Kategorie-Archiv: Musikwissenschaft

236 Takte gelöscht

Jonathan Del Mars spektakuläre Neuausgabe aller neun Sinfonien Beethovens

Passenderweise war es Mitternacht, als dem Musikwissenschaftler Jonathan Del Mar in seinem Londoner Arbeitszimmer einfiel, wie er 236 Takte in der wohl berühmtesten Sinfonie der Welt für ungültig erklären konnte. Und zwar öffentlich, unter dem Beifall der Kenner und auf Wunsch eines einzelnen Herrn, des Komponisten Ludwig van Beethoven.

Es handelt sich um den Streit, ob der dritte Satz der Fünften, bevor er seinen Schlussteil erreicht, komplett wiederholt wird. Zuerst hatte Beethoven es so geplant. Im Autograf von 1808 ist die Wiederholung nachzulesen. Doch gedruckt wurde eine Partitur mit der kurzen Version. Darüber zerfielen die Beethovenianer in zwei Lager. Rätselhafte Briefpassagen spielen eine Rolle, auch Noten, die 1943 in Leipzig verbrannten und nur teilweise fotografiert waren. Der Fall hätte einen Sherlock Holmes herausgefordert. Nur mit einem Netz von Indizien konnte Del Mar beweisen, dass Beethoven die Wiederholung aus der Vorlage für die Notenstecher schneiden ließ.

Die Kürzung in der Fünften Sinfonie ist nur eine von Hunderten Stellen, bei denen man nie wusste, was Beethoven wirklich wollte. Ausgerechnet seine Sinfonien, ein Zentralheiligtum abendländischer Musik, stehen auf dem schwankenden Grund einer fehlerhaften Gesamtausgabe von 1864, die bis heute das Musikleben prägt.

War Beethoven ein schlampiges Genie? Auf den ersten Blick sieht es so aus – die Handschriften mit ihren Tintenklecksen, krakeligen Korrekturen, hingekratzten Notenhälsen passen allzu gut zum Bild vom Künstler mit der notorisch ungepflegten Mähne. Doch in Wirklichkeit wütet da ein pingeliger Systematiker, dem für sein work in progress immer neue Ideen kamen. Nur seine Kopisten, Notenstecher und Verleger nahmen es damit nicht so genau. Fast alle Fehler in den Ausgaben der neun Sinfonien gehen auf sie zurück – Hunderte von Schreibfehlern, falsche, fehlende, überzählige Töne, verrutschte Harmonien, Lautstärkeangaben, Bindebögen oder eben 236 Takte, von denen keiner weiß, ob er sie spielen darf.

Inzwischen weiß man es. Nicht nur die Fünfte, alle neune erleben eine zweite Morgenröte mit der ersten kompletten kritisch-praktischen Ausgabe aller Sinfonien, die Beethoven zwischen seinem 28. und 53. Lebensjahr schrieb. Es sei “die erfolgreichste Ausgabe, die wir je hatten”, sagt Douglas Woodfull-Harris vom Kasseler Bärenreiter-Verlag. Selbst die teuren Komplettpakete mit allen Partituren, Kritischen Berichten und Orchesterstimmen wurden knapp. Die Eroica wurde bereits dreimal nachgedruckt, die Neunte sogar fünfmal. Sie fand bislang 2000 Käufer, was für das sonst ruhige Gewerbe der Notendrucker ein ganz erstaunlicher Verkaufserfolg ist.

Historisch orientierte Dirigenten wie Frans Brüggen und Roger Norrington arbeiten sowieso mit der neuen Jonathan-Del-Mar-Ausgabe, nun aber auch Simon Rattle und Claudio Abbado, der in seinem neuen Beethoven-Zyklus kaum wiederzuerkennen ist, von originalen Metronomangaben in Fahrt gebracht, oder der Amerikaner David Zinman, Chef des Züricher Tonhalle-Orchesters, der für seine CD mit den neun Beethoven-Sinfonien vor zwei Jahren den Deutschen Schallplattenpreis erhielt.

Dass Beethovens Tempi rasanter sind, als die meisten großen Orchester sie spielten, weiß man zwar schon lange, und Jonathan Del Mar, 1951 als Dirigentensohn geboren, war natürlich nicht der Erste, der die Quellen erkundete. Aber als Erster konnte er alle Sinfonien aus einer Hand auf den Tisch legen – und das innerhalb von fünf Jahren seit 1996. Er scheint einen Nerv getroffen zu haben, den zuvor Spezialistenensembles freilegten. Es ist, als besinne man sich nun auf breiter Linie, dass die Absicht eines Komponisten auch im Detail mehr wiegt als die Spielgewohnheiten.

