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Als Tristan durchs Telefon kam

Das Wagnerjahr 1913 bewegte sich zwischen Lücke und Aufbruch, Denkmal und Fortschritt, Bayreuth blieb stumm, doch den Pariser Tristan konnte man in London hören – und Musiker und Intellektuelle entdeckten Wagner neu

Die meisten der 1,8 Milliarden Menschen, die im Jahr 1913 lebten, ahnten wenig von den Themen, die uns mit jenem Jahr verbinden. Der junge Albert Einstein erläuterte Ansätze zur Relativitätstheorie; Rudolph Steiner legte den Grundstein zum Goetheanum. In Chicago wurde die Antidiffamierungsliga gegen Antisemitismus gegründet. In Mailand eröffnete die neue Firma Prada ein Geschäft für Lederwaren. Bei Helgoland stürzte ein Zeppelin ins Meer. In Paris gab es einen Skandal um Strawinskys Sacre du Printemps und in Wien einen um Lieder, die Alban Berg nach Postkartentexten geschrieben hatte. Das Kapital von Marx erschien als Volksausgabe. Der deutsche Reichstag stimmte der Vergrößerung des Heeres um 117267 Mann auf 661478 zu. Und befasste sich sogar einen Tag lang mit dem Jubilar des Jahres, Richard Wagner.

Dieser 6. Februar 1913 wurde für Cosima Wagner ein schwarzer Tag. Bis dahin hatten sie und 18.000 Unterzeichner auf den Erfolg einer Petition an den deutschen Reichstag gehofft, die für Parsifal eine Änderung des Urheberschutzgesetzes forderte. Das Werk solle auch in Zukunft nur in Bayreuth aufgeführt werden dürfen, dem Willen des Meisters entsprechend. Spötter sprachen von einer „Lex Cosima“ und unterstellten damit, dass die Witwe eher eigene Interessen als die des Komponisten verfolgte. Da dessen Tod nun 30 Jahre zurücklag, würden mit Ablauf des Jahres der Urheberrechtsschutz für seine Werke und beträchtliche Tantiemenzahlungen enden. Eine legendäre Exklusivoper konnte der Attraktivität Bayreuths da nicht schaden…

Die Herren von der Reichstagskommission nahmen sich Zeit; das Protokoll der Sitzung füllt 15 dicht bedruckte Spalten. Die einen fürchteten eine Profanierung der Gralsoper, die anderen fanden das „überspannt“. In Bayreuth „spielten auch sehr materielle Rücksichten mit“, fasst das Protokoll eine der Stellungnahmen zusammen. „Da sei zunächst der Billethandel, der skandalöse Auswüchse zeige. (…) Es sei für viele Kreise einfach Modesache, in Bayreuth zu sein. Von Kunstverständnis sei bei vielen Besuchern keine Spur. (…) Der Aufmarsch der Gäste erinnere stark an die Helgoländer Lästerallee [das Spalierstehen bei der Ankunft neuer Kurgäste am Hafen], der Einzug der Dynastie Wagner sei ebensowenig erhebend.“ Menschen, „die voll Andacht dem Parsifal beiwohnen“, seien ohnehin in der Minderheit.

Mit großer Mehrheit beschloss die Kommission, über die Petition II Nr. 5811 zur Tagesordnung überzugehen, und Festspielleiter Siegfried Wagner zog eine drastische Konsequenz. Das undankbare Vaterland wurde für den „Parsifalraub“ mit Festspielentzug bestraft. Im Jubiläumsjahr 1913, zu Richard Wagners 100. Geburtstag, blieb es auf dem Grünen Hügel still. Siegfried begann mit der Komposition des Vokalwerks Märchen vom dicken fetten Pfannkuchen und erklärte: „Wir feiern, indem wir arbeiten.“ Und mit Blick auf den davonrollenden Tantiemenpfannkuchen ließ er seiner Schwester Isolde mitteilen, dass die jährlichen „Subsidien“, die sie als erstes, aber uneheliches Kind Richards und Cosimas erhielt, auf 8000 Mark gekürzt würden.

Wer sich das Wagnerjahr 1913 vorstellt als einen berauschten Taumel, der findet überraschend viel Umbruch, neue Wege, Bau- und Leerstellen. Ausgerechnet in Wagners Geburtstagsstadt Leipzig war zum Festtag vom großen Denkmal, das man bei Max Klinger bestellt hatte, nur die Treppe fertig, wohingegen das 91 Meter hohe Völkerschlachtdenkmal im Oktober termingerecht eingeweiht werden konnte, unter anderem in Anwesenheit des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand, dessen Ermordung im Juni 1914 einen Weltkrieg auslösen würde. Die Münchner Wagnerianer hatten mehr Glück mit ihrem Denkmal. Pünktlich zur Geburtstagsfeier brachte eine Straßenlokomotive die Skulptur des Künstlers Heinrich Waderé zum Prinzregentenplatz.

Man sah den Meister in sitzender Haltung, goethehaft, den Blick auf eine imaginäre Campagna richtend. Und der Intendant des Prinzregententheaters rief: „So grüßen wir dich, Unsterblicher! Möge Dein Antlitz uns leuchten!“ Dirigent der Feierstunde war Bruno Walter, in München bekannt als Zögling Gustav Mahlers, dessen Lied von der Erde er hier uraufgeführt hatte, und neuer Generalmusikdirektor. Bei dieser Gelegenheit, so Hans Vaget in einem Aufsatz über Walter, „wurde den Meinungsmachern der Münchener Musikkritik auf einmal klar, worauf sie sich in den kommenden Jahren einzurichten hatten (…): Das Erbe des „deutschesten“ Künstlers lag von nun an in den Händen eines – wie man später zu sagen pflegte – „artfremden“ Dirigenten.“

Zum „Wortführer dieses Unbehagens“ (Vaget) wurde Alexander Dillmann. Der Geheimrat und Musikkritiker setzte, kaum dirigierte Bruno Walter 1913 die ersten Wagneropern, in den Münchner Neuesten Nachrichten die Codewörter des Antisemitismus ein, mäkelte an „hundert von ihm [Walter] erfundenen geistreichen Einzelzügen“ herum, sprach ihm die „stilistische Sicherheit“ ab. In diesem Tonfall folgte ihm für die weiteren Jahre die Majorität der Kollegen, nicht gebremst vom Zwischenruf Thomas Manns, Walter sei deutsch „seinem Geiste, seinem Herzen und seiner Bildung, wenn auch meinetwegen nicht seinem Blute nach.“ Antisemitische Signale finden sich sogar in im wohl innovativsten Projekt des Jubeljahres, einem Film über Richard Wagner.

