Kategorie-Archiv: Historisch

Ah, die Nerven! Das kenne ich!

Das leidenschaftliche Leben des Hector Berlioz, der vor 200 Jahren geboren wurde

In Belgien lag so viel Schnee, dass der Zug stecken blieb. Das ist zehn Tage her und eine Idylle, verglichen mit dem Eisenschlitten, in dem er jetzt friert, während durch Ritzen des Verdecks Schneestaub eindringt und die hart gefrorenen Furchen im Weg den Reisenden an die Wände schleudern, bis er Beulen hat und ihm übel ist. Vier Tage und Nächte von Tauroggen bis Sankt Petersburg, rund 1000 Kilometer Landstraße, davor schon die 2000 Kilometer ab Paris, wo Balzac ihn ermuntert hat: „Sie werden mit 150000 Franc zurückkommen, ich kenne das Land…“ Hector Berlioz ist verschuldet, Paris hat ihn ruiniert, es kann anderswo nur besser werden. Aber jetzt hat er Angst vorm Erfrieren. Raben folgen dem Schlitten und fressen den Pferdemist.

Berlioz denkt an die Vernichtung der Grande Armée im russischen Winter, vielleicht denkt er auch an all die Reisen, die er schon überstanden hat, an Seenot und Raubüberfälle, an Dampflokomotiven und Postkutschen, an Berlin, Wien, Prag, Budapest, wo man ihn voriges Jahr gefeiert hat. Er ist, mit 43 Jahren, berühmt in Europa, da können die Pariser machen, was sie wollen. Vor wenigen Tagen ist der preußische Postmeister in Tilsit, als der Reisende seinen Namen nannte, unter Rufen der Begeisterung aufgesprungen, die Mütze in der Hand, und hat Curaçao serviert. Das wird Berlioz seinem Vater erzählen, falls er heil nach Frankreich zurückkommt, diesem wackeren Arzt in einem Städtchen bei den französischen Alpen, der so energisch zu verhindern versucht hat, dass sein Sohn ein Komponist wird.

Andererseits hat er ihn, der am 11. Dezember 1803 zur Welt kam, Hector genannt, „der Widerstehende“, nach jenem Helden Trojas, den nur Poseidon beugen konnte. Und er hat ihn selbst auf die Spur der Künste gebracht. Er lehrte ihn Latein, las mit ihm Vergils Äneis, brachte ihm Flötenspiel und Notenlesen bei. Er besaß Reisebeschreibungen, die Hectors Fernweh entflammten, gern wäre der Junge Seemann geworden. Aber La Côte-Saint-André liegt fern der Küste. Eine andere Neigung hatte er als Achtjähriger entdeckt, als er seine ältere Schwester in die Kirche begleiten durfte und die Hostie empfing. „Da ertönte, von jungfräulichen Stimmen gesungen, ein Abendmahlslied… Ich glaubte, den Himmel offen zu sehen. O wunderbare Macht des Ausdrucks! O unvergleichliche Schönheit der Melodie des Herzens!“

Er sang, während er Schädel zersägte

Mit 12 Jahren verliebt er sich unter dem Spott der Umgebung in eine 18-Jährige und beginnt Romanzen zu komponieren. Eine davon hat er nicht verbrannt. Ihr entstammt, wenn man ihm glauben darf, das Geigenthema, mit dem die Symphonie fantastique des 26-Jährigen beginnt. Das Tempo, in dem er sich bis dahin als Komponist entwickelt hat, lässt es möglich erscheinen, dass das weit geschwungene, mysteriös aufgeladene erste Thema der Sinfonie tatsächlich schon der Fantasie des Knaben entsprang.

Dessen wachsende Musikleidenschaft beunruhigt den Vater. Er befiehlt den 17-Jährigen zum Medizinstudium in Paris. Da steht Berlioz in der Anatomie und singt, während er Schädel zersägt, Arien aus den Opern, die in der Hauptstadt gespielt werden. Für ihn, der bis dahin kaum anspruchsvolle Werke kennt und sich die Harmonielehre selbst beigebracht hat, ist das Pariser Musikleben Wasser unter dem Kiel seiner Träume, die Begegnung mit Glucks Oper Iphigenie treibt ihn endgültig aufs Meer. Er nimmt Kompositionsunterricht. Er bricht das Medizinstudium ab und der Vater die Zahlungen, die Mutter verstößt ihn. Als strenge Katholikin hält sie eine Künstlerlaufbahn für sündhaft. Das erste Stück, mit dem er sich an die Öffentlichkeit wagt, ist eine Messe.

Für die Uraufführung fehlen ihm, der sich als Chorist in Vorstadttheatern durchschlägt, 1200 Franc. Der 21-Jährige schreibt in seiner Verzweiflung an Chateaubriand. Antwort des Schriftstellers und Staatsmanns: „Die Prüfungen, welchen das Talent manchmal ausgesetzt ist, verhelfen ihm zum Sieg.“ Es findet sich ein anderer Geldgeber, und die Uraufführung wird ein Erfolg, dessen Anlass wir überprüfen können, obwohl Berlioz später die Noten verbrannte. Er hat einem Geiger statt der Gage das Autograf gegeben, das 1992 auf der Orgelempore einer Antwerpener Kirche zum Vorschein kam – wie so viele Facetten dieses Mannes erst im 20. Jahrhundert entdeckt wurden.

John Eliot Gardiner nahm diese Messe auf, erratische Musik, großräumig und herb, mit bizarren Accelerandi zwischen Klangpfeilern, von fragmentierten Motiven wie von Blitzen durchzuckt. Die zeitgenössischen Vorbilder, deren Einfluss auf seine Musik dem jungen Komponisten peinlich war, verblassen für uns hinter seltsamer Faszination – es ist Mondgestein darin, traditionsfremde Materie, die vielleicht nur einem solchen Autodidakten erreichbar ist. Teile daraus übernimmt er unter anderem in die Symphonie fantastique, deren Schicksalsthema er wiederum schon in einer Kantate ersonnen hat. An dieser Sinfonie zeigt sich Berlioz’ Werkstatt als brodelndes Recyclinglabor, doch um alle Essenzen miteinander reagieren zu lassen, braucht es Katalysatoren.

Sie heißen Smithson, Shakespeare, Goethe, Beethoven. Harriet Smithson ist eine irische Schauspielerin, die in Paris als Ophelia und Julia gefeiert wird und in die sich Berlioz so flammend verliebt, wie er fortan Shakespeare verehrt. In Nervals Übersetzung berauscht ihn Goethes Faust. Zugleich werden, kurz nach Beethovens Tod, dessen Sinfonien in Paris bekannt – für Berlioz eine „neue Welt“, die ihn dazu bringt, als Komponist „über Berg und Tal, durch Wald und Feld meinen Weg zu nehmen“. Er tut es im Jahr der Julirevolution 1830, und damit beginnt ein neuer Weg in der Musik.