Die Verheißung eines “Urtexts” weckt allerdings auch kritische Stimmen. Denn zum Authentischen zählt auch “ein Kometenschweif verloren gegangener Selbstverständlichkeiten”. So formuliert es der Dirigent und Forscher Peter Gülke, der seinem britischen Kollegen vorwirft, er verheiße die Lösung aller Probleme und treffe fragwürdige Entscheidungen. Del Mar sieht das anders.

“Das sind Stimmen von der andern Seite des Zauns”, sagt er. “Wenn die Quellen zu 80 Prozent für eine Note sprechen und zu 20 dagegen, beschweren die sich, weil ich den 80 Prozent traue.” Wobei er solche Ambivalenzen in seinen Kritischen Berichten lückenlos transparent macht, dafür aber den Notentext selbst weitgehend davon frei hält – damit er für die Praxis taugt.

In der Praxis begann nämlich sein Projekt. Als Freunde von der britischen Hanover Band in den achtziger Jahren Beethoven auf historischen Instrumenten spielten, verglich Del Mar, selbst ein Beethoven-Dirigent, das Ergebnis mit dem Autograf und entdeckte Abweichungen. Die Musiker baten um weitere Recherchen. Also begab er sich in das Labyrinth der Autografe und Stichvorlagen, der Orchesterstimmen und der Briefe, der Sekundärliteratur, der Funde anderer Forscher. “Dabei habe ich mir erst das Handwerkszeug erworben”, bekennt er. Bei der Neunten erwischte es ihn richtig. An die hatte sich noch keiner gewagt. Mit ihr wurde er zum Herausgeber.

Ungeahnte Synkopenbögen über dem Götterfunken

Ein steiler Einstieg, denn rund um die Ode an die Freude waltet mehr Wirrsal als in allen acht anderen Sinfonien zusammen. Beethoven kam mit dem Korrigieren der Kopistenfehler nicht mehr hinterher. Das Autograf allein hilft nicht weiter. Maßgeblich ist ja nicht nur, was Beethoven zuerst aufschrieb, sondern auch, was er zuletzt wollte.

So lässt sich die Wahrheit nur über 20 Quellen einkreisen, die in Europa verteilt sind. Del Mars Liste mit Kommentaren zu jedem Detail umfasst 76 Seiten. Da findet sich auch jener Takt 81 im ersten Satz, der Maestro Claudio Abbado so verstörte, dass er es in der Neuaufnahme lieber beim Alten beließ.

In Berlin spielen Oboe und Flöte weiterhin eine Quarte aufwärts statt der keckeren großen Sexte, die man beim belgischen Dirigenten Joos van Immerseel hören kann. Eine Kleinigkeit, vielleicht – so klein wie ein Wort bei Hölderlin.

Noch so ein Fund ist die Sache mit den Hörnern im berühmten Finale. Bislang trieben sie ab Takt 532 in klar markierten Rhythmen auf den Götterfunken zu.

Jetzt geraten sie ins Eiern: Beethoven verschleiert mit Synkopenbögen den Rhythmus. Nur eine Nuance, aber doch wie etwas Fernes, Unerwartetes im Blick eines alten Bekannten. Wie das jähe Piano, mit dem in der Zweiten Sinfonie einem Thema der Boden entzogen wird. Wo hört man das am besten? Besonders zwei Dirigenten haben den Forscher bislang begeistert: Charles Mackerras und der 38-jährige Thomas Dausgaard mit dem Swedish Chamber Orchestra. “Als ich das gehört habe, musste ich fast weinen. Beethoven war selbst auf dem Podium.” Dagegen hat er dem Dirigenten David Zinman eine grimmige Karte nach Zürich geschrieben. Dessen viel gepriesene Aufnahme wirbt mit dem Hinweis, Del Mars Ausgabe zu realisieren. Aber staunend vernimmt man üppige, nie gehörte Verzierungen. “Eine Fälschung”, sagt der Herausgeber. Die Ornamente seien frei erfunden, “obwohl zusätzliche Verzierungen bei Beethoven völlig falsch sind. Der hat sich jede Note genau überlegt”.