Es war das Jahr, in dem Charlie Chaplin seinen ersten Filmvertrag unterschrieb und allein in Berlin schon 200 Kinos existierten. Dort erspielte auch Giuseppe Becce sein Geld. Der italienische Bauernsohn lebte als Komponist und Dirigent seit 1900 an der Spree, wo dem Filmproduzenten Oskar Messter in einem Kaffeehaus Becces frappante Ähnlichkeit mit Wagner auffiel, Größe und Nase eingeschlossen. Da Cosima Wagner die Verwendung originaler Wagnerklänge im Kino untersagte, lieferte der frischgebackene Hauptdarsteller einen wagnerisch nachempfindenden Soundtrack gleich selbst (er wurde, nach dem Klavierauszug rekonstruiert, am 22. Mai 2013 in Baden-Baden neu aufgeführt). Becce konnte, wie man sieht, Klavier spielen, und er gab einen sympathischen, schüchternen, durchaus faszinierenden Wagner ab.

Aufschlussreich ist Carl Froelichs Film nicht nur, weil ein hämischer Meyerbeer und Wucherer mit hohen Hüten und Hakennasen die antisemitischen Zerrbilder der Zeit reproduzieren. Ganz von ungefähr ist Frölich später jedenfalls nicht Präsident der Reichsfilmkammer geworden. Doch als Psychologe ist er subtil: Die nervöse Handbewegung, mit der Hans von Bülow seine Cosima von Wagner wegwinkt, die müden Finger, mit denen Ludwig II., schon halb entmachtet, die Sessellehne sucht… Die oft vor stiller Kulisse auf Bewegung wartende Kamera wäre heute zu avantgardistisch für die Berlinale. Wo freilich Oper gezeigt wird, lassen uns wallende Gewänder, gewaltige Helme, eilig umstürzende Pappsäulen einiges ahnen vom weiten Weg, der zu einem veritablen „Gesamtkunstwerk“ noch zurückzulegen war.

Auch anderswo berührten sich Wagner und die Technik der Moderne. Am 21. Mai des Jahres wurde aus dem Pariser Palais Garnier Tristan und Isolde im Zweikanalton nach London übertragen – per Theatrophon. Diese Erfindung hatte Clément Ader bereits 1881 vorgestellt, und als eine Art Kulturservice auf Telefonbasis war sie vor allem in Frankreich und Großbritannien erfolgreich. Zu den Abonnenten zählte Marcel Proust, der 1913 „In Swanns Welt“ vorlegte, den ersten Teil seiner Suche nach der verlorenen Zeit; Queen Victoria war schon um 1900 Kunde der „Electrophone Ltd.“, auch Portugals König Luís I nutzte die neue Technik. Die Signale der am Bühnenrand befestigten Kohlemikrophone wurden auf zwei Leitungen verteilt, wodurch mit zwei Ohrlautsprechern stereophones Hören möglich war – allerdings nur mit teurem Zusatzgerät oder an öffentlichen Münzautomaten. Die Liveübertragung des Tristan ließ die Zahl der Londoner Privatabonnenten auf 2000 steigen.

Wie man zu jener Zeit Wagner sang und spielte, ist in einigen Tonaufnahmen überliefert. Etwa Rudolf Berger als Siegmund an der MET, textdeutlich, mit lang ausrollendem „r“ in „Vater“, und drangvoll knappen (nicht endlosen!) „Wälse“-Rufen. Die Orchesterstreicher lassen die zu der Zeit durchaus üblichen Glissandi hören. Da ist Jacques Urlus, der 46-jährige holländische Heldentenor, flammender Bayreuthianer, dessen „lieber Schwan“ fast nur aus Vokalen besteht, dabei aber durchs Rauschen der Wachswalze hindurch ein betörendes Legato hören lässt, eine Geschmeidigkeit, in der sich Präsenz und Transzendenz des Gralsboten verbinden. Und die Berliner Philharmoniker spielen schon 1913 Instrumentalwerke aus Parsifal ein – Dirigent Alfred Hertz wählt im ersten Vorspiel ein ungeheuer langsames Tempo, das aber durch geradezu perforierende Phrasierungen frei von Weihenebeln bleibt. Hertz ist übrigens jener Musiker, der schon 1903 gegen Cosimas Willen in New York (wo deutsches Urheberrecht nicht galt) den ersten szenischen Parsifal außerhalb Bayreuths dirigiert hatte und an deutschen Opernhäusern fortan geächtet ward.

Unbeliebt machte sich bei den Gralshütern auch der Mann, dem wir den wohl spannendsten Text zum Wagnerjahr 1913 verdanken. Paul Bekker, 30jähriger Musikredakteur der Frankfurter Zeitung, hatte sich 1912 wegen des „Parsifalschutzes“ gegen „Bayreuth und seine Leute“ gewandt und war von denen umgehend als „antiarisch“ gescholten worden, als Jude, der Kunst nur „im Artistenverstand“ begreife. Bekker, davon unbeeindruckt, nahm zu Wagners Geburtstag „Starkes und Schwaches, Erhabenes und Kleinliches“ auseinander, um es unter einem Aspekt zu vereinen: Ein Reformator sei er gewesen, der als erster Künstler „sein Leben selbst zum Kunstwerk“ gemacht habe.

Weil bei ihm aus subjektiven „Leidenschaften und Affekten“ erst Stil und Gedanke entstünden, sei auch Wagners Sprache „nur ein zum Wort- und Satzgebilde verdichteter Affekt“, vom Werk nicht ablösbar. Auch der „Erlösungsgedanke“ sei nicht der Kern, sondern eine Form dieser Kunst. Bekker macht Wagner gleichsam zum Vorläufer des Expressionismus – 1913 erschienen auch Gedichtbände von Georg Trakl und Gottfried Benn – und würdigt den Theoretiker Wagner nur weniger Worte. Ein starkes Stück in einem Jahr, in dem immerhin auch eine zehnbändige Edition der Schriften und Dichtungen erschien. Indessen komme am Jubilar „keiner vorbei, ohne sich Rechenschaft geben zu müssen“: Er sei „eine Macht des heutigen öffentlichen Lebens“.