Die Sinfonie heißt im Untertitel Episode aus dem Leben eines Künstlers. Es ist eine autobiografische Musik von unglücklicher Liebe und opiumumwallten Gewaltfantasien, am Ende taucht im Hexensabbat die Geliebte als grelle Dirne auf, ihr einst so flehend schönes Thema (eine idée fixe, lang vor Wagners Leitmotiven) wird zerfetzt wie der Begriff einer absoluten Musik, die über dem Leben schwebt. Hier tobt ein Individuum und eignet sich die Möglichkeiten eines Orchesters an. In jäh gegeneinander geschnittenen Klangmischungen ist selbst Harmonik keine Basis mehr, sondern Farbe und Material. Bei Berlioz’ musikalischen Zeitgenossen findet man dazu keine Parallelen. Eher beim Maler Delacroix, was die Explosivität der Farben angeht, und bei den Schriftstellern, die von Hoffmann bis Hugo den Künstler zum entfesselten Prometheus machen.

Die hat Berlioz, mittlerweile 35, dringend nötig. Zwar kennt man ihn in Paris, er hat sein Requiem uraufgeführt und seine Oper Benvenuto Cellini. Aber die wurde massakriert – zu irritierend war ihr Stilgemisch. Von Erfolgen, wie Meyerbeer sie mit seinen hollywoodmäßig kalkulierten Opern erzielt, kann Berlioz nur träumen, der Musikbetrieb lässt ihn als Exoten zappeln. Als Musikbibliothekar am Konservatorium verdient er 118 Franc im Monat, was ihn nötigt, Feuilletons zu schreiben. Er wird es tun, bis er 60 ist. Er hasst die Zeitungsarbeit, aber er schreibt fantastisch. In seinen Kritiken, Polemiken, Erzählungen, subjektiv, radikal, ironisch, wird das Pariser Musikleben seit 1835 bis auf den Sou durchleuchtet; die Bände, in denen das gesammelt erscheint, bilden mit den Memoiren eine wahre comédie humaine musicale.

Wir erleben Intriganten und Enthusiasten, Dirigenten, die Einsätze verpassen, Zuhörer, die Stühle zerschlagen, Idealisten, die sich die Kugel geben, revoltierende Orchestermusiker, vergiftete Komplimente, verstimmte Instrumente, Sänger, die zu Tränen rühren oder mit ihren Verzierungen die Musik verwüsten. Mit diesen Texten wird er als Journalist berühmt, macht sich aber Feinde bei denen, die er bräuchte, um seine Musik durchzusetzen. Noch der 58-Jährige bietet seine neue Oper Les Troyens vergeblich der Opéra an. Man produziert dort stattdessen Richard Wagners Tannhäuser. Das ist umso bitterer, als die archaisch expressiven Trojaner eine der wenigen ernst zu nehmenden Alternativen zu Wagners musiktheatralischer Ästhetik sind, die das 19. Jahrhundert hervorbrachte. Colin Davis zeigte 1970 als Erster mit einer phänomenalen Einspielung, welches Atlantis hier versunken ist.

Ab 1842 sucht Berlioz den Erfolg, den Paris seiner Musik verweigert, auf Reisen, vor allem in Deutschland, „wo die Begeisterung noch lebt“. Man muss sie nur wecken. „Was will dieser Franzose? Warum bleibt er nicht zu Hause?“, fragen sich, wie ihm scheint, die Musiker von Frankfurt bis Berlin, Hamburg bis Stuttgart, wenn er ihnen seine Noten aufs Pult stellt, durch nichts legitimiert als durch den schillernden Ruf, der ihm vorauseilt. Oft taucht er unangemeldet auf und überfällt eine lokale Musikautorität wie den Musikverleger Schott in Mainz, der schläfrig antwortet: „Sie können hier … kein Konzert geben… Wir haben kein … Orchester… wir haben kein Publikum… wir haben kein Geld!“

Anderswo bringt er es, des Deutschen nicht mächtig, fertig, dass man ihm ein Orchester zur Verfügung stellt, schreibt, wenn kein Englischhorn da ist, die Stimme für Oboe um, probt wie ein Besessener, und wenn im Konzert alles gut geht, schreit das Publikum vor Begeisterung. Den Braunschweigern entgilt er ihren Jubel besonders hintersinnig – im Science-Fiction Euphonia errichtet er eine ideale „Stadt der Musik“ im Harzvorland des Jahres 2344. Freunde und Bewunderer sind auch Liszt in Weimar und der Musikwissenschaftler Ambros in Prag, wo man den Franzosen und seine Sinfonie Roméo et Juliette feiert wie einst Mozarts Figaro.

Das modernste Verkehrsmittel ist ihm bei seinen Reisen kaum schnell genug, er spottet im fiktiven Rückblick aufs 19. Jahrhundert: „Die Reisenden, welche in jener Epoche anmaßender Barbarei in schweren, von Dampf getriebenen, auf eisernen Schienen dahinrollenden Wagen zehn bis zwölf alte französische Meilen in der Stunde durchfuhren, empfanden über diese schnelle Lokomotion einen lächerlichen Stolz.“ Diesen Fortschrittsstolz empfindet er aber auch selbst. Er frohlockt, als er 1845 an der Donau von der Postkutsche in einen „eleganten und schnellen Dampfer“ umsteigen kann, noch lieber wären ihm lenkbare Luftschiffe, wie er sie in Euphonia ersinnt. Andererseits passt es ihm auch, in einer alten deutschen Postkutsche den Faust zu komponieren.

Zwischen Epochen unterwegs, in Kutsche und Eisenbahn

Die Damnation de Faust ist sein Mitbringsel für Paris. Rund 8000 Euro kostet ihn allein die Saalmiete für zwei konzertante Aufführungen dieser Oper, dazu kommt das Abschreiben der Noten, die Honorare für Sänger und Orchester. Wer nicht kommt, sind die Pariser. Halb voller Saal, Verlust rund 15000 Euro. Auf nach Russland. Zwei Wochen Reise, Berlioz übersteht die Schlittenfahrt. Er kommt, „vor Kälte ganz zusammengeschrumpft“, am Sonntagabend des 28. Februar 1847 in St. Petersburg an. Kaum ist er eine Stunde im Hotel, sucht ihn ein Musikliebhaber auf, den er aus Paris kennt. Man weiß, woher auch immer, von seiner Ankunft. Ein Empfang ist organisiert mit allen Autoritäten der Stadt. Man ist entzückt, ihn hier zu sehen. Am nächsten Tag wird ein Orchester zusammengestellt. Berlioz darf proben, soviel er will, die Aufführung seines Faust wird ein Triumph, später auch Roméo et Juliette, die Musik, in der sein Italien geborgen ist, seine alte Liebe zu Harriet, zu Shakespeare. Im Publikum sieht er Uniformen, Epauletten, Helme, Dekolletés und Diamanten glänzen. Man jubelt ihm zu, immer wieder wird er auf die Bühne gerufen, er, der mit nichts herkam als einem Packen Noten und dem Dirigentenstab. Hinterher in der Garderobe muss er weinen. Der Geiger Heinrich Wilhelm Ernst, ein deutscher Virtuose, findet ihn. „Ah“, sagt er, „die Nerven! Das kenne ich!“ Und hält ihm den Kopf, eine Viertelstunde lang, und Hector Berlioz weint „wie ein hysterisches Mädchen“.