Und genau gelesen. Bestürzt wies Beethoven am 21. August 1810 seinen Verleger auf zwei überzählige Takte im Erstdruck der Fünften hin, “wo nach dem Dur wieder das Moll eintritt”. Die Takte waren versehentlich stehen geblieben, als man im Verlag die ominöse Wiederholung aus der Stichvorlage trennte! Als Jonathan Del Mar das auch noch mit dem Indiz im Orchestermaterial der Uraufführung verknüpfen konnte, war es Mitternacht, der Fall gelöst, 236 Takte gelöscht.

“Ich habe Beethoven jetzt im Kopf”, meint er und pfeift noch einen korrigierten Takt aus der Siebten ins Telefon: “Pizzicato statt arco!”

Gezupft statt gestrichen – das ist hier eben nicht gehupft wie gesprungen.

* Ludwig van Beethoven: Die neun Symphonien

Hrsg. Jonathan Del Mar

Bärenreiter-Verlag, Kassel 1996-2000

als Studienpartituren: 148,- DM

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 26.04.2001

Ist es Mozart oder nicht?

Kunsthistoriker streiten um ein Gemälde, dessen Entdeckung weltweit für Aufsehen sorgte. Die Berliner behaupten, es zeige Mozart, die Münchner behaupten, es zeige nur einen unbekannten Hofrat. Eine Recherche

An einem Freitag erreichte er München, am 29. Oktober 1790. Es ging ihm nicht sehr gut. Mozarts Reise nach Frankfurt war kein Erfolg gewesen – und dafür hatte er immerhin das Familiensilber verpfändet. Auf eigene Faust war der 34-Jährige zur Krönung Leopolds II. gefahren, statt zwei geplanter Konzerte hatte er nur eines gegeben und sich dann über Mainz, Mannheim und Augsburg auf den Rückweg gemacht. Nicht nur die Geldnot und der abnehmende Erfolg machten ihm zu schaffen, sondern immer noch der Tod seines Vaters, die Sorge um seine kränkelnde und mit einigem Grund eifersüchtige Frau Constanze und, erstmals in seinem Leben, das Nachlassen der Kreativität. Nie hat Mozart so wenig komponiert wie in diesem Jahr. Aber in München hob sich seine Laune.

Mozart stieg dort wie immer im Schwarzen Adler ab, einem Künstlertreff in der Kaufingerstraße, und besuchte seine Freunde. Die Cannabichs, Marchands, Brochards. Sein alter Gönner Carl Theodor, bayerischer Kurfürst, für den er vor neun Jahren schon den Idomeneo geschrieben hatte, lud ihn ein, in einem Konzert für den König von Neapel mitzuwirken. »Du kannst dir aber nicht vorstellen, wie das Gereiß um mich ist«, schrieb Mozart an Constanze. Rissen sich die Gönner um ihn so sehr, dass sie ihn sogar malen ließen? Es gab da einen Porträtisten, Hofmaler Carl Theodors und als Freund des Wirts selbst im Adler verkehrend: Johann Georg Edlinger, seit 1781 in München angestellt. Wahrscheinlich kannte ihn Mozart. Und möglich wäre es, dass er in dieser Woche, auf seiner allerletzten Reise, von Edlinger gemalt wurde.

Möglich wäre auch, dass dieses Bild für gut zwei Jahrhunderte verschwand – und dass die Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin eine Sensation zu bieten hat. In heller Aufregung sind Musik- wie Kunstwelt schon seit Januar. Pünktlich zu Mozarts 249. Geburtstag teilte die Galerie mit, der »Herr im grünen Frack«, seit 1934 im Besitz Berlins, sei kein anderer als der Komponist, gemalt in jenen Münchner Tagen von Edlinger – verifizierbar durch biografische Indizien, aber vor allem durch computergestützten Vergleich dieses Bildes mit einem authentischen Mozart-Porträt, das in Bologna hängt und den Musiker in fast gleicher Perspektive zeigt, »in Halbfigur leicht schräg nach rechts«. Zwar hatte man die Argumente schon fünf Jahre zuvor im Mozart-Jahrbuch publiziert, doch das war nicht recht aufgefallen.

Zudem hielt der Berliner Galerieleiter Rainer Michaelis da noch für »sehr wahrscheinlich«, was nun unzweifelhaft sein soll. Die »Halbfigur« aus Bologna, den 21-Jährigen zeigend, hat Vater Leopold selbst als »malerisch wenig wert«, aber »ganz und gar ähnlich« bezeichnet. Andere beglaubigte Porträts zeigen den Komponisten im Profil – wie Joseph Langes unvollendetes Ölbild von 1789 und Dora Stocks Silberstiftzeichnung aus demselben Jahr. Diesen Darstellungen ist Edlingers Porträt in vielen anatomischen Details ähnlich und an Lebendigkeit weit überlegen. Der verlebt wirkende, etwas aufgeschwemmte junge Mann auf dem Bild blickt, während Heiterkeit um die Mundwinkel zuckt, offen und dabei ein bisschen wie von fern durch den Betrachter hindurch.

