Kategorie-Archiv: Oper

Kaputte Paare, die erwachen

Claus Guth inszeniert, Harnoncourt dirigiert Mozarts “Figaro” in Salzburg als herbstzeitlose Partnersuche

Der Herr in Reihe 9, Parkett, Ticket für 600 Euro, liest seiner Begleiterin den Namen mit einer gewissen Ratlosigkeit vor. ” Lorenzo da Ponte” Muss man den kennen? Aber man ist ja wegen Mozart hier. Mozart und Anna Netrebko und Harnoncourt. Und Gottschalk. Der hat seinen Auftritt in der Pause. Er wird lachen und winken. Eine Dame im ersten Rang regt sich auf, dass die Netrebko nur zwei Arien ganz für sich hat. Wie kann man sie so unterbeschäftigen? Der Hinweis, dass Mozart selbst für diesen Fehler verantwortlich ist, besänftigt sie kaum.

Immerhin zahlt man auch im Rang noch mindestens 100 Euro für die prominenteste von 22 Premieren sämtlicher Mozartopern. Für einen Parkettplatz soll eine Japanerin 10000 Euro geboten haben. Vergebens.

Noch ehe der erste Ton von Le nozze di Figaro in Salzburg erklang, hatte sich die Brandung des Mozartjahres zu einem Tsunami aus TV-Rummel, Glitzeria und Marketing erhoben, der alles zu verschlingen drohte. Die Stadtväter waren ohnehin längst durchgedreht und hatten Designerasphalt mit Goldpartikeln auf der Festspielpiste verlegen lassen. Das Zeug hielt der Hitze nicht stand und bekam Bremsspuren, bei deren notdürftiger Entfernung auch der Goldglanz wich, bis die Hofstallgasse “gaggerlgelb” aussah. Auf anschauliche Weise ging da der Hype nach hinten los. Würde wenigstens die Akustik den Test bestehen, im neu gestalteten Festspielhaus? Und würde in all der Hysterie das Musiktheater noch atmen können?

Der Graf hat eine Macke, die seine Angestellte Susanna fasziniert

Als Nikolaus Harnoncourt den hochgefahrenen Orchestergraben betrat, blickte er, mit schwarzem Schlabberhemd bekleidet, kurz freundlich ins Publikum, als begänne bloß eine Generalprobe. Und mit den ersten Tönen verschwand der Druck im Saal wie ein Spuk. Harnoncourt dirigiert die Ouvertüre eigentlich schrecklich langsam. Seinen Gründen dafür es ist nun mal in der Partitur kein “alla breve” notiert lassen sich andere entgegensetzen. Nicht aber der sanften Intensität, der Transparenz, dem untergründigen Fließen, das die Wiener Philharmoniker hier hören ließen in vollkommen klarer und dabei nicht zu harter Akustik. Die Musik schien weniger ein Ziel zu haben, als etwas sichtbar zu machen, einen Raum, ein sanft leuchtendes Universum, fröhlich und elegisch zugleich.

Innerhalb des hörbaren Zeitmaßes schienen sich andere Tempi zu bilden, mal Stromschnellen, mal stille Stellen, an denen Töne zu betrachten waren wie Blätter an einem Baum. Man war fast überrascht, als irgendwann auch der Vorhang hochging und ein Ambiente enthüllte, das Harnoncourts Gelassenheit entwachsen zu sein schien. Sanftes Licht fällt ins große, gilbend weiße Treppenhaus eines Herrenhauses.

Christian Schmidt hat es entworfen. Keine Möbel. Durchs schmale Fenster links sieht man Herbstlaub an einer Mauer. Eine Treppe führt zu unsichtbaren Etagen. Drei Paare stehen hier und da wie im Dornröschenschlaf. Nüchtern und poetisch zugleich ist das Bild einer der raren Anfänge, bei denen man ahnt, daraus kann viel werden. Aber ist es nicht schon zu viel, dass nun ein Engel durchs Fenster steigt?

Ein Jüngling im Matrosenkostüm mit kleinen weißen Flügeln, ein Cupido weckt die Paare.