Die Schulden sind getilgt, auch wenn Balzac zu viel versprach: Statt 150000 bringt Berlioz 15000 Franc zurück. Aber Paris bleibt, wie es ist, widersteht ihm wie Poseidon dem Hektor und zermürbt ihn, bis er am 8. März 1869 stirbt. Nach 6 Opern, 30 groß besetzten Werken, Tausenden von Texten, einem zerfetzten und zusammengeknoteten Leben, zwischen Epochen rasend auf Kutsche und Eisenbahn, Ritter, Romantiker, Realist, der in Industriehallen 1000 Musiker koordiniert und die Antike mit Saxofonen färbt, als Schwärmer, der mit 60 vor der Frau kniet, die er mit 12 verehrte. Der wünscht, Gluck im Himmel möge von ihm sagen: „Wahrlich, das ist mein Sohn.“ Ein leidenschaftlicher Mensch. Ein Glück, dass er gelegentlich verstanden wurde, auch wenn er dafür einmal 3000 Kilometer weit durch den Winter reisen musste.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 11.12.2003

Auf dunklen Höhen

Felix Mendelssohn Bartholdy wird 200, doch so richtig kennt ihn keiner. Seinen Biografen ist der Komponist noch immer weit voraus, aber die Gesamtausgabe seiner Briefe gibt uns überraschende Einblicke

Im Garten der Leipziger Straße 3 hat Alexander von Humboldt eine Kupferhütte bauen lassen. Ein »eisenfreies magnetisches Häuschen« glänzt in der Berliner Herbstsonne des Jahres 1828. Humboldt fühlt der Welt den Puls. Der 59-jährige Gelehrte, Freund und Gast des Bankiers Abraham Mendelssohn, zeichnet Veränderungen im Magnetfeld der Erde auf, während aus dem Gartensaal des stattlichen Anwesens wundersame, unbekannte Töne dringen. »Oh Lamm Gottes unschuldig«, singt ein Chor. Der Sohn des Hauses, 19, probt ein vergessenes Stück, die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach… Im selben Garten hat der junge Mann schon zwei Jahre zuvor »eine gränzenlose Kühnheit« komponiert, seine Musik zu Shakespeares Sommernachtstraum und das ist bei Weitem nicht der einzige Beleg für seine unfassbar frühe künstlerische Reife.

Selten, vielleicht nie trafen sich Begabung und Umgebung auf so hohem Niveau wie bei Felix Mendelssohn Bartholdy. Er wuchs hinein in ein weit gespanntes und dichtes Netz von Künstlern, Intellektuellen, Wissenschaftlern. Ein geistiges Magnetfeld ohnegleichen, zwischen dessen polaren Kräften freilich auch enorme Spannung herrschte. Mendelssohn, dieser Glücksfall der jüdischen Emanzipation, der Verbindung zweier deutscher Kulturen, wurde gerade dieser Koordinaten wegen auch ein tragischer Fall. Die antisemitische Rezeption seiner Musik in Deutschland – von Richard Wagners Judentum-Pamphlet bis zur Mendelssohn-Ächtung im »Dritten Reich« – wirft immer noch Schatten auf die Diskussion über seinen Platz und seine Wirkung in der Musikgeschichte, über seinen Klassizismus, seine kulturelle Gespaltenheit, seine Modernität.

Wo gibt es das sonst, dass ein Künstler von Weltrang, schon von seinen Zeitgenossen bewundert und geliebt, 200 Jahre nach seiner Geburt halb verteidigt, halb entdeckt werden muss? Dass der Musikbetrieb den Termin nur beiläufig wahrnimmt, dass wesentliche Teile des Œuvres nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit sind, dass die präsenteren Werke überwiegend mittelmäßig gespielt werden – und hier und da befragt, ob sie nicht »zu harmlos« sind? Dass einer der bedeutendsten Briefschreiber der europäischen Kultur bis jetzt nur in thematisch begrenzten oder pietätvoll gefilterten Sammlungen zugänglich war? Nun liegt immerhin der erste Band einer Gesamtausgabe vor – mit 317 von 5000 Briefen. Der Rest soll in den nächsten sechs Jahren erscheinen…

Er kam aus dem Zentrum der jüdischen Aufklärung

Verglichen mit dem, was über andere Komponisten seines Ranges geschrieben wurde, klafft auch in der Literatur zu Mendelssohn eine gewaltige Lücke. Eine umfassende Biografie erschien erst 1963, noch mal siebzehn Jahre später wurde sie aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzt. Eric Werner stellte in seinem Buch Mendelssohn in neuer Sicht die Frage nach der Identität des Komponisten zwischen Judentum und Christentum. Ihr geht, unter anderem, auch die zweite große Biografie nach, die wiederum ein Amerikaner schrieb. Larry Todds Felix Mendelssohn Bartholdy von 2003 liegt jetzt übersetzt vor. Materialreich wie kein Autor zuvor zeichnet Todd die Situation, in die Felix hineingerät. Mit seiner Geburt am 3. Februar 1809 in Hamburg erreicht ein kulturelles Projekt seine dritte Generation, das im 18. Jahrhundert in Dessau begann.

Dessau, wo Felix’ Großvater Moses zur Welt kam, war ein Zentrum der jüdischen Aufklärung und prägte Moses Mendelssohn, der zu einem der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit und zum Vorbild für Lessings weisen Nathan wurde. Moses’ drei Söhne werden Bankiers und Industrielle. Abraham heiratet eine Frau aus einer der reichsten jüdischen Familien Berlins. Lea Salomon, hochmusikalisch, schwört auf das Wohltemperierte Klavier; ihre Großtante hat das Klavierspielen noch bei Bachs Sohn Friedemann gelernt und in ihrem Salon Mozart empfangen. Auf so einem Level bewegt man sich da.