Wie aber, wenn uns gar nicht Mozart gegenübersäße auf rotem Polster im grünen Frack? Sondern ein drei Jahre vor dem Komponisten geborener Kaufmann und Hofrat aus München, bei dem Mozart allenfalls Modeartikel gekauft haben könnte? Davon ist Richard Bauer überzeugt, Direktor des Münchner Stadtarchivs. Er ließ dem Enthusiasmus an der Spree umgehend eine kalte Dusche von der Isar folgen und spottete: »In München Hofrat, in Berlin Mozart.« Seither ist die Luft dick zwischen den beiden Instituten. Wechselseitig bezichtigen sie sich der »Unwissenschaftlichkeit«. Wer sich aber ins aufgeladene Spannungsfeld zwischen Bayern und Preußen begibt, entdeckt zwischen alten Akten und moderner Software, dass auch Bilder ihre Schicksale haben und mitunter jahrhundertelang auf ihre große Stunde warten…

Das Bild, das wir uns von Mozart machen, wechselt epochenweise. Noch vor drei Jahrzehnten fand Wolfgang Hildesheimer es nötig, in seinem Buch über Mozart gegen das Image vom »Götterliebling« und »frohen, treuherzigen jungen Menschen« anzugehen, den »das Publikum gern so haben möchte«. Der Klassiker als defizitäre, antastbare Gestalt war noch unerwünscht. Nicht nur Hildesheimers Großessay, der schrille Film Amadeus und die psychoanalytisch orientierte Biografie von Maynard Solomon haben das geändert, sondern auch die Interpreten: weg vom »zeitlos« Schönen, hin zur Historie, zum Entstandensein statt zum Entrücktsein von Musik. Erst dann wohl konnte ein Musikfreund, zufällig konfrontiert mit dem Porträt eines ungesund aufgeschwemmten Anonymus, ausrufen: »Der sieht ja aus wie Mozart!«

So nämlich geschah es vor zwölf Jahren, als ein Nachfahre des Malers Edlinger in einer Dissertation über seinen Ahnen blätterte und das Porträt eines Unbekannten erblickte. Seinem Bruder ging es ähnlich. Wolfgang Seiller, Jahrgang 1959, Amateurpianist und Informatiker: »Ich war wie elektrisiert und hab den Vergleich mit dem Bild in Bologna ins Spiel gebracht.« Und dann suchte er den Berliner Kurator auf, in dessen Depot sich das Original befand. Der heißt Rainer Michaelis, ist jetzt 51 und Oberkustos, ein Mann mit Metallbrille, Schnauzer und beigefarbenen Sakko, den der Enthusiasmus glatt zehn Jahre jünger wirken lässt. Der Kunsthistoriker begann seine Laufbahn in der Hauptstadt der DDR, auf der Museumsinsel, zu deren Bestand auch Edlingers Porträt zählte. Als er erstmals draufschaute, dachte er: »Mensch, dat Jesicht haste schon irjendwo jesehen!«

Aber Mozart? Für die »ikonografische Annäherung« des geheimnisvollen Berliner Bilds und des Porträts in Bologna brachte Seiller beide auf gleiche Größe und konvertierte sie zu Graustufenabbildungen – dafür genügte handelsübliche Software wie Corel Paint 7.0 und Microsoft Photo Draw 2000. Dabei wurden verblüffende Übereinstimmungen bei Mund, Nase und Augen deutlich. Und was nicht so passte, erklärten unter anderem die 13 Jahre, in denen Mozart dicker geworden war… Ein bisschen verjüngt hat den von Edlinger Gemalten mittlerweile die Restaurierung. Das Bild, im Lauf der Jahre »verpresst und verknickt«, kam aufs Streckbett, weil sich schon Farbschollen überlappten, Lasurschäden wurden behoben. »Die Gesichtszüge Mozarts«, liest man im Journal des Museums, »stellen sich nun entspannter dar.«

Zur Herkunft des Bildes fanden die Berliner unterdessen eine heiße Spur. Bislang wussten sie nur, dass das Museum 1934 das Porträt im Münchner Kunsthandel erwarb und sogleich ins Depot verbannte. Es misst 80 mal 62,5 Zentimeter. Schon 1906 aber wurde im Münchner Glaspalast laut Katalog ein Herrenbildnis Edlingers gezeigt, dessen Maße 80 mal 62 Zentimeter betrugen. Das Format passt auf fünf Millimeter genau zum Berliner Porträt und kommt bei Edlinger sonst nicht vor. Mit einer Ausnahme: dem Porträt, das ebenfalls im Glaspalast hing, gleich neben dem ersten. Ein Damenbildnis. Offenbar gehörten die beiden zusammen. Und genau da beginnt die Spur ein bisschen zu heiß zu werden. Schließlich war Mozart nicht mit seiner Frau Constanze in München.