Gerade darum machten Bekker die irrationalen Züge dieses Geistes nachdenklich, „das Unterjochen des gedanklichen Schauens durch phantastisches Träumen“, der „tendenziöse Nationalismus“, der Anspruch, Subjektives zu „allgemein gültiger Theorie“ zu erweitern. „Man kann darüber im Zweifel sein, ob die Wirkung Wagners, wie wir sie heute spüren, in jeder Beziehung so günstig ist, daß wir die Weiterentwicklung alles dessen, was er uns gegeben hat, auf die Dauer als wohltätig und fördernd empfinden würden. (…) Vielleicht erleben wir gerade jetzt, nach einer Periode bedingungsloser, auf falschen Maßstäben beruhender Bewunderung, eine Zeit der kritisch polemischen Betrachtungen…“

Doch weit eher wurde Wagner von den politisch Extremen beansprucht, von den Deutschnationalen wie von den Austromarxisten, die Wagner zusammen mit Marx und der Zweiten Internationale als Teil der sozialistischen Dreieinigkeit sahen. Und, noch überraschender, von den Katalanen, die ihn zum Schirmherrn ihrer Renaixença, der Wiedergeburt in Unabhängigkeit von Spanien machten. Durch Wagner hoffte man, erklärt die Musikwissenschaftlerin Catherine Macedo, „ein Teil von Nordeuropa“ zu werden. Hatte er nicht die Gralsburg „Monsalvat“ in den „nördlichen Gebirgen des gotischen Spaniens“ verortet und das gottlose Zauberschloß „dem arabischen Spanien zugewandt“? Monsalvat konnte nur Montserrat sein, der heiligste der katalanischen Berge!

So kam es, dass in den letzten Minuten des Jahres 1913 die feingemachten Wagnerianer von Barcelona ihre Plätze im Liceo einnahmen, dem 1847 eröffneten Opernhaus an den Ramblas, und um Punkt Mitternacht der Vorhang hochging über dem ersten europäischen Parsifal außerhalb von Bayreuth nach Ablauf der Schutzfrist (mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass dank Schweizer Recht schon im April des Jahres das Werk legal in Zürich aufgeführt worden war). Ein Bühnenbildner vom Théâtre de la Monnaie“ in Brüssel hatte gemeinsam mit vier Katalanen den Berg Montserrat gemalt; als Parsifal gab Francesc Viñas i Dordal sein Rollendebüt. Ausverkauft war die nächtliche Vorstellung übrigens nicht. Danach graute der Morgen des Jahres 1914.

Der Text erschien im “Almanach 2013″ der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth und ist urheberrechtlich geschützt. Der Almanach bietet auch eine exzellente Übersetzung ins Englische von Jens F. Laurson.

Auswahl der verwendeten Literatur
Paul Bekker: Kritische Zeitbilder, Berlin 1921; Brigitte Hamann: Winifred Wagner, München 2003; Hannes Heer u.a. (Hrsg.): Verstummte Stimmen, Berlin 2012; Florian Illies: 1913, Frankfurt 2012; Catharine Macedo: The Barcelona Parsifal, Cambridge 1998; Hans Vaget: Seelenzauber – Thomas Mann und die Musik, Frankfurt 2006; Anon.: Theatrophon, Wikipedia 2013; Reichstagsprotokolle, www.reichstagsprotokolle.de

Fieber, Sex und Zukunft

Paris, 29. Mai 1913: Die Uraufführung des Balletts “Le Sacre du Printemps” von Igor Strawinsky wird zum Musikskandal des Jahrhunderts.

Eine Woche danach bekommt er hohes Fieber, das Thermometer zeigt 41 Grad. Der Doktor verschreibt kalte Bäder, aus St. Petersburg kommt eilends seine Mutter nach Paris gereist, seine Frau Katya zieht zu ihm ins Spital. Vielleicht hat Strawinsky im Larue eine verdorbene Auster gegessen. Vielleicht ist das Fieber aber auch die messbare Folge der kaum zu messenden Hitze, die der 31-jährige Komponist mit der Uraufführung seines jüngsten Werkes freigesetzt hat, einer Explosion der Gegenwart, einem Sprung ins völlig Neue, größer vielleicht, als er selbst weiß, und wovon er nur die ersten Minuten im Parkett gehört und gesehen hat. Wutentbrannt, entsetzt ist er auf die Seitenbühne geflohen vor dem Spott im Publikum, aus dem ein Aufruhr wurde an jenem 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Élysées. Ein Skandal? Der Skandal.

Der Dirigent Pierre Monteux hatte es schon ein Jahr zuvor kommen sehen, als ihm Strawinsky in einem winzigen Probenraum in Monte Carlo Teile daraus am Klavier vorgespielt, ja hingehauen hatte. “Er hatte gerade erst angefangen, da war ich schon sicher, dass er komplett wahnsinnig war. Ohne die Orchesterfarbe, die eine seiner größten Stärken ist, wurde die Rohheit des Rhythmus deutlich, die Primitivität. Die Wände wackelten, als Strawinsky hämmerte, gelegentlich mit den Füßen stampfend, auf und nieder springend.” Aber Monteux, der noch Brahms persönlich gekannt hatte, nahm die Herausforderung an. Einer jener Künstler, ohne die Le Sacre du Printemps, Das Frühlingsopfer, weder entstanden noch im richtigen Moment auf die Welt gekommen wäre.

In dieser Welt, in Europa lag Skandal in der Luft. Es hatte Theatereklats in Paris, in Dresden, in Wien gegeben. Noch Ende März 1913, kurz vor dem Sacre-Abend, stritten sich wiederum die Wiener über Alban Bergs Lieder mit Orchester so heftig, dass am Ende ein Operettenkomponist im tobenden Saal über die Parkettreihen kletterte und Bergs Mentor Arnold Schönberg ohrfeigte.

Es ging nicht nur um Kunst. Man spürte allenthalben, erinnerte sich später Stefan Zweig, “daß eine Revolution oder zumindest eine Umstellung der Werte im Anbeginn war”. 1913 ist das Jahr, in dem Marx’ Kapital als Volksausgabe erscheint; Strawinskys Heimat, das zaristische Russland, wird von Attentaten, Streiks, Demonstrationen erschüttert. Strawinsky schrieb einem Bruder von der “gewaltigen Revolution, die unausweichlich kommen wird” und vor der er keine Angst habe. Doch als er 1906 stundenlang in einer Massendemonstration festgesteckt hat, weiß er, “dass 70 Jahre nicht genügen werden, um die Erinnerung an meine Angst zu löschen”.