»Für wohlhabende Juden«, schreibt Todd, »stellte das Erlangen von Bildung einen wichtigen Schritt in Richtung Assimilation dar.«

Aber der Weg zu allen Rechten preußischer Bürger führte selbst nach dem Preußischen Judenedikt von 1812 nur über den Schritt zum Christentum. Abraham und Lea ließen ihre vier Kinder taufen und konvertierten später selbst. Und sie bezahlten Privatunterricht von einer Qualität und Spannweite, als rechneten sie mit Universalgenies. Es erwies sich, dass Felix und seine ältere Schwester Fanny sprachlich und musikalisch wahnwitzig begabt waren. Bald wagte man zu hoffen, dass hier ein zweiter Mozart heranwuchs. Kein Geringerer als Goethe unterzog den zwölfjährigen Mendelssohn dem Vergleich, immerhin hatte er das Wunderkind Mozart noch selbst erlebt. Goethes Freund und Felix’ Lehrer Carl Friedrich Zelter, ein knorriger Konservativer, hat das Treffen in Weimar arrangiert und professionelle Musiker dazugebeten.

Der Knabe improvisiert am Klavier und spielt vom Blatt aus Handschriften Mozarts und Beethovens, man begutachtet seine Stücke. »Was dein Schüler jetzt schon leistet«, befindet der Dichterfürst, »mag sich zum damaligen Mozart verhalten wie die ausgebildete Sprache eines Erwachsenen zum Lallen eines Kindes.« Felix schreibt der Familie über den »Polarstern der Poesie«: »Alle Nachmittag macht Goethe das Streichersche Instrument mit den Worten auf: ich habe dich heute noch gar nicht gehört, mache mir ein wenig Lärm vor.« Felix war auf dem Olymp angekommen – und übernahm nun gleichsam die volle Beweislast für den Triumph seiner Familie über alle Diskriminierungen. Zumindest wäre das eine These, mit der ein Biograf operieren könnte.

Denn es ist offenkundig, dass dieser Künstler je später, desto bewusster unter ungeheurer Spannung stand. Als neuer Mozart musste er, so sah es sein Vater, mit Opern reüssieren – doch alle Versuche scheiterten. Als getaufter Christ musste er Oratorien schreiben, und dem späten Elias ist anzumerken, dass er seine jüdische Herkunft weder abtun konnte noch wollte. Doch er war zugleich überzeugter Christ, dessen Sakralmusik auch jenseits der Oratorien von überwältigender Qualität ist. Als Kontrapunktiker trainiert »im Namen des alten Bach« und tatsächlich auf dessen Niveau, konnte er sich als Komponist nicht so unbedingt neu erfinden wie die Autodidakten Wagner und Berlioz, deren radikale Progressivität ihm notorisch vorgehalten wird.

Hier war einer sehr früh identisch mit seiner Begabung, geschult an der Musik einer vorigen Epoche, hellwach für die eigene Gegenwart, und hat wohl auch darum sein Leben lang um Identität gekämpft. Hinter dem »tragischen« ist ein spannender Fall zu entdecken, im Leben wie in der Musik. Doch die Auseinandersetzung damit wurde lange durch Richard Wagners 1850er Pamphlet gelähmt. Zuerst übernahmen viele seine Ansicht, Mendelssohn fehle, weil er Jude sei, die »wahre Leidenschaft« und »Individualität«, er könne nur »nachsprechen«. Manche folgten Wagner darin noch lange nach 1945, bei anderen war ernsthaftes Nachdenken über Mendelssohns Traditionsbezogenheit blockiert gerade durch die Furcht, damit wieder neben Wagner zu landen.

Biograf Todd, der doch mehr ein Materialsammler ist, hilft da nicht weiter. Es sind dafür Deutsche, die zwar bis jetzt große Biografien schuldig blieben, nicht aber kluge Gedanken zum Klassizismus. Wulf Konold hat in seiner Monografie von 1984 – unübertroffen in ihrer Differenziertheit – die Mehrsprachigkeit als Synthese gesehen, als »Aufhebung des Angeeigneten in einem Neuen«. Und Peter Gülke verwies 1996 auf »Katakomben« unter der perfekten Form.

Deutlich hört man die Risse in der Reformationssinfonie, von der der Komponist ironisch sagte, er arbeite daran, »ein Frommer zu werden«. Dieses Werk des Zwanzigjährigen ist fast ein autobiografischer Diskurs – vom Anfang, an dem mit der Jupitersinfonie das Modell Mozart beschworen wird, bis zum Finale, in dem Luthers Choral Ein feste Burg kontrapunktischen Eskapaden unterworfen wird, bei denen Bach die Ohren angelegt hätte. Spannend ist sein Verhältnis zu Beethoven. Andreas Eichhorn berichtet in einer neuen kleinen, tiefenscharfen Biografie, wie der 17-Jährige den Berlinern in einem Workshop die Neunte nahebrachte – doch Mendelssohn geht als Komponist andere Wege. Rainer Riehn erklärte den Unterschied 1980 in Musik-Konzepte: Während Beethovens Musik sich »prozesshaft« entwickele, lege Mendelssohn die Töne frei wie etwas »Präexistentes«, »gewaltfrei«, darin ein Vorläufer von John Cage.

Dieser Gedanke passt zu den Plateaus im Abendsonnenschein, von denen aus in den »klassizistischen« Quartetten ein 30-Jähriger froh-wehmütige Blicke wirft, Klanglandschaften, die vom Beethovenschen »Arbeiten« souverän entfernt sind. Vielleicht ist das auch eine Haltung in politisch und technisch beschleunigter Zeit, mit deren Tempo Mendelssohn es im Leben aufnimmt wie von seinen großen Zeitgenossen nur Hector Berlioz – beides Meilenfresser auf den Eisenbahnlinien, die Europa zusammenwachsen lassen. Mendelssohns Tourneekalender als Pianist, Organist, Dirigent ist noch heute atemberaubend. Dazu kommt die Leitung des Gewandhausorchesters, was den Musiker nicht hindert, auch ständig in England aufzutreten, wo man ihn liebt.

»London ist das grandioseste Ungeheuer der Welt!«

In London hat er den Puls des Frühkapitalismus gefühlt, gleich nach der Wiederaufführung der Matthäuspassion in Berlin. Acht Seiten umfasst in der exzellent kommentierten Gesamtausgabe sein Brief vom 25. April 1829: »Es ist entsetzlich! Es ist toll! Ich bin confus und verdreht! London ist das grandioseste und complicierteste Ungeheuer, das die Welt trägt. [] Seht die Läden mit den Manns hohen Inschriften, und die stage coaches, auf denen die Menschen sich aufthürmen, und wie hier eine Reihe Wagen von den Fußgängern hinter sich gelassen wird, weil es sich dort vor eleganten Equipagen gestopft hat, [] und wie die Menschen gebraucht werden, um Ankündigungszettel herumzutragen, auf denen man uns die graziösen Kunststücke gebildeter Katzen verheißt, und die Bettler, und die Mohren, und die dicken John Bulls mit ihren dünnen, schönen zwei Töchtern an den Armen.« Hätte Heine das besser gesagt?