Dass etwa Josepha Duschek, Mozarts heimliche Liebe, aus Prag nach München gekommen sein könnte, um dort als Gespielin des Genies gemalt zu werden – »das wäre bei aller Libertinage nicht möglich gewesen«, sagt Richard Bauer. Der Direktor des Münchner Stadtarchivs ist ein heiterer 62-Jähriger mit grauer Löwenmähne, Lokalpatriot wie sein Berliner Widerpart. Dem wirft er vor, die Dame neben dem mutmaßlichen Mozart »schlicht übersehen« zu haben. Wer konnte sie sein? Bauers Mitarbeiterin steht entschlossen auf: »Ich hol schon mal die Lindauer-Kiste!« Lindauer? So hieß der Eigentümer der beiden Porträts, die 1906 im Glaspalast gezeigt wurden. Er war Spross einer Verlegerfamilie. Seine Witwe lebte noch, als 1929 ein Kulturhistoriker über diese Familie recherchierte. Er besuchte die Witwe und machte Notizen, die ins Stadtarchiv wanderten. Da hat Bauer sie gefunden.

Zettel für Zettel mit gestochen feiner Schrift kommt aus der Lindauer-Kiste auf den Tisch neben die Kaffeetassen. Auf blau liniertem Papier skizzierte der Forscher damals die Anordnung der Bilder bei Lindauers Witwe. Darunter auch ein Herren- und Damenbildnis von Edlinger. Und die 69Jährige erklärte ihrem Besucher, wen die Bilder zeigten – nämlich den »Kramer Steiner« und seine Frau. Genauer: Josef Anton Steiner, geboren 1753, gestorben 1813, Mitglied der Kramerzunft in München. Der Mann handelte mit Textilien und »Spezereien«, wozu Gewürze ebenso zählten wie Galanteriewaren. Er besaß mehrere Immobilien, war Hofrat, Lokalprominenter und selbstverständlich in der Lage, sich und seine Frau von einem der besten Porträtisten der Zeit malen zu lassen.

Wer den Weg der Bilder weiterverfolgt, sehnt sich im Aktenstaub nach Mozarts Übermut – doch hier geht alles Schritt für Schritt. 1825 wird der Nachlass der kinderlosen Kaufmannswitwe inventarisiert, der Aktuar des Stadtgerichts vermerkt »3 Familien-Porträts«. Die bekommt der Universalerbe Franz Seraph Lindauer. Sein Sohn ist ebenjener Franz, der 1906 einige Bilder an den Glaspalast auslieh. Darunter das Paar, das seine Witwe später als »Steiners« identifiziert. 1933 zieht sie aus ihrer Wohnung ins Altenheim, 1934 taucht auf dem Münchner Kunstmarkt das Porträt auf, das nach Berlin verkauft wird. Seltsam zwar, dass die Identität des Dargestellten dabei keine Rolle spielt – aber Format, Verkaufsjahr, Gerichtsprotokoll und die Notizen von 1929 zerren heftig an der Indizienkette, mit der anno 2005 die Berliner Mozart an sich binden wollen. 1789 haben sie ihn noch ungerührt ziehen lassen…

Der Oberkustos von der Spree tritt darum die Flucht nach vorn an. Michaelis stimmt zu, dass es Steiners waren, deren Porträts im Glaspalast und bei Lindauers Witwe hingen. Er glaubt jetzt aber, »dass wir gar nicht vom selben Bild sprechen«. Der Zufall ist ja nicht auszuschließen, dass ein formatgleicher Mozart anno 1934 von ganz woanders her auf der Kunstmarkt geriet. Ein bisschen erinnern diese Spekulationen an unglücklich Verliebte, die sich jedes Nein in ein Vielleicht umbiegen. Aber es gibt in diesem Falle keineswegs nur Neins. Einige Einwände können die Berliner leicht entkräften. Dass etwa Edlinger in den paar Tagen nicht genug Zeit für den schwer beschäftigten Mozart haben konnte und einen Musiker mit Berufsattributen hätte darstellen müssen, so, wie Haydn zur gleichen Zeit mit Gänsekiel und Tastatur gemalt wurde.