Wohlbehütet ist er groß geworden, geboren 1882 als dritter von vier Söhnen des Fjodor Ignatjewitsch Strawinsky, Solist an der Kaiserlichen Oper St. Petersburg und Abkomme polnischer Landbesitzer. Dessen Frau, Igors Mutter, ist die Tochter eines Beamten, musikalisch gebildet, eine gute Pianistin. Zu den Wunderkindern zählt Igor nicht. Er muss Jura studieren, der im Zarenreich übliche Weg zum Beamtenposten. Als der 20-Jährige dem großen Nikolai Rimski-Korsakow ein paar Kompositionsversuche vorspielt, rät der ihm nur, privat fleißig weiterzustudieren. Einen Sommer später bringt Rimski auf seinem Landsitz dem Jüngling immerhin den Sonatenhauptsatz bei und die Orchestrierung. Der Leistungsnachweis des 23-Jährigen, eine Sinfonie in Es-Dur, bewegt sich solide und wie gefesselt im Schatten Tschaikowskys, mit einem Hauch Meistersinger.

In einem Kammermusikzirkel lernt Strawinsky Musik aus Frankreich kennen, von der Rimski wenig hält: Dukas und Debussy, Franck und Fauré. Das hat Folgen. Ein Scherzo fantastique spielt virtuos und rhythmisch elegant mit den Farben des Orchesters. Alexander Siloti, ein Schüler von Franz Liszt, dirigiert es am 6. Februar 1909 in einem seiner Petersburger Sinfoniekonzerte.

Dieser Februartag ist entscheidend. Während der ältere Kollege Alexander Glasunow “kein Talent, nur Dissonanz” gehört haben will, wird ein anderer Konzertbesucher hellhörig: ein beleibter Mittdreißiger mit großem Kopf und schläfrigen Augen. Jeder hier kennt ihn: Bis vor wenigen Jahren hat Sergej Djagilew die Welt der Kunst geleitet, eine Kulturzeitschrift, die Russland als Teil Europas sieht, die auch über französische Impressionisten und die Wiener Sezession berichtet. Djagilew gilt als Alleskönner seit er in Paris erfolgreich Ausstellungen russischer Kunst und Konzerte mit russischer Musik organisiert hat.

Jetzt will der Impresario auch russische Tänzer an die Seine bringen. Er fragt Strawinsky, ob er für diese Ballets russes ein paar Klavierstücke von Chopin instrumentieren könnte. Ballett ist eigentlich nichts für anspruchsvolle Komponisten, trotz Tschaikowsky, und Rimski hätte es ihm glatt verboten, ebenso wie den Umgang mit Djagilew, der ihm als degenerierte Type galt. Aber Rimski lebt seit einem halben Jahr nicht mehr, er, der nach dem Tod von Strawinskys Vater 1902 zuerst Ersatzpapa, dann Übervater wurde. Im Mai 1909 wird das Chopin-Ballett des jungen Komponisten in Paris gefeiert; er selbst ist nicht dabei.

Die Choreografie vertraut Djagilew seinem Geliebten Nijinsky an

Er hat sich eingerichtet, hat ein Haus gebaut, geheiratet, Katya, eine Cousine. Er ist Vater geworden und fängt eine Oper an. Wäre es so weitergegangen, dann kennte man Strawinsky heute, wenn überhaupt, als einen sowjetischen Komponisten im Schatten Prokofjews und Schostakowitschs. Dies jedenfalls legt Richard Taruskin nahe, Autor eines grundlegenden Essays in Avatar of Modernity, einem Band der Paul Sacher Stiftung, der jetzt zum Jubiläum des Sacre du Printemps erscheint. Erst die Aufforderung zum Tanz setzt Strawinskys ganze Begabung frei.

Nach dem Chopin-Ballett verlangen die Pariser Kritiker nach etwas “Russischerem”. Ob ihm Strawinsky, fragt Djagilew, nicht rasch einen Feuervogel komponieren könne, ein Ballett nach dem bekannten Märchen? Strawinsky macht sich an die Arbeit, stets in engem Kontakt zu den Tänzern. Im Frühjahr 1910 bricht die Truppe auf, der Komponist folgt ihr im Juni nach Paris.

Igor Strawinsky ist unauffällig, korrekter Anzug, vager Blick hinter der Brille. Aber wo es um seine Musik geht, wird er energisch, strahlt aus, nervt alle mit seiner Hartnäckigkeit. Hier und da schimmert noch Rimski durch in der Partitur, aber die Farbenglut, die oszillierende Harmonik, die treibenden Rhythmen verbinden sich zu einer neuen Sprache. “Seht ihn euch an”, sagt Djagilew den Tänzern, “das ist ein Mann am Vorabend des Ruhms.” Für diesen Mann interessieren sich bald Kollegen wie Claude Debussy, Maurice Ravel und Reynaldo Hahn, dessen früheren Geliebten Marcel Proust der Komponist ebenso kennenlernt wie André Gide und Djagilews 21-jährigen Groupie Jean Cocteau. Der Feuervogel wird zum Triumph, Strawinsky ist der Mann der Stunde.

Er holt seine Familie nach. Zuerst zieht man in die Bretagne, dann in die Schweiz, in Lausanne kommt ein Sohn zur Welt, schließlich quartiert man sich im nahen Clarens ein. Und noch zwei “Kinder” sind unterwegs, wie Strawinsky seine Stücke gern nennt. Eine Vision hatte er schon während der Arbeit am Feuervogel: “Alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll.” Arbeitstitel: “Das große Opfer”.

Doch zuerst wird Petruschka fertig, eine Burleske, von der Debussy schwärmt: “Da gibt es eine Unfehlbarkeit des Orchesters, wie ich sie nur bei Parsifal finden konnte. [...] Sie werden weiter gehen als mit Petruschka, das ist gewiss…”

Um weiterzukommen, reist Strawinsky 1911 in die Heimat. In Talaschkino bei Smolensk gibt es ein Zentrum für Volkskunst. Hier sammelt er mit dem Bühnenbildner Nicholas Roerich – einem Lebensphilosophen und Experten für ethnische Kunst – Material über das “heidnische Russland”, in dem “Das große Opfer” handeln soll. Strawinsky notiert sich ein paar Volkslieder und entwirft mit Roerich die Geschichte von einem Frühlingsfest russischer Stämme, an dessen Ende sich ein Mädchen zu Tode tanzt.