Diesen Hellwachen sollte man wohl auch mitdenken in einer Musik, die das Disparate und Desperate ungern ausstellt – »Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider«, heißt es im Elias. Da ist Berlioz ganz anders, ein Antipode, mit dem sich Mendelssohn auseinandersetzt. 1831 verurteilt er die Symphonie fantastique noch als »Grunzen, Schreien, Kreischen«, zwölf Jahre später dirigiert er als Gewandhauskapellmeister dasselbe Werk zum Entzücken des Komponisten und zum Entsetzen des Leipziger Publikums, und die beiden tauschen ihre Dirigierstäbe: Mendelssohns »nettes, leichtes, mit Leder überzogenes Fischbeinstöckchen« gegen Berlioz’ »unbehauenen, mit der Rinde versehenen, ungeheuren Lindenknüppel«, wie Felix’ Schwester Fanny indigniert überliefert.

In solchen Spannungsfeldern könnte man Mendelssohns Ästhetik beleuchten, doch Todd liefert Konzertführerprosa. »Die Rückleitung zur Reprise ist besonders beeindruckend«, lesen wir zur Italienischen Sinfonie. »Gegen einen hohen Ton in der ersten Oboe gewinnen die Fanfaren allmählich an Kraft und gehen fließend in die transparenten Holzbläsertremoli über.« Das sagt nichts – während man sagen müsste, dass der hier so beiläufig erwähnte fließende Übergang ein Kunstmittel ist, von dessen Perfektionierung bei Mendelssohn seine Kollegen von Wagner bis Berg profitiert haben.

Aber auch dem Autor einer neuen Monografie fällt zu den Sinfonien kaum mehr ein, als dass sie »einem Mittelgebirge« zwischen Beethoven und Brahms zuzurechnen seien. Das erstaunt bei einem so eigenständigen Musikwissenschaftler wie Martin Geck. Doch auch an anderen Stellen seiner Einführung folgt er leidigen Klischees und überlegt, ob es Mendelssohn, dem »erfolgverwöhnten Künstler«, nicht »schlicht an der Leidensfähigkeit« etwa eines Richard Wagner gefehlt habe. Tatsächlich konnte man schon 1875 lesen, Mendelssohn wandele »auf lichten Höhen sorglos dahin«, weswegen es ihm an Tiefe fehle. Eines der zähesten Klischees überhaupt, und eines der groteskesten. Auch wenn man davon ausgeht, dass große Kunst ohne die Erfahrung gravierender Konflikte nicht zustande kommt – wer bestimmt, dass Beethovens Taubheit, Wagners Schulden, Mozarts Vaterkomplex kunsterheblicher sind als Mendelssohns Identitätssuche?

Und noch etwas belastet diesen Übersensiblen. Er hat seinen Weg auf Kosten einer Frau gemacht, die er vielleicht tiefer liebte als die Frau, mit der er fünf Kinder hatte: Fanny, seine Schwester, drei Jahre vor ihm geboren. Selten waren sich zwei Geschwister so nah, auch in der Begabung. Mit zwölf Jahren spielte Fanny alle 24 Präludien aus Bachs Wohltemperiertem Klavier auswendig, als Komponistin hatte sie kein geringeres Potenzial als ihr Bruder. Der fand wie sein Vater, die Musik dürfe für eine Frau »stets nur Zierde« sein, veröffentlichte aber Lieder von ihr unter seinem Namen und vertraute ihrem Urteil vollkommen. Beide blieben einander auch insofern treu, als sie relativ blasse Typen heirateten. Fannys Mann Wilhelm Hensel zeichnete sich einmal selbst als Bremsklotz an einem Familienrad, in dessen Mitte Felix saß…

Larry Todd hat gründlich diese Beziehung dokumentiert, und doch verkennt er ein Schlüsselwerk. In rasender Trauer um »Fenchel« schrieb Felix, kurz bevor er ihr im selben Jahr 1847 nachstarb, sein f-Moll-Streichquartett. Es zeigt einen so anderen, existenziellen, rücksichtslosen Komponisten, als hätte uns Mendelssohn bis dahin etwas verschwiegen. Und aus schwärzestem f-Moll gerät er im ersten Satz an eine Stelle, die seltsam vertraut klingt. Ein Fragment aus dem D-Dur-Präludium des Wohltemperierten Klaviers I wird da zitiert – aus den Klavierkindertagen der Geschwister. Todd, der sonst gern Zitate präsentiert, ist das nicht aufgefallen. Pflichtschuldig vermerkt er, dass Mendelssohn hier seine Klassizität hinterfrage, nennt den Tritonus als Grundmotiv, und das war’s.

Peter Gülke hat angesichts dieses abgründigen Quartetts gefragt, »ob in dieser Künstlerexistenz nicht ungeheuer viel uneingelöst geblieben ist«. Man könnte sich auch fragen, ob nicht umgekehrt in der Beschäftigung mit Mendelssohn ungeheuer wenig eingelöst wurde. Denn von Anfang an äußert er sich in seinem Komponieren konkreter und existenzieller, als er meist gespielt wird. Was Musik »ausspricht«, sagt er, »sind mir nicht zu unbestimmte Gedanken, um sie in Worte zu fassen, sondern zu bestimmte«. Dass das für ihn allerdings auch eine Sprache der Zuversicht ist, macht ihn unter den Großen seines Jahrhunderts fast zur isolierten Gestalt. Robert Schumann fragte ihn einmal, ob er je daran gedacht habe, nicht Musiker zu werden. »Ein einziges Mal, antwortete er, an einem trüben regnerischen Tage – er habe da ›Jurist‹ werden wollen.«

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 02.02.2009

Die Hymne aller Hymnen

Sie ist das Lied der Französischen Revolution, sie ist das Freiheitslied der ganzen Welt: Die Marseillaise. Ihren Dichter und Komponisten indes umgeben bis heute viele Rätsel und wunderliche Legenden

Mit einer Pistole in der Faust streunt der Komponist durch Paris. Die Stadt kocht. Nicht wegen der Sommerhitze. Tagelang wurde scharf geschossen, zweitausend Menschen sind umgekommen. Seit dem 29. Juli 1830 ist Paris in den Händen der Aufständischen, der König flieht. Man singt, man sammelt für die Verwundeten, auch Hector Berlioz schließt sich einem Spontanchor an. Bald umdrängt eine begeisterte Menge die Sänger, sie ziehen in den ersten Stock eines Kurzwarengeschäfts nahe dem Louvre und stimmen aus dem Fenster ein Lied an, das von Frankreichs Herrschern seit Napoleon geächtet worden ist. »Schon bei den ersten Takten erstarrt das lärmende Gewimmel zu unseren Füßen und verstummt«, erinnert sich Berlioz. An die fünftausend Leute lauschen ergriffen der Marseillaise. In der vierten Strophe schreit Berlioz: »Verdammt noch mal, singt doch mit!« Was dann folgt, gleicht einer Explosion.