Doch zwingend waren solche Attribute im späten 18. Jahrhundert keineswegs, sie wurden erst im 19. Jahrhundert wieder üblich. »Denken Se an Herder oder Lessing von Anton Graff«, sagt Michaelis, der über die Malerei jener Zeit promoviert hat, »wie seh’n die denn aus?« Den Porträtmalern der Aufklärung war es vor allem um den Charakter zu tun. »Er bringt den seelischen Zustand der Leute bestens raus«, sagt einer, der Edlingers Schaffen 1983 erstmals gründlich beschrieb. Rolf Schenk diagnostizierte damals »weltmännische Haltung« und »intellektuelle Tätigkeit« des Dargestellten. An Mozart dachte er nicht, erst später »fiel es mir wie Schuppen von den Augen«. Was das Tempo angeht: »Er konnte gar nicht langsam arbeiten, er hat das ja nass in nass gemalt. Flott und zügig, mit schnellen Pinselstrichen, meisterlich!« Dass das Bild tatsächlich »in einem Zug« entstand, erwies sich auch bei den Restaurierungsarbeiten.

Und was geschah dann? Musste Mozart das Bild in München lassen, weil es noch nass war, als er abreiste? Geriet es, durch welche Umstände auch immer, in einen Winkel bei den Gönnern, die es bezahlt hatten? Immerhin kennt die Kunstgeschichte auch den Fall eines Porträts Friedrichs des Großen, das erst hundert Jahre nach Entstehen bei einem Schulmeister in Neustrelitz auftauchte. Trotzdem ist es seltsam, dass Mozarts Münchner Freunde, die so ein »Gereiß« um ihn machten und, wie etwa der Komponist Christian Cannabich, auch den Maler kannten, nicht nach Mozarts erschreckendem Tod ein gutes Jahr später sich erinnert hätten, dass da noch ein Porträt des geliebten Genies existierte. Und hätte der Münchner Verleger Strobl, der Edlingers Prominentenporträts in einer Serie von Stichen herausgab, sich Mozart entgehen lassen?

In all dem Nebel sprechen die Zahlen und Dokumente, die tatsächlich vorliegen, ziemlich handfest für Steiner. Ja, aber die Hand? Die bewegliche Linke des Porträtierten begeistert auch den Kunstexperten und Kunsthändler Schenk: »Edlinger hat die Hände meist weggelassen, obwohl er die gut konnte.« Die hat was, die Hand. Über den Mozart jener Jahre sagte seine Schwägerin dem Biografen Nissen: »Auch sonst war er immer in Bewegung mit Händen und Füssen, er spielte immer mit Etwas, z. B. mit seinem Chapeau, Taschen, Uhrband, Tischen, Stühlen, gleichsam Clavier.« Und wenn man durch die nach Holz und Firnis, nach dem Handwerk der Verewigung duftenden Depots der Berliner Galerie sich der Katalog-Nummer 2097 von hinten genähert hat, auf Mozart hoffend und ihn liebend: Dann sieht man die spielende Hand.

Und sucht seinen Blick, der einen sanft durchschaut. Dass die Hand Geld zählt, dass die Ferne im Blick sich nebst Doppelkinn dem Wohlleben eines Münchner Händlers verdankt, der über Mozarts Schulden gelächelt haben könnte – das legen freilich die Tatsachen näher, als den Anbetern lieb sein kann. Dazu passen die Münchner Informationen mindestens so gut wie etwa das linke Auge des Bologneser Mozart zu dem des Mannes in Berlin. Doch wer weiß, was bis zum Mozart-Jahr 2006 noch so ans Tageslicht gerät… Bis dahin mögen die einen sich freuen, die andern bezweifeln, dass auch ein Kaufmann mozartisch wirken kann. Alle aber können es mit Josepha halten, für die der Musiker bei seiner Berliner Reise so liebevolle Umwege machte. Wobei sie ihn, wie er schreibt, vor Freunden so begrüßte: »da kömmt Jemand der aussieht wie Mozart.«

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 09.06.2005

Warum ist die »Kleine Nachtmusik« so berühmt?

Acht Fragen an den Mozart-Experten Ulrich Konrad zu einem Stück, das jeder kennt

Kann man das Schöne an der Kleinen Nachtmusik erklären?