Im August 1911 erteilt ihm Djagilew den Auftrag. 8.000 Rubel Honorar, eine enorme Summe. Schon im Februar darauf hat Strawinsky den ersten Teil der Reinschrift abgeschlossen, dann skizziert er den zweiten Teil in Clarens und auf Reisen, in Monte Carlo auch mal auf eine Restaurantrechnung, vielleicht nach jener Klaviervorführung im Probenraum, von der Pierre Monteux so erschüttert ist. Nicht anders geht es Debussy, der den ersten Teil mit dem Komponisten am Klavier im Juni 1912 im Haus eines Pariser Kritikers hört. Ganz geheuer scheint dem klugen Kollegen die rasante Entfaltung Strawinskys nicht mehr zu sein.

Den treibt auch der Puls dieser Jahre. Die Kubisten um Picasso nehmen Abschied von der Perspektive. Die koloniale Herrschaft Europas weckt das Interesse an der Kunst indigener Völker – und am Archaischen in der eigenen Zivilisation. Sigmund Freud erkundet “Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker”. Da ist ein neues Tempo, der Rhythmus der Maschinen, der die Futuristen begeistert, das Rattern der Metro, der ersten Flugzeugpropeller. Alles scheint möglich. Auch der Krieg, den der Berliner Lyriker Georg Heym schon 1911 beschwört.

Strawinsky arbeitet zielbewusst. Selbst den Rat eines Richard Strauss schlägt er aus, der ihm nach einer Feuervogel-Aufführung 1912 in Berlin sagt: “Es ist ein Fehler, dass Sie Ihr Stück pianissimo anfangen lassen. Da hört das Publikum niemals zu. Man muss gleich beim ersten Akkord durch großes Getöse überraschen [...], danach können Sie machen, was Sie wollen.”

Er macht, was er will, was da wächst zwischen den Bildern im Kopf und der unablässigen Kontrolle am Klavier; ihn inspiriert wohl auch, dass Katya wieder schwanger ist. Der Sacre beginnt mit einer einsamen Rätsellinie in höchster Fagottlage. Und endet im dreifachen Forte, mit einem dumpfen Schlag. “Heute 4./17. XI. 1912 Sonntag habe ich unter unerträglichen Zahnschmerzen die Musik des Sacre beendet. I. Strav. Clarens, Châtelard Hotel.”

So steht es im Skizzenbuch. Die Reinschrift ist erst im März fertig – ein Wunder penibler Kalligrafie auf 49 Blättern –, da haben die Proben längst begonnen. Geprobt wird immer dort, wo die Compagnie gerade tourt. In Budapest, erinnert sich eine Tänzerin, “schubste Strawinsky den dicken deutschen Pianisten zur Seite, den Djagilew ›Koloss‹ nannte, und spielte selbst weiter, doppelt so schnell, wie wir es bis dahin kannten und tanzen konnten. Er stampfte mit den Füßen und hieb mit der Faust in die Tasten und sang und schrie, um uns die Rhythmen und die Farben des Orchesters klarzumachen.”

Die Choreografie hat Djagilew einem Star der Truppe anvertraut, seinem Geliebten Vaslav Nijinsky, götterschön, Mitte zwanzig, der im Sacre neben dem Dekorativen auch das Psychologische des Tanzes hinter sich lässt, interessiert an ritueller Gestik, an Raum und Struktur. Strawinsky schilderte Nijinsky später als unbedarft: “Der arme Kerl konnte weder Noten lesen noch irgendein Instrument spielen.” Tatsächlich spielte dieser “arme Kerl” vierhändig mit Maurice Ravel. Strawinskys Verzerrung ist nur zu erklären durch das Trauma der Uraufführung: Mit einer anderen Choreografie, mochte der Gekränkte glauben, hätten die Pariser seine Musik so gut aufgenommen wie die vorigen Ballette.

“Gebt ihr bald Ruhe, ihr Nutten aus dem 16. Arrondissement?”

Die Generalprobe am 28. Mai, vor Künstlern und Kritikern, verläuft ruhig. Trügerisch ruhig? Harry Graf Kessler, der kosmopolitische Kunstfreund, notiert in sein Tagebuch: “Mit Djagilew, Nijinsky, Strawinsky, Ravel, Werth, Mme Edwards, Gide, Bakst usw. zu Larue, wo allgemein die Ansicht herrschte, daß es morgen Abend bei der Premiere einen Skandal geben würde.”

Das Théâtre des Champs-Élysées ist erst zwei Monate zuvor eröffnet worden, ein moderner Bau ohne Plüsch und Prunk. Am 29. Mai, einem Donnerstag, kommen 2.000 Besucher, “ein mondänes Publikum, dekolletiert, übersät mit Perlen, mit Kopfschmuck und Straußenfedern, neben den Fräcken und dem Tüll die Jacken, die Stirnbänder, die auffälligen Lumpen jener Rasse von Ästheten, die das Neue auf jeden Fall bejubelt aus Hass gegen die Leute in den Logen”, erinnert sich Jean Cocteau an den Abend, und Kessler bestätigt ihn: “Das glänzendste Haus, das ich in Paris je gesehen habe, Aristokratie, Diplomaten, Halbwelt…” Von Anfang an sei es unruhig gewesen.

Indessen geht das erste Stück, das bewährte Chopin-Ballett, über die Bühne. Doch als das Frühlingsopfer beginnt, lacht man schon, ehe – nach 75 Takten Einleitung – der Vorhang hochgeht und sich vor stilisierter Berglandschaft Tänzer zeigen, die in folkloristischen Kostümen jede dekorative Eleganz verweigern, dafür aber jeden Ton zu Bewegung machen. Jemand miaut. Die Unruhe wächst, bis Florent Schmitt, Komponist und Strawinsky-Bewunderer aus dem Elsass, brüllt: “Gebt ihr bald Ruhe, ihr Nutten aus dem Sechzehnten?” Das 16. Arrondissement ist das Viertel der Reichen. “Ihr seid reif für die Annexion!”, brüllt es zurück. Die greise Comtesse de Pourtalès, notiert Cocteau, steht mit verrutschtem Diadem in ihrer Loge und ruft: “Es ist das erste Mal in 60 Jahren, dass es jemand wagt, sich über mich lustig zu machen!”