Das Lied der Revolution hat noch dieselbe Sprengkraft wie 38 Jahre zuvor, als es entstand. Es wird sie auch noch während des Aufstands in Ungarn 1956 entfalten, und 1989 werden es die chinesischen Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens singen, während die Panzer auf sie zurollen. Die Marseillaise ist mehr als die Hymne einer Nation, sie ist die Hymne der Freiheit schlechthin. Es gibt Hunderte Arrangements, und nicht nur in Casablanca machte sie Filmgeschichte. Die Großen, die sie zitieren, zählen nach Dutzenden, von Schumann über Debussy bis zu Stockhausen und den Beatles. Dass diese Melodie oft da hervorbricht, wo eine Gesellschaft in dramatischem Umbruch ist, hat historische wie musikalische Gründe. Als populärste und folgenreichste Tonfolge der Welt hätte sie ihren Komponisten, wäre er schon in den Schutz von Urheberrechten gekommen, steinreich machen können.

Stattdessen ist er völlig mittellos. Während Berlioz erlebt, dass mehrere Tausend Pariser »präzise und kraftvoll wie ein geübter Chor« den verlangten Refrain donnern, »Zu den Waffen, Bürger!«, und mit Gesang besiegeln, was dann als Julirevolution Geschichte macht, lebt der Schöpfer der Hymne verbittert und verarmt in einem Ort südlich von Paris, in Choisy-le-Roi. Ein Mann von 70 Jahren, der jeden Nachmittag um vier seine Runde durchs Dorf macht, in einen langen Gehrock geknöpft, das Gesicht von der breiten Krempe des Zylinders beschattet. In seiner besten Zeit trug er das Dunkelblau eines Hauptmanns im Corps Royal du Génie – der Abteilung der Ingenieure. Aber diese beste Zeit liegt lange zurück, so lange wie jene Woche, in der ihn die Muse überfiel. In der Nacht zum 26. April 1792 hat Claude-Joseph Rouget de Lisle, 32 Jahre alt, die 28 Takte und sechs Strophen vollendet.

Die Nacht von Straßburg – ein One-Night-Stand mit dem Weltgeist?

Dieser Rouget ist eine der merkwürdigsten Gestalten der Musikgeschichte. Weder vorher noch nachher gelang ihm Vergleichbares, und vielleicht liegt auch in dem Mittelmaß, aus dem es wuchs, ein Geheimnis dieses Lieds. In Straßburg ist die Marseillaise entstanden. »Hier beginnt das Land der Freiheit«, steht auf der Trikolore, die im April 1792 über der Rheinbrücke weht. Die Revolution ist nicht mehr auf Frankreich begrenzt, seit Preußen und Österreich zugesagt haben, Ludwig XVI. zu unterstützen. Der ist noch immer König von Frankreich und sieht sich, trotz aller Zugeständnisse, die er schon machen musste, nach wie vor als Souverän. Am 20. April 1792 beschließt die Nationalversammlung, Österreich den Krieg zu erklären, in Straßburg sammeln sich die Truppen der Rheinarmee, Freiwillige treffen ein, der Bürgermeister hat Plakate kleben lassen: »Aux armes, citoyens!«

Bürgermeister Philippe-Frédéric de Dietrich zählt zu den demokratischen »Verfassungsfreunden« ebenso wie der Offizier Rouget de Lisle, dessen Bataillon den Namen »Enfants de la Patrie« trägt. Straßburg brodelt zwischen Angst und Aufbruch, und Dietrich lädt zu einem kleinen Fest, um den Abmarsch der Truppen gen Osten zu feiern. Während des Abends bekommt Rouget den Auftrag, ein zündendes Lied zu schreiben. Immerhin spielt er Geige und hat mit seinem Freund Ignaz Pleyel, zeitweise Kapellmeister an Straßburgs Münster, schon eine »Freiheitshymne« verfasst, wobei Pleyel die Verse Rougets vertonte.

Doch jetzt wird schärfere Kost verlangt, und Rouget, der nette, schüchterne Mann aus der Gegend bei Lyon, soll sie liefern. Pleyel kann ihm nicht helfen: Der Komponist ist im Dezember 1791 nach London abgereist, wo er in einer Konzertreihe mit eigenen Werken seinem Lehrer Joseph Haydn Konkurrenz macht. Was sich ereignet, als der Leutnant nach dem Abend bei Dietrich in sein Zimmer in der Grande Rue 126 zurückgekehrt ist, hat Stefan Zweig 1937 zum One-Night-Stand mit dem Weltgeist verklärt. »Immer fügsamer gehorcht die Melodie dem hämmernden, dem jubelnden Takt, der Herzschlag eines ganzen Volkes ist. Wie unter fremdem Diktat schreibt hastig und immer hastiger Rouget die Worte, die Noten hin – ein Sturm ist über ihn gekommen […]. Eine Exaltation, eine Begeisterung […] reißt den armen Dilettanten hunderttausendfach über sein eigenes Maß hinaus und schleudert ihn – eine Sekunde lang Licht und strahlende Flamme – bis zu den Sternen.«

In Wahrheit hatte Rouget mehr als eine Nacht. Schon fünf Tage zuvor bat ihn ein befreundeter General brieflich um ein Stück zum Ausmarsch der Freiwilligen, und Rouget sagte geschmeichelt zu. Am Tag nach der Soiree erscheint er mit dem Manuskript bei Dietrich. Dessen Frau schreibt: »Mein Mann, der eine gute Tenorstimme hat, hat das Stück gleich gesungen, das sehr anziehend ist und eine gewisse Eigenart zeigt …« Als Chant de Guerre pour L’Armée du Rhin wird es gedruckt, ohne Autorenangabe, aber mit einer Widmung an den Befehlshaber der Rheinarmee, den deutschen General in französischen Diensten Nikolaus Graf Luckner.

Den Franzosen hilft es nicht. Nachdem die ungeübten Freiwilligen mehrere Niederlagen erlitten haben, wächst die Angst vor der Gegenrevolution. Am 10. August 1792 stürmt eine Volksmenge in Paris die Tuilerien, den Sitz des Königs, was nur mit Unterstützung aus dem Süden des Landes gelingt, mit 600 Freiwilligen aus Marseille. Vier Wochen lang sind sie marschiert und haben, die Provinzen durchquerend, ein Kampflied gesungen, das über eine Zeitschrift ans Mittelmeer gelangt war. Als Chanson des Marseillois, als Lied der Marseiller, wird es jetzt in Paris zu der Melodie, unter der die mehr als 900 Jahre alte Königsherrschaft endet. Die Töne verschmelzen mit der Demokratie, mit dem Beginn der Republik, die im Herbst 1792 ausgerufen wird, da sind die Truppen der deutschen Fürsten endlich zurückgeschlagen. Bizarrerweise führt diese zweite Revolution wenig später zu Rougets Entlassung aus der Armee, denn er verweigert es, sich auf den neuen Staat verpflichten zu lassen. So republikanisch hat er sein Lied nun auch wieder nicht gemeint.