Man sollte es versuchen, gegen die verharmlosende Vorstellung von Mozart als einem göttlichen Medium, eine Art Music Box, in die die Götter oben ihre Münzen reinwerfen, damit unten die Werke rausklingeln. Was auffällt, ist die Reduktion der Mittel. Im selben Jahr hat Mozart Don Giovanni geschrieben. Man muss sich vorstellen, was dort etwa in der Komtur-Szene passiert, das sind kompositionstechnisch ungeheure Dinge! Aber in der Nachtmusik gibt es kaum Kontrapunktik oder Modulationen. Der Anfang verläuft mit mathematischer Genauigkeit. Zwei Takte Anfangsgeste aufwärts, die rundet sich in zwei Takten abwärts, eine geschlossene Einheit, und darauf antwortet ein genauso dimensionierter nächster Abschnitt. Ein vollkommen regelmäßiger Periodenbau. Als wolle Mozart zeigen, wie abgerundet diese Einheiten sind, setzt er die Pausen. Der Kontrast in Takt 18 ist dann in Bewegung und Dynamik so deutlich abgehoben, dass ihn der Hörer ganz unangestrengt wahrnimmt.

Ist die Harmonik – dauernd G-Dur und D-Dur – nicht reichlich simpel?

Tonika und Dominante sind in unserer Harmonik Elementarspannungen, sie werden erst ereignishaft, wenn der Komponist harmonisch weiter ausgreift. Kommt bei Strauss in der harmonisch mäandernden Alpensinfonie so eine einfache Kadenz, ist man in einer ganz anderen Welt. In der Kleinen Nachtmusik fehlt dieser Rahmen. Hier wird kein modulatorischer Weg zur Grundtonart entwickelt, die dann wie eine Befreiung eintritt. Hier ist die Befreiung einfach da. Darin liegt ein Teil der Wirkung. Faszinierend ist, wie trotz der Einfachheit nie der Eindruck von Simplizität entsteht. Die Reduktion erscheint ja beinahe als besondere Kunstfertigkeit: Mozart gestaltet mit drei oder vier Harmonien einen ganzen Satz und hinterlässt trotzdem den Eindruck der Mannigfaltigkeit. Vielleicht ist das Stück eine hoch kunstvolle Etüde über die Frage: Wie weit kann ich Musik elementar machen, »ohne ins Leere zu fallen«, wie Mozart sagt. Ein Versuch, ganz nahe an der Leere, sagen wir ruhig: am Unpersönlichen vorbeizugehen.

War die Kleine Nachtmusik schon immer so berühmt?

Nein, bis ins 20. Jahrhundert hinein war sie nicht so bekannt wie Don Giovanni und Die Zauberflöte, die von Anfang an hoch geschätzt wurden. Auch Mozarts Klavierkonzerte, für uns heute Inbegriff des Konzertierens, wurden im 19. Jahrhundert vergleichsweise gering geschätzt. Neben Liszt fand man die zu einfach. Ähnlich ging es auch der Kleinen Nachtmusik. Es wurde sogar bezweifelt, ob sie von Mozart ist – zu simpel sei sie gemacht. Um 1900 gab es dann eine starke Bewegung unter dem Schlagwort »Zurück zu Mozart!«. Gegen Wagner und das Großaufgebot an musikalischen Mitteln wandte man sich dem Klassizistischen und Spielerischen zu. In dieser Zeit beginnt die zunehmende Wertschätzung der Nachtmusik. Richtig populär wurde sie schließlich durch einen Spielfilm, eine deutsche Produktion von 1939 mit dem Titel: Eine Kleine Nachtmusik. Und heute ist sie eine Ikone der »klassischen« Musik. Sie steht für Mozart und das Schöne der Musik schlechthin, sie gilt als unhinterfragbar.

Es ist Mozarts letzte Serenade. Hat er eine Bilanz der Gattung gezogen?

Ich glaube nicht, dass Mozart in dieser Dimension gedacht hat. Wer sich anschickt, letzte Gattungsbeiträge zu liefern, denkt historisch. Der ganze späte Strauss schreibt dauernd letzte Werke. Aber es ist sehr wohl so, dass bestimmte musikalische Funktionen in der Lebenswirklichkeit ihren Ort verlieren, so wie die Kantaten nach Bach. Es ist nicht auszuschließen, dass die Serenade als Form geselliger Kommunikation zu jener Zeit ersetzt wurde durch anderes. Mozart hat nie intentional »letzte Werke« geschrieben. Das zu unterstellen ist Teleologie post festum, davon halte ich nichts.