Bald soll es zu Handgreiflichkeiten und Duellforderungen gekommen sein. Gipfel des Tumults sei der finale Todestanz gewesen, sagt Nijinskys Assistentin, während seine Schwester das als einzigen ruhigen Moment erinnert. Die Polizei habe eingegriffen, behaupteten Besucher später. Die Akte Cb29.47 der Polizeipräfektur zu jenem Zeitraum ist verschwunden. Die Presse der nächsten Tage, die das Stück überwiegend “desagréable” findet und barbarisch, wenn auch “virtuos orchestriert” und von einer “gewissen rhythmischen Kraft”, geht erstaunlicherweise mit keinem Wort auf Exzesse ein. Von denen berichten, je mehr Zeit vergeht, umso mehr Zeugen. So wuchs der Skandal mit dem Ruhm der Partitur.

Was man von ihr hören konnte in der Uraufführung, bleibt unklar. “Höllenlärm” habe im Saal geherrscht, notiert Harry Graf Kessler tags drauf, darüber “gingen immerfort wie Sturmwetter Lachsalven und gegnerisches Klatschen, während die Musik wütete und auf der Bühne die Tänzer unentwegt und prähistorisch tanzten”.

“Ich saß in der vierten oder fünften Reihe rechts”, erinnert sich Strawinsky selber, “und das Bild von Monteux’ Rücken ist mir lebendiger in Erinnerung geblieben als das Bühnenbild. Er stand dort scheinbar unzugänglich und ohne Nerven wie ein Krokodil. Es ist für mich immer noch fast unglaublich, dass er das Orchester wirklich bis zum Ende durchbrachte [...]. Was ich in musikalischer Hinsicht von der Aufführung gehört habe, war nicht schlecht.”

Man staunt immer wieder, dass es nur eine gute halbe Stunde war und ist, in der die Musik hier gleichsam aus ihrer Geschichte herausschießt, aus einem großen, spätromantischen Orchester mit überdimensionaler Schlagzeugsektion. In schwindelerregender Rhythmik – archaisch wuchtig und doch komplex wie keine zuvor –, in Repetitionsmodulen und extraterrestrischer Harmonik, in Abstraktionen größter Energie entsteht eine Dimension, welche die Musik zuvor nicht kannte. Am Ende des ersten Teils jagt das Orchester mit Achteln, Sechzehnteln, Triolen auf den Doppelstrich zu und scheint ihn zu durchschlagen: Die Musik rast weiter in Kopf und Körper, über das Notierte hinaus, in die Zukunft. Leonard Bernstein fasste sich kurz: “It’s all about sex.”

Wer diese Musik – weil sie sich in kein Subjekt “einfühlt”, weil es um eine Opferung geht – als Prophetie des Weltkriegs hört, der ein gutes Jahr später begann, unterschlägt ihre Freude auf eine Zukunft, die ebenso hätte kommen können, und verkennt, dass uns hier auch eine Botschaft aus einem Europa neuer, weiter Horizonte erreicht. Dass diese Musik bis heute modern klingt, hat viel zu tun mit dem, was an ihr uneingelöst blieb.

Nach der Uraufführung (der an dem Abend noch zwei weitere Ballette ohne Zwischenfälle folgten) wurde bis drei Uhr nachts im Larue soupiert. Dann nahmen sich Djagilew, Nijinsky, Bakst, Cocteau und Kessler ein Taxi “und machten eine wilde Fahrt durch die nächtliche im Mondschein wie ausgestorbene Stadt”. Schreibt Kessler. Cocteau bestätigt die Fahrt, erinnert sich aber nur an Strawinsky um zwei Uhr nachts in einem Fiaker. Man sei zum Bois du Bologne gefahren, habe Puschkin zitiert und geweint…

Sicher ist, dass der immer noch fieberkranke Komponist am 9. Juni Besuch von Debussy bekam und ihm den Klavierauszug schenkte. “Meinem sehr lieben Freund zur Erinnerung an die Schlacht vom 29. Mai 1913″, schrieb er hinein.

Der Artikel erschien am 16. Mai 2013 in der ZEIT

In Seufzern abwärts

Der Komponist Carlo Gesualdo hat seine Frau und ihren Liebhaber ermordet – und danach die wundervollsten Madrigale komponiert.

Hühner scharren im trockenen Lehm, eine Kuh blickt auf, eine Ziege. Aus dem Schatten alter Mauern treten Bewohner und gucken misstrauisch. Ein Fremder ist gekommen, ein kleiner alter Mann. Er spricht mühsam Italienisch und möchte das Schloss besichtigen. Ein Komponist habe hier gelebt, sagt der Alte. Er deutet auf die Inschrift im Sims: CAROLVS GESVALDVS.

Den kennen sie nicht. Der Alte stellt sich vor: Igor Strawinsky, Komponist. Ebenfalls unbekannt. Aber gut, er darf ins Schloss. Bröckelnder Putz, billige Möbel. Der Alte sagt, sein Kollege habe nicht nur Musik geschrieben, sondern auch seine Frau umgebracht. Sie verstehen ihn falsch und blicken beunruhigt: Dieser Strawinsky hat seine Frau umgebracht?

So etwa verlief der Besuch, den der große Russe im Sommer 1956 seinem toten Kollegen abstattete, 100 Kilometer östlich von Neapel. Er hat ihn später geschildert. Die Szene steht am Anfang einer langen Wiederentdeckung. In den Jahrzehnten seither hat der Vergessene wieder Gestalt angenommen – als gäbe es eine Nähe zwischen seiner Epoche und unserer Zeit: Carlo Gesualdo, 1566 geboren, 1613 gestorben, ist eine gefährliche Gestalt.

Doppelmörder war er, Tyrann, Masochist, Melancholiker und Komponist, der jeden Maßstab infrage stellt. Das reizte nicht nur Romanautoren. Werner Herzog ist mit einem Fernsehfilm am Stoff gescheitert, Kompositionen über Gesualdo häufen sich, allein zwei Opern sind in den letzten Jahren entstanden. Glenn Watkins’ grundlegendes Buch über den Komponisten ist in diesem Herbst in deutscher Sprache erschienen. Und erstmals seit 400 Jahren gibt es Leute, die seine Stücke wirklich singen können. Doch je näher man diesem Fürsten von Venosa und Meister des Madrigals kommt, desto mehr entzieht er sich. Wer in der Glut seiner Töne schwelgen will, kann ins Eiskalte geraten, wer den Menschen sucht, hält Knochen in der Hand.

Zunächst war Carlo Gesualdo da Venosa ein Fürst wie andere im Cinquecento auch. Gewohnt, sich von vier Bedienten das Nachtmahl ans Bett bringen zu lassen, wichtigere Reisen mit einem Gefolge von 150 Leuten anzutreten und das Vermögen zu verwalten, das seine normannische Familie seit 1059 zusammengerafft hatte dort, wo sich jetzt die Landstraße 303 durch eine hübsche Hügelgegend schlängelt.

Er hatte eine glänzende Musikausbildung genossen. Sein Vater beschäftigte mindestens zwölf Musiker, die Hälfte davon Komponisten. Häufiger Gast im Schloss war auch der Dichter Torquato Tasso, ein Freund des jungen Carlo, den er immer wieder lyrisch würdigte. Um das Geld in der Familie zu halten, hatte man Carlo, als er 19 war, mit einer Cousine verheiratet, Maria d’Avalos. Sie war 25, klug und schön und schon zweifache Witwe. Ihr erster Mann war angeblich “dem übermäßigen Genuss ehelicher Wonnen” erlegen. Es wird behauptet, dass sie auch mit Carlo anfangs “eher wie ein Liebespaar statt wie Mann und Frau” zusammenlebte.

Wenn das so ist, muss der junge Mann, hoch begabt, hoch vermögend, vom Himmel in die Hölle gefallen sein, als Maria sich mit ihm zu langweilen begann und sich in Fabrizio Carafa, den Herzog von Andria, verliebte. Auf einmal wurden die Abgründe real, die Schmerzen, von denen man seit einem halben Jahrhundert in seinen Kreisen so stilvoll sang. Er soll es zuerst nicht geglaubt haben.

“Wenn du mir dich zu lieben verwehrst, ach, nur daran zu denken – der Schmerz tötet mich, und die Seele entflieht im Flug.” Wer heute so einen Text liest, spürt das Floskelhafte, entdeckt im “Ahi”, dem “Ach”, der fliehenden Seele die höfische Pose. Doch wer hört, was Gesualdos fünf Stimmen daraus machen, erschrickt. Man kann gleichsam dem Schmerz beim Töten zuschauen. Da es Liebesschmerz ist, beginnt er sanft auf den Worten “il duol”, “der Schmerz”, bei denen zwei Stimmen liegen bleiben und zwei gemeinsam nach oben steigen, von B-Dur nach Es-Dur. Zu “m’ancide”, “tötet mich”, gleitet der Sopran noch einen Halbton höher.

Seine Satzkunst weist voraus ins 20. Jahrhundert

Und dann geraten diese Bewegungen in eine Harmonik, für die es kein System gibt, nicht im Mittelalter, nicht bei Palestrina, nicht bei Bach und schon gar nicht bei Wagner, der viel mehr Rücksicht auf tonale Zentren nimmt, als er uns weismacht. Erst nach ihm findet man Bodenlosigkeiten wie bei Gesualdo – dann aber ohne dessen Notwendigkeit.

Der lässt auf einen A-Dur-Septakkord, dem das A fehlt, Es-Dur folgen, und solche Harmonik deckt sich mit Stimmenführung und Wortausdeutung. Der Schmerz tötet langsam und will, da er doch an die Liebe erinnert, wiederholt werden. Da, wo uns das Es-Dur schockiert, beginnt “il duol” noch einmal tiefer, diesmal ohne den Sopran, der sozusagen schon gestorben ist.

Carlo Gesualdo komponierte das zehn Jahre nachdem er zum Mörder geworden war. Im Untersuchungsbericht der Gran Corte della Vicaria zu Neapel vom 27. Oktober 1590 ist alles nachzulesen: Maria, seit fünf Jahren mit Carlo verheiratet, hatte ihre Liaison mit Fabrizio immer unvorsichtiger betrieben. Letzterer soll kurz nach vier Uhr morgens auf der Straße gepfiffen und dann die Gemächer Marias im Stadtpalais Gesualdos betreten haben. Eine Stunde später wurde er dort, mit einem Damennachthemd bekleidet, erschossen. Das besorgten drei Diener des Fürsten, der dann erst selbst den Raum betrat und seine Frau tötete. Er hat ihr danach “noch einige Wunden” zugefügt mit den Worten: “Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist.” Der Zustand der Leichen, den die Richter vor Ort protokollierten, bezeugte die ausgiebige Anwendung von Messern, Dolchen, Hellebarden, Schwertern und Handfeuerwaffen.

Dass Schwertstöße durch die Körper tief in den Boden gedrungen waren, gehört noch zu den schlichteren Details dieser Schlachtung. Nach herrschendem Konsens war es eine Sache der Ehre und der Gehörnte im Recht. Man fand nur stillos, dass auch Schergen aus dem Pöbel Hand an erlauchte Personen gelegt hatten. Tasso schrieb zwei tränenreiche Sonette, in denen er keinem einen Vorwurf machte. Vermutlich wäre Carlo Gesualdo dennoch verfolgt worden, hätte er nicht zur aristokratischen Elite gehört. Kaum vorstellbar, dass sein Zeitgenosse Monteverdi, ein Handwerkerssohn, nach so einer Tat noch weit gekommen wäre. Das Gericht legte den Fall zu den Akten, und Gesualdo ließ für alle Fälle ein Kloster mit Kapelle bauen. Immerhin hatte er gegen das fünfte Gebot verstoßen.

Um von seiner Musik getroffen zu sein, muss man nicht an seine blutigen Lebenserfahrung in Sachen Liebe und Tod denken. Sie wäre belanglos ohne die poetische Ausdruckskraft, die sich bei allen großen Madrigalkomponisten findet. Arcadelt, Willaert, Rore, Marenzio, de Wert, Gabrieli und Hunderte andere haben mitgewirkt am differenziertesten gemeinsamen Vokabular, das es in der Musikgeschichte je gegeben hat. Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatten sich Worte und Töne eher unabhängig voneinander bewegt, menschliche Affekte waren kaum der Gegenstand polyphoner Musik. Dann entwickelte sich, zuerst an Petrarcas Lyrik, eine Gefühlskunde, die für jede Textnuance eine klingende Entsprechung suchte, für Angst und Freude, Licht und Schatten.

Das war kein starrer Katalog, sondern eine flexible Übereinkunft. Auch wenn sich für “Flucht” schnelle Notenwerte empfahlen und für “Seufzer” Halbtonschritte abwärts, blieb unendlich viel Platz für Wagnisse der Textausdeutung und der Kontrapunktik, und die Kürze dieser Madrigale steigerte ihre Attraktivität und Beweglichkeit.

Immer wenn die “maniera”, der Konsens über guten Stil, zu erstarren drohte, reagierten die Komponisten. Das Madrigal wandelte sich ständig. Es war ein hundertjähriges Projekt von Musikern aus ganz Europa, die an Italiens Fürstenhöfen konkurrierten, einander huldigten, verbesserten, ausspähten. Die meisten Menschen hörten davon allerdings keinen Ton. Das war musica riservata für eine kleine Oberschicht, deren literarisches, künstlerisches, musikalisches Gespür für Qualität von keiner Machtelite wieder erreicht wurde. Sie hatten Sinn für Genies. Gesualdo ist der einzige Fürst aus dieser Goldwelt, der selbst zum Genie wurde.

Als vor knapp fünfzig Jahren ein paar Enthusiasten in Los Angeles Gesualdo aufführten, saß Aldous Huxley im Saal und war gefesselt von dieser Terra incognita, “fremd und schön”. Ein verstummtes Jahrhundert wurde hörbar. Für uns sind Aufnahmen jener Zeit bestenfalls rührend, man sang mit Vibrato, undeutlich, zäh. “Selbst die hervorragendsten Sänger”, fand Strawinsky noch 1968, “wären nicht in der Lage, die Homogenität des Klanges, die exakte Intonation zu erreichen.” Er forderte jene “festen Madrigalkonsortien”, die es inzwischen, beinah auf dem Niveau der Fürstenhöfe von einst, zu Dutzenden gibt, vom Deller-Consort bis zu Les Arts Florissants.

Erst das Concerto Italiano unter Rinaldo Alesandrini hat in diesem Jahr überragende Technik mit geradezu erotischer Sensibilität vereint, gleichzeitig setzen Andrew Parrot und das Taverner Consort neue Maßstäbe. Sie verbinden Präzision mit Heftigkeit, sie singen glasklar und expressiv. Wer danach dieselben Werke mit dem Hilliard Ensemble hört, noch 1992 als Nonplusultra gefeiert, empfindet sie als kontrastlose Meditationsklänge für New-Age-Konsumenten.

In der Spätrenaissance gab es die besten Sänger in Ferrara. Und dort, an einem der musikalischsten Höfe der Zeit, erlebte Gesualdo seine Selbstfindung als Komponist. Den Weg dahin bahnte ihm der Mord. Denn der Fürst war nun Witwer und als reicher Neffe eines Kardinals idealer Heiratskandidat für die Familie d’Este. Er zögerte nicht. Im Februar 1594 reiste er zur Hochzeit mit Leonora d’Este nach Norden. Auf der Fahrt spähte ein Abgesandter der Estes den Neuen aus. “Er trägt einen Überrock so lang wie ein Nachthemd. Er redet viel, und nur seine Züge verraten seine Melancholie. Über Musik sprach er so lange, dass ich in einem ganzen Jahr nicht mehr gehört habe.”

Zwei Madrigalsammlungen hatte Gesualdo schon im Gepäck. Sie waren meisterhaft, aber nicht ungewöhnlich. Erst was er hier komponierte, wurde persönlich, harmonisch schwerer zu fassen, meist in den letzten paar Takten eines Stücks. “Man kann nicht sterben durch Schmerz und Qual allein”, “süßer, seltsamer Tod” – bei solchen Wendungen verließ er die Konvention.

Er quälte sein zweite Frau und bangte um sein Seelenheil

Seine Zeitgenossen schlugen einen anderen Weg ein. Sie entfernten sich von der komplexen Polyphonie, hin zur Dominanz einer Stimme, letztlich zur Oper. Gesualdo war so gesehen konservativ. Seinen Ausdruckswillen hielt er mit der Kontrapunktik in Schach. Die Madrigale, die er wieder zu Hause im Süden schrieb, expandieren nach innen – wie beim erwähnten “il duol”. Glenn Watkins spricht von den “labyrinthischen Ausmaßen eines so kleinen Kosmos”. Wer dem in die letzten Verästelungen folgt, in den “hautwandigen Raum”, den Komponist Wolfgang Rihm da erlebt, fühlt Luft vom anderen Planeten, aber keine Geborgenheit. Keine Wärme wie bei Monteverdi. Das Menschliche ist woanders, wohl im Willen, der diese Musik in ihren zwingenden Zustand treibt. Er quälte seine zweite Frau, die sich – fern vom mondänen Norden – eingesperrt fühlte, schlug und betrog sie und verewigte sie zugleich auf einem Altarbild. Gesualdo war zunehmend in Angst um sein Seelenheil. Er sammelte Reliquien und bestellte 1609 ein Bild für die Kapelle, die er nach dem Doppelmord gestiftet hatte: Da lodern zwischen ihr und Gesualdo die Flammen der Verdammnis, aus denen ein nacktes Paar errettet wird.

Ein ängstlicher Tyrann. Doch seine Kirchenmusik aus diesen Jahren übertrifft in ihrer Reife selbst die Madrigale. “Die einstigen Regelübertretungen”, schreibt der Musiktheoretiker Johannes Menke, prägen nun “eigene standardisierte Formen” aus, “die eine neue harmonische Einheitlichkeit erzeugen”. Latein und Liturgie scheinen den Komponisten von seiner Subjektivität zu erlösen, ohne seine Vorstellungskraft zu mindern. Die Architektur wird größer und kalkulierter, und in ihr leuchten auch schlichte Wendungen wie die Moll-Dur-Aufhellung für die Stimme des sterbenden Jesu so auf, dass es einen überwältigt.

Derselbe Verstörte, der sich dreimal täglich auspeitschen lässt, weil ihm das wohltut, schreibt zu den “plaga crudeli”, den “grausamen Schlägen” der Responsorien, eine souverän verdichtete Vorhaltsharmonik. Wird sie gesungen, hört man einander überflutende Wellen, sie birgt schon alles, was Bach 100 Jahre später in umfassendere Ordnungen hob. Die Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg haben Gesualdo staunend entdeckt als einen, der vor ihnen den Rand der Musik erreichte. Aber er bleibt doch fern. Wolfgang Hildesheimer hat 1960, in Tynset, Carlo Gesualdos Sterbebett beschworen, “verdunkelt mit einer schweigenden samtenen Dunkelheit, heraldisch eingefasst, einer fürstlichen feudalen Dunkelheit, wie die Armen sie nicht kennen”. Und hinter ihr liegt die Helligkeit einer Zeit, in der sich die Sonne noch um die Erde gedreht hat.

Musik von Carlo Gesualdo:
Tenebrae, Taverner Consort (Sony Classical 62977)
dolorosa gioia, Concerto Italiano (opus 111 30-238)

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 3.11.2000