Später lenkt er ein, er wird noch oft einlenken, je nachdem, woher der Wind gerade weht, damit ist er nicht allein. Das Tempo der Ereignisse überfordert viele, und mancher, dem es vorher nicht so schlecht ging, sehnt sich zurück nach der Ruhe vor dem Sturm.

Diese Ruhe spürt man noch heute da, wo Claude-Joseph 1760 zur Welt kam und aufwuchs, in dem Provinzstädtchen Lons-le-Saunier, Departement Jura, nahe der Schweiz. Eingebettet in sanft schwingende Berge, 19000 Einwohner, in der Mitte, natürlich, die Place de la Liberté, daneben Arkaden aus dem 18. Jahrhundert. Zwischen einem Telefonladen und einer Versicherungsfiliale findet man den Eingang zur Nummer 24, durch den Hof dringt Akkordeongestocher aus einer kleinen Musikschule. Im ersten Stock knirschen die Dielen der Wohnung, in welcher der königliche Advokat Claude-Ignaz Rouget und seine Frau Jeanne Madelaine lebten. Claude-Joseph war ihr erstes Kind, es wuchs behütet auf.

Schon am Freitagnachmittag senkt sich Sonntagsstille über die Stadt, und man begreift, was Provinz bedeutet, jetzt wie damals, man sieht Hunderte solcher Städtchen unter der Sonne der Monarchie dösen, jedes für sich. Eine Melodie, in der sich alle französischen Provinzen erkennen und vereinen konnten, musste vielleicht von einem Menschen aus so einem Städtchen geschrieben werden. Die Marseillaise ist ja keine abstrakte Komposition, sie klingt wie ein Volkslied. Und Volkslieder könnte Rouget einige gehört und gesungen haben. Die drei Bände, in denen die Chansons populaires comtoises abgedruckt sind, Lieder aus ebendieser Gegend, umfassen immerhin 530 Stücke, schlicht und anrührend.

Freilich sind viele Parallelen, die sich zur Marseillaise entdecken lassen, keine regionale Spezialität: eine Quarte als Auftaktintervall, ein Ambitus von einer Oktave, die punktierten Rhythmen des Marschs. Und Rougets Linie geht in ihren 28 Takten auch harmonisch über die kleinen Bögen der Chansons deutlich hinaus. Was sie mit vielen Liedern dieser Gegend teilt, ist eine gewisse melancholische Note.

Melancholisch wie das Dörfchen Montaigu, das nahe von Lons auf einer Anhöhe liegt, hier gehörte den Eltern ein Haus. Mit kleinscheibigen Fenstern umschließt es einen Hof zur Straße, am Gittertor wächst Flieder. Hierhin zieht sich Rouget später zurück, verfolgt von der Polizei Napoleons, der die Marseillaise überhaupt nicht schätzt.

Aber Napoleon ist noch ein Kind von sieben Jahren, als Rouget, versehen mit dem karriereförderlichen Adelsschwänzchen »de Lisle«, seine verträumte Heimat verlässt und, 16 Jahre alt, die Militärschule in Paris bezieht. Die Karriere zum Hauptmann entwickelt sich bruchlos. Der junge Mann liebt die Musik, er schreibt Verse und Stücke, hier und da auch eine Melodie. Dass seine Gedichte und Lieder den Talentproben ähneln, wie bis heute Abertausende von Pappkartons und Websites füllen, muss uns nicht enttäuschen. Rouget ist der vielleicht einzige Fall eines Jedermann, dessen Hinterlassenschaften erforscht wurden wie die eines Genies.

Schon sein erster Biograf Julien Tiersot verschweigt 1892 nicht, dass es Rougets frühen Versuchen »an jeglicher Originalität mangelt«; einigen Romanzenmelodien gesteht er zu, sie erreichten »das mittlere Niveau des Genres«. Und er setzt sich auseinander mit einer Frage, die zuerst der belgische Komponist und Musikbiograf François-Joseph Fétis aufwarf: Hat Rouget wirklich die Marseillaise komponiert? 1863 erklärt Fétis, Schöpfer der Melodie sei ein gewisser Geiger Navoigille. Als seine Quelle dem juristischen Einschreiten eines Verwandten von Rouget nicht standhält, zaubert der Belgier einen obskuren Nordfranzosen aus dem Hut. Ein Domkapellmeister aus St. Omer soll in einem Oratorium jene Melodie notiert haben, die Rouget dann übernahm. Doch diese Theorie beruht auf einer Fälschung – und ist nicht der letzte Versuch geblieben, dem berühmten Kind einen anderen Vater zu verschaffen. Warum nicht gar Mozart? Ähnelt nicht das Marschthema seines Klavierkonzerts KV 503 der Marseillaise? Ja, in den ersten sieben Tönen, aber Rougets Thema ist besser. Kann vorkommen.

»Wenn er den Text geschrieben hat und Geige spielte, konnte er auch die Noten dazu schreiben«, meint Klaus Huber, einer der bedeutendsten Komponisten und Kompositionslehrer unserer Zeit. »Es gibt ja Potenziale, die in gewissen Zusammenhängen aufbrechen, und das Thema ist sehr volksnah.« Könnte also jeder von uns die Marseillaise geschrieben haben? Pierre Boulez, lebender Nationalheiliger der französischen Avantgarde, schlägt scherzhaft vor: »Fragen Sie doch Berlioz!« Der habe die Melodie schließlich arrangiert. Tatsächlich stand für Berlioz Rougets Autorschaft außer Zweifel.

Aber die Nachwelt kann die Normalität als Quelle des Außergewöhnlichen offensichtlich kaum ertragen. Selbst die These, Rougets Straßburger Freund Pleyel stecke dahinter, hält sich hartnäckig. Pleyels Biograf Adolf Ehrentraut, der besser als jeder andere weiß, wann sein Komponist sich in London aufhielt, lässt noch ein Türchen offen: »Irgendwelche Notizen Pleyels zu einer Melodie könnte Rouget ja besessen haben.«

Was man besitzt, sind Rougets eigene Notizen. Eine Kiste mit Manuskripten wird in seiner Heimatstadt wie ein Kronschatz gehütet. Die 320 Melodien darin sind die Grundlage der 1996 erschienenen tausendseitigen Dissertation von Christian Mas, in der noch die letzte Achtelnote herhalten muss für den Versuch, Rouget zu einem großen Komponisten zu stilisieren. Immerhin, die besten Stücke klingen wie Volkslieder, und eine frühe Hymne auf den Sonnenuntergang wagt sich von B-Dur bis nach Ges-Dur. Andererseits scheitert Rouget mitunter schon an der Rhythmisierung des Textes, die ja zu den Stärken der Marseillaise gehört, und Versuche, in der Harmonik über die Dominante hinauszukommen, grenzen an Verzweiflungstaten. Von 50 eigenen Liedern, die Rouget anno 1825 drucken ließ, sind 23 mit Reminiszenzen an die berühmte Hymne versehen.