Wie kam die Kleine Nachtmusik zu ihrem Namen?

Mozart schrieb den Titel in sein Werkverzeichnis. Wir haben aus der Entstehungszeit, August 1787, keinerlei Hinweise für einen Komponieranlass. Aber es muss einen Auftrag oder einen Anlass gegeben haben. Nichts ist falscher als die Vorstellung, Mozart habe aus einem gewissen Drang heraus und mit Blick an den Himmel Werke geschrieben. Die Nachtmusik erfüllt die Funktion der Serenade, die zum Abend gespielt wurde, ein Genre geselligen Musizierens im späten 18. Jahrhundert. Dass ein Kontrabass dabei ist, deutet auf ein Streichorchester hin. Die Noten existieren nur unvollständig – ein Menuett fehlt, laut Werkverzeichnis waren es fünf Sätze. Bei der Frage, was »klein« heißen könnte, wäre ich vorsichtig mit der Übertragung des Begriffs auf etwaige Kleinheit der Ansprüche. Auch wer die Sonata facile für Klavier gut spielen will, weiß, dass das kein »einfaches« Stück ist. Vielleicht entspricht das, was uns in der Nachtmusik so bewusst klein entgegentritt, der Inkaufnahme eines bestimmten Rahmens. Jedenfalls wird das Stück schon durch den Titel individualisiert. So ein Titel kann nur einmal vergeben werden – wie Ein Deutsches Requiem.

Klingt die Kleine Nachtmusik überhaupt nächtlich?

Wer das Persönliche und Bekenntnishafte vermisst, trägt etwas an die Nachtmusik heran, was Mozart mit ihr nicht im Sinn hatte. Musik muss nicht bekenntnishaft sein, sie kann auch das elementare Spiel von Formen sein. Was erklingt und was der Gehalt ist, fällt hier zusammen, wie Rot nur Rot bedeuten kann und nicht das Symbol für die Liebe sein muss. Wenn ich aus der Kleinen Nachtmusik eine große, tiefe, nächtliche Nachtmusik machen will, komme ich in Nöte. Das Stück weist nicht über sich hinaus.

Was ist auffällig an Mozarts Handschrift in der Kleinen Nachtmusik?

Sie hat alle für Mozart typischen Merkmale. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, hier fließen die Noten aus einer perfekten Komponiermaschine aufs Papier. Wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass es Spuren der Arbeit gibt. Verschreiber, Versehen, diese typischen Wischer: Wenn Sie mit Tinte schreiben und sofort korrigieren, müssen Sie nur drüberwischen, dann ist die Tinte noch nicht eingezogen, das ergibt diese Kometenschweife. Im farbigen Original, das sich leider in Privatbesitz und unter Verschluss befindet, würde man besser die unterschiedlichen Tintenfarben sehen. Mozart schreibt zuerst die Hauptstimmen – das nennt er »Komponieren«. Und wenn er den Rest hinterher ausfüllt, nennt er das »Schreiben«.

Schadet es der Musik, wenn sie so oft gespielt wird wie die Nachtmusik?

Die medial hergestellte Unentrinnbarkeit erzeugt Gleichgültigkeit. Diese Musik perlt an uns ab. Wir sind nicht mehr in der Lage, sie wirklich zu hören. Wie wenn man zu viel von einer Süßigkeit in sich hineinmampft: Es wird einem schlecht, man bekommt Ekel davor. Für das spezifische Gewürz dieser Musik – das nicht sehr scharf ist – sind unsere Trommelfelle nicht mehr bereit. Es fehlt auch an Vertrautheit mit den Regeln, nach denen Mozart spielt. Das Gegenstück zur Nachtmusik ist ja der Musikalische Spaß, in dem Mozart gegen alle Gesetze verstößt und der Kenner dauernd das Lachen unterdrücken muss. Fatal ist aber, dass der Spaß in den Ohren vieler heute ganz normal, ganz richtig klingt, weil sie die Feinheiten nicht verstehen. Ich habe das sogar bei angehenden Musikern erlebt. Andersherum hat das betont Richtige in der Nachtmusik einen intellektuellen Anspruch, der kaum noch wahrgenommen wird. Mozart sagte selbst: »Ich liebe Zuhörer, die mitdenken.« Wenn Intelligenz klingen könnte, dann so wie in der Kleinen Nachtmusik.

Ulrich Konrad ist Professor für Musikwissenschaft in Würzburg. Zuletzt erschienen ist sein Buch »Wolfgang Amadé Mozart« im Bärenreiter Verlag, Kassel, 34,95 €

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit