schüren. Er sieht Giacomo Meyerbeer, den Herrscher der Grand opéra, im Gehrock, die hohe Stirn nur noch knapp gerahmt von dunklen Locken, nun 73 Jahre alt, plaudern mit dem uralten, gebeugten François Auber, dem Schöpfer der Stummen von Portici. Meyerbeers ernstes Gesicht leuchtet auf, als ein anderer alter Freund sich nähert, etwas schwerfällig, nicht ganz so rundlich wie auf den Karikaturen, aber unverwechselbar mit den spöttischen Mundwinkeln über starkem Kinn, den schweren Augenlidern, den gekräuselten weißen Koteletten. Albert weiß, wer das ist, er hat das Werk für heute komponiert: Gioachino Rossini, 72.

Seit nun schon 35 Jahren ist Rossini als Opernkomponist verstummt; ausgerechnet nach dem triumphalen Erfolg des Guillaume Tell, seiner vierunddreißigsten Oper, ohne sich indessen Sorgen um die Finanzen machen zu müssen. Denn zum einen werden seine Bühnenwerke überall gespielt, sogar in New York, und bringen Tantiemen ein (ein Urheberrecht gibt es in Frankreich schon seit 1791), allein in Florenz besitzt er drei Häuser, dazu noch zahlt die französische Regierung dem berühmten Wahlpariser eine jährliche Pension. Mit seiner zweiten Frau Olympe Pelissier, einst von ihrem Geliebten Honoré de Balzac als „schönste Kurtisane der Welt“ gefeiert, bewohnt er seit 1857 eine großzügige Wohnung in der Chaussee d´Antin, gut zehn Minuten zu Fuß von hier, und im Sommer die vor fünf Jahren neu errichtete Villa Rossini in Passy bei Paris. Dort hat er auch die Petite Messe solennelle geschrieben.

Vielleicht ist es Ambroise Thomas, Alberts vollbärtiger Kompositionslehrer am Konservatorium, der den jungen Musiker dem heiteren Alten vorstellt. „Meine große Klarinette“ wird der ihn später nennen, denn sie befreunden sich, und neben seinen Instrumenten Klavier und Orgel widmet sich Albert auch der Klarinette. Heute aber wird er in die Tasten einer kleinen Wundermaschine greifen, eines Harmonicord von Alexandre Debain. Zumindest wird dieses Instrument auf dem eigens gedruckten Programm der exklusiven Veranstaltung genannt. Für Rossinis Partitur genügt ein Harmonium – in seiner meist verbreiteten Form ebenfalls eine Konstruktion von Debain: Grob gesagt eine transportable Orgel, deren Blasebälge mit zwei Fußpedalen betrieben werden. Über die können die Musiker auch Lautstärkeunterschiede erzielen.

Das Harmonicord hingegen ist ein Hybrid, in dem sich auch noch ein Klavier verbirgt, wobei per Register entweder Pfeifen oder zusätzlich Saiten aktiviert werden. Vermutlich hat Debain, der selbst anwesend sein dürfte, diese Maschine aus Reklamezwecken zur Verfügung gestellt, und es genügt, dass der junge Student sie als Harmonium spielt. Immerhin kommen noch zwei Klaviere dazu, fünfzehn Choristen und vier Solisten, mehr wäre in diesem Raum nicht realisierbar. Trotzdem ist es für eine Messe im bombastliebenden Paris des Zweiten Kaiserreichs eine Besetzung von geradezu franziskanischer Bescheidenheit. In ihr wird die Gläubigkeit anrührend, von der Rossini selbst nur mit einem Hauch Ironie zu sprechen wagt wie immer, wenn ihm etwas nahe geht, und in dieser Besetzung, nicht der Orchesterfassung, berührt sie uns.

„Lieber Gott“, hat der Komponist 1863 in Passy hinter seine Partitur geschrieben, „voilá, nun ist diese arme kleine Messe beendet. Ist es wirklich heilige Musik, die ich gemacht habe, oder ist es vermaledeite Musik? Ich wurde für die Opera buffa geboren, das weißt du wohl! Wenig Wissen, ein bisschen Herz, das ist alles. Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies.“ Freilich soll man es nicht übertreiben mit der Bescheidenheit. Als Solisten hat Rossini, immer noch in umtriebigem Kontakt zur Opernwelt, kostspielige Stars gewählt. Die Schwestern Carlotta und Barbara Marchisio, Sopran und Mezzosopran, haben vor wenigen Jahren seine Oper Semiramide zu neuem Mailänder Erfolg mit 33 Vorstellungen in einer Saison geführt, Tenor Italo Gardoni, 43, bekannt für die vibratoarme Reinheit seiner Stimme, wird derzeit in England gefeiert und tritt in Opern aller hier in der Rue Moncey versammelten Komponisten auf.

Der rundgesichtige junge Bassbariton Louis Agniez ist der einzige Solist, der noch am Beginn der Sängerkarriere steht. Der 30jährige Belgier, bislang Komponist (und sogar mit einer Oper in Brüssel erfolgreich) nennt sich nun Luigi Agnesi, nimmt Gesangsunterricht und wird in diesem Jahr als Assur in Rossinis „Semiramide“ in Paris debütieren – es kann nicht schaden, ihn schon mal einem handverlesenen Publikum vorzustellen. Sie alle, darf man vermuten, haben im Konservatorium für diesen Tag geprobt. Von dort kommt auch der Chor, fünfzehn Sänger, obwohl Rossini nur acht wünschte, um mit den Solisten auf die Apostelzahl 12 zu kommen. Der erste Pianist, Georges Mathias, unterrichtet dort, was er von Chopin lernte und viel später vergeblich einem Erik Satie beizubringen versucht. Der zweite Pianist ist Andrea Peruzzi.

Der junge Chorleiter Jules Cohen gibt den Einsatz – zwei Akkorde der Instrumente nur, im piano, die zur Ruhe mahnen. Dann beginnt das erste Klavier einen Rhythmus, der die Leute lächeln lässt: Das ist ja richtig munter! Albert setzt drei Viertel später ein. Das Legato seines Harmonicord, leicht näselnd, kommt eigentümlich über dem Klavierstaccato zur Geltung. Keine Töne der Weihe, aber auch nicht diesseitig. Man merkt kaum, wie gut dosiert Rossini in den paar Takten schon die Harmonik ausweitet, doch als nacheinander die Chorstimmen einsetzen, alles über trivialem Sechzehntelrhythmus, ist man in einer anderen Welt – und lauscht verzaubert. August Wilhelm Ambros, einer der scharfsinnigsten Musikhistoriker der Zeit, wird schreiben: „Das anscheinend so einfache harmonische Gewebe der Stimmeneintritte des ersten Anfangs des Kyrie ist eben etwas, wie es der Himmel nur einem Genie beschert.“

Hier und da schimmert auch der Tonfall solcher Passagen durch, in denen die Grand opéra Pilger und Gebete einsetzt, und wohl schon hier muss Meyerbeer sich die ersten Tränen abtupfen. Die Zeit demütigen Glaubens ist eigentlich vorbei, überholt von irrwitziger Beschleunigung. Längst leuchten an der Seine elektrische Straßenlampen, Schienen, neben denen Telegraphenmasten wachsen, verbinden die Städte, die Dampfloks haben ihr Tempo verdoppelt, Zylinderdruckpressen jagen die Auflagen der Zeitungen hoch, die Fotografie ist ein Geschäft und keine Novität mehr. All das gab es nicht, als Rossini 1823 nach Paris zog, der Hornistensohn aus Pesaro, der noch Beethoven kennenlernte. Die Eisenbahn scheut er immer noch: Un petit train de plaisier nennt er sarkastisch ein Klavierstück, in dem er ein Schienenunglück beschreibt – eine der 150 Péches de vieillesse, der „Alterssünden“, die er seit 1857 komponiert und gelegentlich in seinem begehrten Samstagssalon aufführen lässt.

Auch Eduard Hanslick ist dort gewesen, der bedeutende Wiener Kritiker, und und zeigte sich überrascht, „wie gerade Rossini, dem modulatorische Spitzfindigkeiten stets so fernlagen, dies Volkslied [Marlborough] mit einem Reichtum geistreicher Harmonien und spitzfindiger Überraschungen ausgestattet hat.“ Er wäre noch mehr überrascht von dem, was der Alte sich im Gloria seiner Messe erlaubt. So schlackenlos es beginnt – mitten im Terzettino von Mezzo, Tenor und Bass schwelen vier Klaviertakte so chromatisch, als stünde die Uraufführung von Richard Wagners Tristan und Isolde nicht erst noch bevor. Immer wieder gibt es so kleine Ausblicke in die Zukunft und die Vergangenheit der Musik, mit leichter Hand, mal beiläufig, mal fokussiert: Das Quoniam im Gloria bewegt sich unüberhörbar in Mozarts Nähe, bis der Bassist in Takt 510 mit Tu solus dominus ein fast wörtliches Zitat aus dem Don Giovanni erreicht. So dezent, dass es die Sphären verbindet, ein Gruß an den Größten der Oper, der den anwesenden Kollegen nicht entgeht.

Frivol ist dagegen eine Praxis der Zeit, an der sich Rossini gerade nicht beteiligt: Beliebte Opernnummern werden für die Kirche umgetextet, weit brachialer als etwa zu Monteverdis Zeiten: Aus Rossinis Arie Ecco ridente im Barbier von Sevilla macht man ein Credo in unum deum, aus La ci darem la mano im Don Giovanni ebenfalls. Für seine Messe wendet Rossini dieses Parodieverfahren nirgends an, dafür übernimmt er 22 Takte aus dem Werk eines Freundes: Das Christe Eleison entstammt einer Messe, die Louis Niedermeyer 1849 komponiert hat. Jedenfalls hat es der Italiener nicht nötig, kontrapunktische Partien woanders abzukupfern. Immerhin hat seine Komponistenlaufbahn einst mit geistlicher Musik begonnen, ehe er die Oper eroberte. Zwei Dutzend Werke schrieb er für die Kirche – und zwar als versierter Kontrapunktiker.

Doch all das – und auch sein gefeiertes Stabat mater von 1832 – lässt er weit hinter sich mit dem Chorstück, das als Schluß des Gloria in der Privatkapelle erklingt. Cum sancto spiritu als Doppelfuge über rasselnden Baßachteln beider Klaviere – das ist eine der rasantesten, vitalsten, beglückendsten Vertonungen des „Heiligen Geistes“, die je geschrieben wurden, fern von Gelehrsamkeit, von angestrengten Nachweisen polyphoner Kompetenz, wie sich bleiern durch so viele Oratorien des 19. Jahrhunderts ziehen. Und erstaunlicherweise auch fern von Bach, der dem alten Italiener näher ist, als sein Publikum ahnt. Er wird es später zeigen, und das werden die großen Momente des Albert Lavignac…

Nun gibt es erst einmal ein Credo in unum deum, in dessen Klavierrhythmen Jacques Offenbachs Witz zu funkeln scheint. Rossini lässt die Gegenwart herein, und das alte lateinische Bekenntnis verträgt sich mit ihr. Und ausgerechnet zum Crucifixus schreibt er der Sopranistin eine Arie, die ein Opernpublikum zur Raserei bringen könnte, ein Liebeslamento mit denkbar einfachster Begleitung. Der Einsatz sanfter Harmoniumakkorde zur schaukelnden Bewegung des Klaviers lässt einem Schauer über den Rücken laufen. Giacomo Meyerbeer, denken wir uns, hat es inzwischen aufgegeben, seine Tränen zu trocknen.

Bach ist Rossini nah, seit sein Schützling Ferdinand Hiller ihm 1855 im Seebad Trouville Klaviermusik des in Frankreich noch kaum bekannten Deutschen vorspielte und ihm riet, die Gesamtausgabe zu subskribieren. Das hat er getan. Mit der h-Moll-Messe begann er. Seither hat sich Rossini jeden weiteren Band aus Leipzig kommen lassen, gerade erst hat er sich für das Wohltemperierte Klavier eingetragen, das 1866 herauskommt. Er scheint es indessen schon zu kennen, denn anders ist jenes Prélude Religieux kaum zu erklären, das Albert Lavignac vor dem Sanctus spielt, hier vielleicht auch einmal die Möglichkeiten seines Amphibiengeräts vorführend: Die einleitenden Akkordschläge als Mischtöne von Saiten und Pfeifen, das folgende Andantino auf einer Orgel, die freilich so nahtlos zwischen kraftvoll und zart moduliert, als spiele Lavignac auf seiner Klarinette.

Auch Rossinis instrumentales Zwischenstück ist ein Hybrid. Es nähert sich in seiner Vierstimmigkeit mitunter Bach´scher Technik bis zur Stilkopie, man könnte an das cis-Moll-Präludium aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers denken, dann ist man wieder im Jahr 1864, doch alles ohne Bruch – so, wie es nur einer schreiben kann, der die Kämpfe hinter sich hat. Nach dem Sanctus, von den Stimmen allein vorgetragen, öffnet Rossini die Privatkapelle seiner Freunde zur Bühne. Das Agnus Dei mit einsamem Mezzosopran und Einwürfen des Chores ist so szenisch, mit solchem suspense aufgebaut, dass wohl nicht nur Meyerbeer die ganz große Ausstattung vor sich sieht – er aber ganz sicher. Es ist, als würde die Grand opéra, das Genre seiner Pariser Triumphe, der irdischen Welt entrückt. Ihre Zeit ist ohnehin fast vorbei.

Er ist danach so aufgelöst und begeistert, dass Rossini sich Sorgen macht. „Armer Meyerbeer!“, sagt er zu Freunden auf dem Heimweg. „Wie ist er empfindlich! So war er schon immer. Potrà la sua salute supportare questi emozioni? Wird seine Gesundheit diese Gefühle aushalten?“ Zur zweiten, offiziellen Aufführung am Montagabend des 14. März 1864 erscheint Gioachino Rossini nicht, aber sein Freund hört die Musik dort noch einmal und schreibt ihm, dem „Jupiter Rossini, divino maestro“, französisch und italienisch mischend, er möge hundert Jahre alt werden, um weitere solcher Meisterwerke zu schaffen, „und Gott gebe mir ein ebensolches Alter, damit ich sie hören und bewundern kann!“ Sechs Wochen später ist Giacomo Meyerbeer gestorben.

Und Albert Lavignac, der Student am Harmonicord? Er spielt auch in zwei Aufführungen im folgenden Jahr mit. Und er versorgt Rossini, den Feinschmecker, in dessen letzten Jahren mit frischen Sardinen. Royans heißen die, sie müssen roh und eisgekühlt verzehrt werden und sind in Paris nicht leicht zu haben. Lavignac hat einen Freund in Bordeaux, der sie beschafft. „Mon bon ami, ma grande clarinette“, sagt der Alte, „bringen Sie sie mir, aber niemals am Samstag.“ Da habe er immer Gäste, von morgens bis abends, er verzehre die royans aber lieber allein, schweigend. Elf für sich, eine für Olympe. So geschieht es, bis Gioachino Rossini am 13. November 1868 stirbt. Lavignac wird bald darauf Lehrer am Conservatoire, der dem blutjungen Claude Debussy das Vom-Blatt-Spiel beibringt. Aber das ist eine andere Geschichte.

 Dieser Text erschien in b-No 7, dem Magazin des Balletts am Rhein, im Oktober 2016 (S. 24-29) und ist urheberrechtlich geschützt.

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„Sein Blut komme über uns“

Eine Ausstellung in Eisenach und ein Musikologe aus Kanada untersuchen, welche Spuren Luthers Antisemitismus bei J.S. Bach hinterließ

Klein und säuberlich schrieb er die Zahl „1700“ unter eine Zeile seiner Bibel, der Thomaskantor. Hat sich Johann Sebastian Bach damit als Antisemit geoutet? Seine Korrektur gilt einem Absatz über „Exil und Elend“ als göttliche Strafe, die „biß auff diese Stunde die überbliebene Juden nach ihrer endlichen Zerstörung und Zerstreuung erfahren müssen über 1600 Jahr“. So steht es in der 1681 gedruckten Bibel, die Bach als 48jähriger kaufte, las und mit Anmerkungen versah. Die Zerstörung des Tempels in Jerusalem, auf die der Passus sich bezieht, geschah 70 n. Chr. Bach war mit der Korrektur von „1600“ zu „1700“ also recht großzügig, die Bestrafung war ihm offenbar wichtig.

Der Ausschnitt gehört zu den Exponaten einer Ausstellung mit dem Titel „Bach, Luther – und die Juden“ im Bachhaus Eisenach. Sie befasst sich (auch) mit der religiösen Überzeugung des Thomaskantors und natürlich mit jenen Passagen seiner Passionen, in denen es um die „Jüden“ oder das „Volk“ geht, das da ruft: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“ Die heftige Diskussion darüber, ob J.S. Bach ein „Gestalter lutherischer Judenpolemik“ war, währt schon rund dreißig Jahre und brachte sogar eine Neubetextung der Johannespassion hervor. Jetzt, vor dem Reformationsjubiläum, ist die Debatte offenbar reif für ein größeres Publikum, zumal unabhängig von der Eisenacher Schau auch das Buch „Bach & God“ von Michael Marissen erschienen ist.

Der kanadische Musikwissenschaftler, bekennender Agnostiker, geht darin den religiösen Inhalten von Bachs Musik und in mehreren Kapiteln dem „Anti-Judaism“ nach. Wer nun aber erwartet, dass Marissen in transatlantischer Unbefangenheit die Passionen als Pamphlete entlarvt, während Eisenach „seinen“ Bach in Schutz nimmt, erlebt eher das Gegenteil. „Es ist ein ganz antiquiertes Luthertum, das da zu uns spricht“, meint Jörg Hansen, Direktor des Hauses und Kurator der Ausstellung. „Die verstockt im Unglauben verharrenden Juden finden hier ihre musikalische Entsprechung.“ Tatsächlich explodiert der Volkszorn in drängenden Chören beider Passionen immer wieder in derselben musikalischen Gestalt. Und Bachs Bibliothek bietet weitere Indizien.

Fest steht, dass der Komponist 81 theologische Bücher besaß (eine Luther-Ausgabe ersteigerte er sogar für ein gutes Zehntel seines Kantorengehalts), darunter auch Johannes Müllers 1707 erschienenen „Bericht / von des Jüdischen Volcks Unglauben / Blindheit und Verstockung“. Das ist eine kaum gemäßigte Fortschreibung von Martin Luthers brutalem Pamphlet „Von den Jüden und iren Lügen“. Auf dieses wiederum berief sich anno 1938 der Eisenacher Landesbischof Martin Sasse, „deutscher Christ“, als er seine Hetzschrift erscheinen ließ: „Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!“ In Eisenach kann man darin blättern und erfährt auch, dass Sasse jenes martialische Bach-Denkmal in Auftrag gab, das einen bis heute in Johann Sebastians Taufkirche frösteln lässt.

Just die einstige Vereinnahmung als „Deutschester der Deutschen“ macht den Umgang mit Bachs Luthertum so heikel. Erblickt, wer darin und gar in der Musik antijüdische Töne entdeckt, etwa dasselbe wie die Nazis? Muss man sich fragen wie vor zwei Jahren der Theologe Johann Michael Schmidt: „Wie kann ich die Matthäuspassion mit jüdischen Freunden zusammen hören?“ Nein, das muss man nicht, wenn es nach Michael Marissen geht. Er hat in Bachs Bibliothek auch die „Biblische Erklärung“ von Johannes Olearius aus dem Jahr 1681 gefunden. Die Selbstverfluchung des Volks (das erst in Luthers Übersetzung zum ausschließlich jüdischen wird), kann, so der orthodoxe Geistliche, auch in Gnade verwandelt werden – eine rein christlich verstandene natürlich.

Marissen weist in „Bach & God“ auch darauf hin, dass die kommentierenden Passagen, die der Dichter Picander für die Matthäuspassion schrieb, von einer Gnade für alle sprechen. Und in der Johannespassion wird der Heiland gefragt: „Ist aller Welt Erlösung da?“ Der Sterbende antwortet „stillschweigend: ja.“ Selbst wenn man wie Jörg Hansen findet, dass „ein Verweis auf den [humanen] Appell der Choräle und Arien das Problem nicht löst“, das die Wutchöre stellen, muss man Marissen zustimmen, dass „Feindschaft gegenüber Juden weder Thema noch Zweck des Kommentars in der Erzählung der Matthäuspasion sind“ und dass die Johannespassion „den Fokus von der Ungläubigkeit ´der Juden zu den Sünden der christlichen Gläubigen verschiebt.“ Alles wieder gut?

Für Bach, den gläubigen Lutheraner, stand außer Frage, dass das jüdische Volk sich durch Kreuzigung Jesu und Uneinsichtigkeit doppelt schuldig gemacht hatte. In einer Kantate seines ersten Leipziger Jahres 1723 geht es so gnadenlos zu, dass Hansen wie Marissen auf sie verweisen. Am 10. Sonntag nach Trinitatis hatte der neue Kantor Musik zu liefern, die sich mit der von Jesus angekündigten Zerstörung Jerusalems befasst. In „Schauet doch und sehet“ wird in gespannter Harmonik „ein unersetzlicher Verlust der allerhöchsten Huld“ verkündet und dann gar von „Gott, nach viel Geduld“, der Stab über die Juden gebrochen.

Ewige Verdammung – das entsprach ganz der Predigt zu diesem Anlass. Immerhin rief der Librettist nicht, wie Luther, zu Aktionen gegen jüdische Zeitgenossen auf. Und man könne, so Marissen, „von der Kantate nicht ernsthaft erwarten, dass sie den liberalen Überzeugungen des 21. Jahrhunderts entspricht.“ Diesen Punkt betont auch Jörg Hansen, wenn man ihn fragt, ob von Bach zeitlose moralische Größe erwartet werden darf. „In der kirchenmusikalischen Interpretation schwingt noch eine gewaltige Portion der nationalchauvinistischen Überhöhung mit, die man vor 50 Jahren noch hatte – Bach als fünfter Evangelist, dessentwegen die Leute konvertieren. Muss man das alles auf ihn projizieren?“

Es macht Bachs Musik nicht geringer, wenn man den Antijudaismus kennt, in dem er sozialisiert wurde und den er belieferte wie jeder andere lutherische Kirchenmusiker des Barock. Er war ein Kind seiner Zeit, von der Theologie bis zur musikalischen Rhetorik. Bach ist groß, weil selbst die Wutchöre der „Juden“ historisch multipel gehört werden können. Es ist eine Perspektive darin, in der man jegliche Mobdynamik erkennt, vom Römischen Reich über das Deutschland um 1700 bis heute. Felix Mendelssohn übrigens, um dessen Wiederaufführung der „Matthäuspassion“ 1829 der zweite Teil der Eisenacher Schau gruppiert ist, hat damals vieles gestrichen. Aber nicht diese Chöre.

„Luther, Bach – und die Juden“. Bis 6. November im Bachhaus Eisenach / Michael Marissen: „Bach & God“. Oxford University Press 2016, 288 S.

Dieser Text erschien gekürzt in der ZEIT vom 14. Juli 2016 und ist urheberrechtlich geschützt

 

Von wem ist eigentlich Satie?

Der eigensinnige Normanne und vermeintliche Vater der Minimal Music wird 150 – ein guter Anlass, ihn vor seinen Bewunderern zu retten

Satie

Komponistenbeleidigung ist kein Straftatbestand. Man muss von einem Künstler behaupten dürfen, er sei “musikalisch ein kompletter Analphabet, der durch seine Verbindung mit Debussy eine unverhoffte Gelegenheit fand, sich in die Kulissen der Geschichte zu schleichen”. Das hatte 1962 der Komponist Jean Barraqué geschrieben in einem Buch zum hundertsten Geburtstag von Claude Debussy – und damit Erik Satie abserviert, der gerade erst von John Cage als großer Befreier wiederentdeckt worden war. 1972 wurde Barraqué verklagt. Er hatte weder mit Saties Großneffen gerechnet noch mit der französischen Rechtsprechung zur “Verleumdung toter Verwandter”.

Tatsächlich verlor Barraqué den Prozess gegen den empörten Neffen, musste 3000 Franc Strafe zahlen, starb kurz danach mit 45 Jahren, in späteren Auflagen seines Buches fehlt die inkriminierte Passage. Indessen war er mit seiner Kritik an Erik Satie weder der Erste noch der Letzte. Pierre Boulez etwa, der schon 1952 beißend spottete und zu den “Erfindungen” Saties dessen Schüler ebenso zählte wie den Verzicht auf Taktstriche, bekannte sich noch 2009 zu seiner “Aversion gegen Dilettanten” und sagte über die zahlreichen Satie-Revivals: “Man kann das tausend Mal versuchen – und es wird tausend Mal nicht funktionieren. Für diese Leute gibt es keine Zukunft.”

Doch 150 Jahre nach seiner Geburt am 17. Mai 1866 wird Satie mindestens so heftig gefeiert wie die Epochengestalt Boulez. Er ist populär genug für 160 lieferbare Einspielungen, für Festivals und Musikmarathons und eine weitere Verlängerung der Publikationsliste, die derzeit rund 130 Bücher und Studien umfasst. Unter den Komponisten nach 1900 ist Satie der ewige Geheimtipp, der Popstar der Musikwissenschaft und der Musikszene zugleich. Er verträgt sich mit Jazz und Rock, mit Satire und Strawinsky, mit Postmoderne und Pazifismus. Mit feinem Lächeln scheint er die posthume Bürde zu tragen, Pionier von rund 80 Prozent der musikalischen Innovationen der Moderne gewesen sein zu sollen.

Man hat inzwischen fast ein schlechtes Gewissen, wenn man sich ein bisschen langweilt mit, zum Beispiel, seinen Klavierpetitessen um 1913, die mit Titeln wie Trink deine Schokolade nicht mit den Fingern oder Appetitverderbender Choral geradezu darum bitten, nicht zu schwer genommen zu werden, nicht auf Substanz belauscht, nicht nach hundert Jahren eingespeist in die “Kulissen der Geschichte”. Vielleicht wäre es besser, es lastete nicht auf jeder dieser verspielten Noten die Zukunft der Minimal Music, der Performatitivät und der Multimedialität, die Rettung der französischen Musik (Cocteau), die Befreiung von Beethoven (Cage), die Vorahnung von Kubismus, Dada und Surrealismus.

Paradoxerweise ist ein schlechtes Gewissen angesichts grandioser Maßstäbe genau das, wogegen Erik Satie anschrieb. Sein Vater hegte allzu große Pläne. Dieser Schiffsmakler aus Honfleur hatte das Metier gewechselt, versuchte sich in Paris als Musikverleger und druckte das erste Stück seines 19-jährigen Sohns großspurig als op. 62. Den 13-Jährigen hatte er aufs Konservatorium geschickt, wo Eric (er korrigierte dann zu “Erik”, stolz auf die normannische Herkunft) als Pianist ebenso auf der Strecke blieb wie später im Tonsatzunterricht. Dafür rächte er sich mit den Vexations (Quälereien), der Klavierkarikatur einer Tonsatzübung, 840 Mal hintereinander zu spielen.

1897 führt Satie das Leben eines Bohémiens und schlägt sich als Pianist im Nachtkabarett Le chat noir durch. Dort sagt man ihm nach, er habe “schlecht gespielt, aber hervorragend getrunken”. Für diese Jobs schreibt er dutzendweise Chansons und Walzer, deren Tonfall auch viele seiner anderen Stücke durchzieht und, so Grete Wehmeyer in ihrer Monografie, “einen der persönlichsten und modernsten Züge seines Œuvres” prägt. Von diesem Œuvre wüssten wir freilich nichts ohne die Genies und Geistesgrößen, denen der normannische Zausel in Paris über den Weg läuft und sympathisch ist.

Claude Debussy etwa, der bereits L’après-midi d’un faune komponiert hat, als er zwei der pianistischen Gymnopédies seines Freundes instrumentiert – oder, besser gesagt, als Rohmaterial für grandios farbschillernde Orchesterbilder verwendet, deren Konzerterfolg bei Satie Wut auf den Kollegen auslöst. Ihm selbst macht sein mangelndes Handwerk nämlich schwerer zu schaffen, als sein Schlachtruf “Vivent les Amateurs!” vermuten lässt. Noch 1908, mit 39 Jahren, beginnt er Kontrapunkt zu studieren, obwohl ihm Debussy davon abrät: Ein Komponist “krempelt seinen Stil in dem Alter nicht mehr um”. Vielleicht will er ihm Frust ersparen, vielleicht schätzt er ihn gerade als animierenden Amateur.

Satie ist 50, als Jean Cocteau ihn kennenlernt, 27-jähriger Pariser Literat, mit allen Wassern gewaschen. Cocteau findet Gefallen an den Drei Stücken in Birnenform, die Satie in einem Salon mit einem Freund vierhändig am Klavier vorträgt – eine schon 1903 verfasste Mischung aus Schlagern, Chansons, Meditation und Tradition, vom Komponisten kommentiert mit dem undurchschaubaren Hinweis: “In diesem Werk drücke ich mein angebrachtes und natürliches Erstaunen aus.” Dieses Erstaunen hat bei ihm oft etwas von einem Kinderblick auf die Welt. Seine Töne, immer auch Fundstücke, sind frei von Absichten und Visionen. Es ist Platz zwischen ihnen, für jeden – vielleicht liebt man Satie auch dafür. Cocteau jedenfalls, immer für Schräges zu haben, will daraus ein Ballett machen. Am Ende entsteht etwas ganz Neues, und zwar für Sergej Diaghilews Ballets Russes im Théâtre du Châtelet.

Avantgardistische Feinde der Nation

Parade, so heißt dieses “Ballet réaliste” mit Artisten, Zauberern und monströsen Managern, ist ein Paradebeispiel für die Entstehung eines Hypes. Hört man die 20 Orchesterminuten zu Cocteaus Libretto, an denen Satie ein Jahr lang bastelte, blockhafte Montagen aus Ragtime und Rumtata, Fuge und Tanzmusik, nebst Schreibmaschinenklappern und Pistolenknall, dann kündet das im Vergleich zu Pfitzners Palestrina aus demselben Uraufführungsjahr 1917 vom enormen Modernitätsvorsprung der französischen Metropole, und lustig ist es obendrein. Andererseits kann man das Stück nicht einfach mal neben Strawinskys Sacre von 1913 stellen, nur weil Parade im selben Theater ebenso viel Skandal machte.

Da kamen Prominenz und Politik zusammen. Cocteau war bereits ein Name, Bühnenbildner Picasso erst recht, Dirigent Ernest Ansermet und Choreograf Massine auch, die Ballets Russes waren Kult. Zugleich sahen Frankreichs Chauvinisten mitten im Krieg “in den avantgardistischen Künstlern von Montmartre Feinde der Nation” (Wehmeyer). Und obwohl Satie von Cocteau genötigt worden war, nach Futuristenart Geräusche einzubauen, die er nicht mochte, kam die Musik dem Kritiker von Le Courrier musical gar nicht modern vor, sondern “eher senil und antiquiert als verwegen und innovativ”. Dem Geheul der Nationalisten folgten Verrisse, aber auch Elogen.

In einer folgenreichen Kampfschrift hatte Cocteau den skurrilen Outsider überdies zum Retter der französischen Klarheit ausgerufen – im Gegensatz zu Debussy, der längst “vom deutschen Hinterhalt in die russische Falle” gelaufen sei. Satie wiederum befand hellsichtig über seinen “Entdecker”, Cocteau wisse “sehr wohl, dass Bühnenbild und Kostüme von Picasso sind, dass die Musik von Satie ist, aber er ist sich nicht sicher, ob Picasso und Satie von ihm sind”. Vielleicht hätte der Komponist Ähnliches von seinen weiteren Entdeckern gesagt, von Virgil Thompson und John Cage, der Satie 1948 als Überwinder Beethovens feierte und 1965 die Klavier-Quälereien mit einer 19-stündigen Uraufführung würdigte.

Vielleicht läse er staunend die akribischen Analysen, in deren jüngster etwa gewürdigt wird, wie der Komponist “Signifikanz” herstelle in Parade, nämlich “über Pendelmotive, Sekundschritte oder Figurationen in Achteln”, und dabei auch noch “dem Rezipienten die Scheinwelt innerhalb der eigenen Lebenswelt überdeutlich vor Augen führt”. Wenn Satie das gewusst hätte! Schon seine Bewunderer zu späten Lebzeiten warnte er davor, “Schule” zu machen, zugleich war er verbittert, als George Auric und Francis Poulenc sich von ihm abwandten. Trotz all seiner Pariser Sympathisanten und einiger Aufträge war Satie bettelarm, als er am 1. Juli 1925, mit 59 Jahren, einer Leberzirrhose erlag.

Man sieht es dem zierlichen Herrn nicht an, der im Jahr zuvor mit dem bulligen Dadaisten Francis Picabia über den Dächern von Paris herumhüpft, um eine alte Kanone herum, wie immer korrekt versehen mit Bowler und Regenschirm, in René Clairs Film Entr’acte, einer Großstadtcollage. Ihre kinderleichte, repetitive, dezidiert nebensächliche Musik ist Saties letzte Partitur. Wenn man dazu sieht, wie er, das Geschoss für die Kanone beschnuppernd, mit feinem Lächeln unter weitem Himmel steht, ist man wie einst John Cage befreit vom “ästhetischen Papperlapapp”, von allen Kulissen der Geschichte. Und möchte gleich mit ihm ins Café, um endlich mal nicht über Musik zu reden.

“The Sound of Erik Satie”: Klaviermusik, Orchestermusik mit u. a. Aldo Cicciolini, Alexandre Tharaud, Orchestre de Paris (3 CDs, Erato)
“Satie”: Arrangements für Klavier, Cembalo, Wurlitzer, Hammondorgel, Elektronik, Glockenspiel. Tamar Halperin (Neue Meister)
Erik Satie, “Socrate”: Fassung für Stimme und Klavier, Barbara Hannigan, Reinbert de Leeuw (Winter & Winter)

Dieser Text erschien am 12. Mai 2016 in der ZEIT und bei ZEIT online und ist urheberrechtlich geschützt.