Die Marseillaise muss ihren Schöpfer wie ein Nesselhemd gequält, aber auch wie eine Rüstung geschützt haben in dieser dramatischen Epoche der Geschichte. Angesichts seiner Eidverweigerung ist es erstaunlich, dass er nicht zu den Klängen seines eigenen Liedes enthauptet wurde wie an die 40000 Menschen, die in den Tagen der Terreur bis zum Sturz Robespierres im Sommer 1794 auf der Guillotine starben – Marschall Luckner darunter und Bürgermeister Dietrich. Nicht selten stimmten die Verurteilten auf dem Henkerskarren selbst die Hymne an.

Unterdessen kannten auch die Preußen das Lied, zu dessen Tönen sie geschlagen worden waren. »Die Wirkung dieser Hymne zu beschreiben«, erinnert sich ein Offizier, »wie sie von Tausenden von Stimmen gesungen und in so fürchterlicher Art begleitet wurde, ist menschenunmöglich.« Goethe nannte sie »ergreifend und furchtbar«.

Rouget wird verhaftet, des Verrats verdächtig, und versucht sich mit einer Hymne auf die Vernunft bei Robespierre beliebt zu machen. Nach dessen Ende freigelassen, liefert er eine Hymne über die Verschwörung Robespierres, dann hält er es mit den Großbürgern und scheint politisch eher in der Mitte des Liederkrieges zu stehen, der sich 1794 um die Marseillaise entwickelt: Die erstarkten Revolutionsfeinde singen Peuple français, in den Theatern entsteht Gerangel, weil jede Fraktion das Absingen ihres Liedes erzwingen will. Von 1796 an sind für eine Weile alle Pariser Bühnen verpflichtet, »jeweils die Hymne der Marseiller oder das eine oder andere republikanische Lied« hören zu lassen. Das wird von der »Armee des Innern« durchgesetzt, deren Befehlshaber Bonaparte heißt.

»Es lebe der König!« 1815 dient sich Rouget den Bourbonen an

Mit dem wird es Rouget noch zu tun bekommen, an ihm wird er katastrophal scheitern, aber nicht weil unter der Alleinherrschaft des Korsen mit der Demokratie auch die Marseillaise verschwindet. Der Hymnenlieferant hat die eigentümliche Gabe, sich immer dann selbst ins Aus zu manövrieren, wenn die Zeichen für ihn günstig stehen. Kaum hat er sich die Gunst des gefeierten Generals Hoche erworben, greift er in giftigen Briefen (»Ich bin Ihr Feind!«) einen der mächtigsten Politiker der Zeit an, jenen erzrepublikanischen General Lazare Carnot, dem er nicht verzeihen kann, dass er ihn 1792 aus der Armee verstieß. Und kaum hat er durch die Vermittlung seines jüngeren Bruders, der als General in Holland stationiert ist, dort einen Posten als Botschafter bekommen, erteilt er dem Ersten Konsul Napoleon mit solchem Furor Ratschläge (»Ich habe mit Ihnen auch über Frankreich zu reden«), dass damit seine diplomatische Karriere schon beendet ist. Verbittert schickt Rouget 1804 dem Herrscher eine Generalabrechnung, er wirft ihm den Verrat aller revolutionären Ideale vor: »Bonaparte, Sie richten Frankreich zugrunde!«

Der sozialdemokratische Politiker und Schriftsteller Hermann Wendel, der 1936 im französischen Exil ein Buch über die Marseillaise veröffentlichte, hat wohl recht, wenn er trotz dieses Freimuts meint, Rouget sei »kein Brutus, sondern nur ein verhinderter Barde des Gewalthabers« gewesen. Ein Mitläufer, der in Extremsituationen Grenzen überschritt – wovon vielleicht auch die Komposition der Marseillaise profitiert hat. Diesmal aber hatte er sich in den Ruin katapultiert; die Spuren kann man in Lons unter Glas besichtigen. Da liegt im kleinen Museum ein Brief von 1806. »Eine sehr mäßige Summe« erbittet der 46-Jährige von einem Freund. Er hätte viel mehr gebraucht, er hatte keine Chance in Paris. Sechs Jahre später zieht er sich nach Montaigu ins Elternhaus zurück, und als Napoleon abgedankt hat, dient sich Rouget mit einer Hymne König Ludwig XVIII. an, der aus dem Exil zurückkehrt: »Vive le roi! Noble cri de la vieille France – Es lebe der König! Edler Ruf des alten Frankreich«.

Aber auch die Bourbonen wollen nichts von ihm wissen. 1817 wird das Elternhaus versteigert, Rouget schlägt sich erneut in Paris durch, 1826 wird er wegen nicht bezahlter Schulden inhaftiert. Zwei Jahre später bringt ein Freund den alten Barden bei sich unter, in Choisy-le-Roi südlich von Paris, wo er in seinem aus der Mode gekommenen Rock umhergeht wie ein älterer Bruder des Balzacschen Vetter Pons. Es ist seltsam, dass Honoré de Balzac, der geniale Chronist der Epoche, für diesen Mann keinen Platz in seiner Comédie humaine gefunden hat. Doch der ganze Roman seines Lebens steckt in den Zeilen, die der 70-jährige Rouget an Berlioz schreibt, als nach der Julirevolution 1830 die Marseillaise wieder überall gesungen wird. »Ihr Kopf scheint ein unablässig tätiger Vulkan zu sein, in meinem war nie etwas anderes als ein Strohfeuer, das erlischt und noch ein wenig raucht. Aber aus beidem zusammen, der reichen Glut Ihres Vulkans und den Resten meines Strohfeuers, könnte noch etwas entstehen. Ich hätte Ihnen diesbezüglich einen oder vielleicht zwei Vorschläge zu machen…«

Hector Berlioz zitiert den Brief später in seinen Memoiren, aber er denkt nicht daran, sich mit dem Alten zu treffen. 1836 stirbt Rouget in dem Ort, der heute ein Teil des Häusermeeres unter den in Orly landenden und startenden Flugzeugen ist.

Wo immer sie herkommen und hinfliegen, überall kennt man diese Melodie, überall hat man sie gesungen, alle Zeiten hat sie überstanden, unzerstörbar selbst da, wo sie bis auf den Rhythmus skelettiert wurde. Heinrich Heine begegnete einst als kleiner Junge in Düsseldorf einem französischen Soldaten, der nur gebrochen Deutsch sprach. Das deutsche Wort für Liberté kannte er nicht. »So trommelte er den Marsch der Marseiller – und ich verstand ihn.«

Der Text erschien am 9. Juli 2009 in der ZEIT, deren Ressort “Geschichte” da noch “Zeitläufte” hieß, und ist urheberrechtlich geschützt.