Doch ehe das kitscht, ist der Engel entwichen, und im Hause Almaviva geht es scharf zur Sache. Während Susanna ihrem Figaro noch erklärt, was der Graf vorhat, zerrt der sie schon in sein Zimmer. Die Befürchtung, hier werde nicht Anna Netrebko als Susanna, sondern Susanna als Netrebko auftreten, zerstreut sich schnell. Ihre starke Präsenz geht in der Rolle auf, ihre Stimme im Ensemble. Ein energisch schlanker, leicht dunkler Sopran, eher sich anpassend als herausfunkelnd. Fast hat diese Zofe in ihrem Selbstbewusstsein etwas Abwartendes. Regisseur Claus Guth lässt offen, zu wem es sie wirklich zieht. Ihr Verhältnis zum Grafen ist aggressiv und verstört auf beiden Seiten. Der Macho hat eine Macke, die seine Angestellte fasziniert.

Bo Skovhus eckige Körpersprache und leicht steiniges Timbre passen perfekt zu einem gespaltenen Typen im schicken Anzug. Ein Hüne, der sich zu groß ist, der sich nach jedem Kuss, den er Susanna abnötigt, entsetzt den Mund abwischt, der seine Gräfin nicht mehr begehrt, aber so eifersüchtig ist, dass die Eifersucht in Gier umschlagen kann oder in enorme Komik, wenn er mit einer gewaltigen Axt über der Schulter einmarschiert. Während Susanna das Komplott zu seiner Demütigung vorantreibt, wächst ihre Nähe zu ihm, und während die Hochzeit naht, wächst ihre Ferne zu Figaro. Später, im Brautkleid, strahlt sie fühlbar Kälte aus gegenüber dem munteren, neurosefreien Bräutigam.

Nie wurde Figaro so sehr zum Würstchen degradiert wie hier

Der ist mit Ildebrando dArcangelo stimmlich bestens besetzt, markant, flexibel aber nie wurde Figaro im psychologischen Gefecht und Geflecht so sehr zum Würstchen degradiert wie hier. Susanna hat die richtige Liebe noch gar nicht gefunden. Sie sucht, ohne es zu wissen, und ist nur an Erfahrung dem Pagen Cherubino überlegen, der pubertär erwachend alle Frauen liebt. Er trägt, man ahnte es, den nämlichen Matrosenanzug wie der Cherub, er ist dessen irdisches Double im Zeichen der Hingabe. Sein Non so più wird von Harnoncourt noch schneller dirigiert als vor zwölf Jahren in Amsterdam, wegen “alla breve”. Es ist schade um die Achtelwellen der Streicher, aber Christine Schäfer ist hinreißend.

Ihr weich flammender Cherubino würde Susannas spöttische Distanz wohl auch brechen, ohne dass der Engel und jähes Dämmerlicht mithelfen und trotzdem wirkt das nicht gedoppelt. Auch nicht, als zöge dieser Geflügelte, der magisch stille Uli Kirsch, alle Schicksalsfäden. Das versucht er zwar immer mal wieder, mitunter sogar mit Gewalt, aber eher ist er ein Emissär des Publikums, ein aktiver Zuschauer, der das Geschehen überblickt, der Wünsche an die Gestalten hat. Als allegorische Figur verweist er auf die archaischen Muster in dieser Oper: Menschen als Ausdruck der Mächte, die sie umtreiben. Sie bleiben hier zwar autark. Der stärkste Moment des Abends ist aber der, in dem drei sich selbst vergessen und einander hingeben in vollkommener Freiheit.

Und tatsächlich geschieht in der Verkleidungsszene zwischen Gräfin, Susanna, Cherubino und dem Orchester etwas, was oft nur ohne Publikum, in der Unbefangenheit von Proben gelingt und dann nie wieder. Wie beide Frauen und der Knabe dem Eros verfallen, den Harnoncourt unendlich nuancenreich aus der Partitur blühen lässt, wie umgekehrt das Continuo ihnen folgt in flexibelster Gestaltung der Rezitative, während sie einander erforschen diese Intimität ist in Musik geboren und geborgen. Sie weiß nichts vom Publikum, von den Kameras, von Harald Schmidt, der oben auf dem Dach die Live-Übertragung kommentiert.

Wer sah, wie die junge und doch um ihre Jugend schon Trauer tragende Gräfin (anrührend: Dorothea Röschmann) fröstelnd vor Verlassenheit in der Ecke stand, versteht ihre Befreiung zur Nähe ebenso wie die der Susanna, die sonst nur von besitzergreifenden Männern umgeben ist, bis hin zum zynisch kalten Musiklehrer Basilio (Patrick Henkens). Diese Männer ahnen in Cherubino mit Recht ihren größten, weil hingebungsvollsten Rivalen. Die Militär-Arie wird zur brutalen Demütigung des Knaben. Graf und Figaro vollziehen sie gemeinsam und werden dabei selbst zu Soldatentieren. Ihre verkantete Sexualität mündet in Gewalt. Aber das ist eben nur eine Wahrheit über diese Männer.

Eine andere ist die strindberghaft verzweifelte Verbindung zwischen Graf und Gräfin, beide schier zerfetzend just da, wo sie bei anschwellendem Marsch zur Hochzeit ihrer Untergebenen schreiten. Die Radikalität dieser Inszenierung liegt in der Klarheit, in der kaputte und mögliche Beziehungen deutlich werden. Weder der revolutionäre Kontext der Entstehungszeit interessiert den Regisseur noch die Anwendbarkeit dieser Oper auf dezidiert gegenwärtige Daseinsformen. In der Herbstzeitlosigkeit des schmucklosen Herrenhauses geht es um Männer und Frauen, das ist Gegenwart genug.

Gefährdet ist die Produktion durch einen leisen Mangel an Unberechenbarkeit, eine Patina des Gelingens. Davor schützt Mozart selbst, doch der Regisseur scheint am Ende Angst vor der eigenen Stringenz zu bekommen. Sein vierter Akt scheitert vollständig. Die Statik der Arien, die Mozart als Staustufen vorm grandiosen Finale einzieht, hat Guth mit isolierten, bemühten Rampenauftritten vor einer Türenwand so verstärkt, dass es zur Schubumkehr kommt. Und während die Wand hochfährt, stürzt der Abend in Konfusion. Überall Magie und Spiegelungen – in wildem Aktionismus ist Mozarts und da Pontes Verwechslungsspiel nicht mehr zu verstehen. Anna Netrebko findet für ihre Rosen-Arie keinen Ort und klingt unpoetisch, fast hart. Dass Harnoncourt im Finale alle Zuspitzung verweigert, macht die Sache auch nicht besser.

Doch davon werden die ersten drei Akte nicht schlechter. Die bleiben.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 03.08.2006

Ich will hier rein! Ich will hier raus!

Zwei neue Einakter von Salvatore Sciarrino und Wolfgang Rihm zeigen die Extreme zeitgenössischer Opernmusik

Woran liegt es, wenn wir nicht weiterkommen? Wenn wir stecken bleiben? Sind die Hindernisse zu groß? Haben wir sie groß werden lassen und sind von ihnen hypnotisiert, sollten wir einfach die Laufrichtung ändern? »Was du suchst, liegt immer hinter dir«, lässt Goethe seine Proserpina sagen, die unbedingt dorthin zurück will. Nach oben, ans Licht und in die Jugend, die »vertaumelte liebliche Zeit«, aus der sie Pluto heruntergerissen hat zur Zwangsehe in der Unterwelt. Dort kommt sie nicht heraus, und gerade die Sehnsucht versperrt ihr endgültig den Weg. Bei Kafkas Mann vom Lande ist es so ähnlich und doch ganz anders. Er hat noch kein Glück hinter sich. Er kommt von unten und will, wenn schon nicht nach oben, so doch zur Gerechtigkeit. Vergeblich wartet er Vor dem Gesetz, auch er, ohne es zu ahnen, mitschuldig an der Blockade.

Er kann nicht rein, sie kann nicht raus. Zwischen Goethes Göttertochter und Kafkas namenlosem Mann liegen 137 Jahre und Welten der Ästhetik und Perspektive. Doch das gemeinsame Motiv des Festsitzens lässt aufhorchen, wenn sich zeitgleich zwei ebenfalls grundverschiedene Komponisten an diese Stoffe setzen und je 75-minütige Opern daraus machen, Konzentrate mit wenigen Instrumenten und Stimmen. In Wuppertal wurde der Einakter La Porta della legge von Salvatore Sciarrino uraufgeführt, in Schwetzingen die Proserpina von Wolfgang Rihm. Weiter voneinander entfernt können zwei Komponisten derselben Liga kaum sein als der italienische Silbenstecher »Jahrgang 1947« und der fünf Jahre jüngere Klangvulkan aus Deutschland – das Spektrum zeitgenössischer Musik war nie so weit gespannt wie heute.

Der fatale Respekt vor der Macht lähmt die gesamte Gesellschaft

Im Gegensatz zu den traurigen Helden der neuen Opern stagniert das Spektrum nicht. Salvatore Sciarrino kann man schwerlich als Masche ankreiden, was er konsequent mit jedem Werk fürs Musiktheater weiter und neu entwickelt, jenen fraktalen Stil, in dem die Worte unter enormem Druck gestaut und zerbröckelt werden, gefesselt von instrumentalen Gespinsten. Vom Flüstern und dem Gift der Eifersucht in Luci mie traditrici über die Ausweglosigkeit der Macht in Macbeth bis jetzt, im Stammeln des Mannes Vor dem Gesetz, geht es um Deformationen der Seele, die in den Worten verborgen sind. Sciarrino komponiert das Sprechen dahinter, eine Röntgensprache, die uns den Mann vom Lande ganz durchschauen lässt, wenn er abgerissen, knapp an Atem, sagt: »Nichts. Er kann es mir nicht gestatten.«

Er, das ist der Türhüter vorm Rechteck in der Wand, die Jürgen Lier für die Wuppertaler Bühne gestaltet hat wie auch den bürokratengrauen Anzug des Hüters. Der spricht »normal«, in unzerfetzten Sätzen, weniger Subjekt als Prinzip, er war schon immer da und wird immer da sein. Michael Tews sitzt da mit dem schweren Lächeln eines Leguans, ein urzeitliches Scheinlächeln, eine Maske, vor der man erschrickt, wenn sie sich gar zum Lachen öffnet und man ein knappes Posaunenfauchen hört. Doch ist dieser Beamte auch konziliant, stellt seinen Stuhl zur Verfügung, denn Jahre vergehen hier in Minuten, der Bittsteller altert, am Ende wird er sterben und gerade noch erfahren: »Das Tor war nur für dich bestimmt!« Da ist die kleine Tür längst bühnengroß geworden.

Der Regisseur Johannes Weigand, designierter Intendant der Oper Wuppertal, lässt Szene, Gestik, Mimik präzise aus der Partitur heraus entstehen. Der Bariton Ekkehard Abele, im Schlotteranzug der Armen, windet sich flehend, resignierend, bis in die Fingerspitzen spiegelt die Körpersprache die Lähmung seines Willens, seiner Worte. Unablässig und leise tremoliert ein dünnes Donnerblech, wie ein unsichtbarer eiserner Vorhang, doch ist die Situation nicht ausweglos, die sich aus kleinsten Figuren selbst zu komponieren scheint. Sind da nicht Geräusche wie allerfernste Stimmen, gibt es nicht Wutattacken, in Akkorden geballt, ist da nicht die feuchtsatte Tiefe der Kontrabassklarinette, die Trauer in drei Bratschentönen? Leben? Ja, aber er hört es nicht, und auch der nächste Bittsteller wird es nicht hören.

Im fatalen Respekt vor undurchsichtiger Macht sieht Sciarrino die Lähmung der ganzen Gesellschaft. Er hat das darum, Librettist der eigenen Oper, als Wiederholung geschrieben: Noch mal das Ganze, die Worte ein wenig anders, die Töne in gleicher Struktur und neuer Instrumentierung, diesmal ist der Mann Countertenor (Gerson Sales), während die weite Öffnung sich zur Tür verengt. So könnte, so wird das ewig weitergehen, zeigt Sciarrino resigniert, doch in seinem zur Form erhobenen Pessimismus stellt sich Klarheit ein. In seinen Tönen durchschauen wir die Lähmung. Im Stauen und Stottern der Bittsteller, in ihrem flachen Ambitus, ihrem Repetieren, in dieser reduzierten Sprache der Defizite entdecken wir Schönheit und Möglichkeiten, so, wie das durchsichtig unzerreißbare Gespinst der Instrumente dauernd neue feine Farben hervortreibt – auch dank des unter Hilary Griffith exzellent agierenden Orchesters. In dieser vielleicht strengsten aller Sciarrino-Partituren blüht uns eine subtile Vielfalt entgegen, die wie ihre szenische Umsetzung so frei ist von allem Luxus und aller Behauptung, in jeder Nuance so dringlich, dass einem der Geist offen wird für Realität. Das harte, geschundene Wuppertal draußen ist danach keine Ernüchterung, eher eine Herausforderung.

Schnitt: von der Problemstadt ins Spargelparadies, Schwetzinger Festspiele, Schlosstheater mit einem Park, dessen Schönheit betört, einer Rokokoidylle, die ihrerseits eine Herausforderung ist für die Regisseure, die hier alljährlich eine zeitgenössische Oper inszenieren. Kann man neben Brünnlein und Beeten Bilder finden für die Konflikte, die Beengung, die Entfremdung, um die es in so vielen neuen Opern unserer Jahre geht? Es gelang hier schon oft.

Auch Wolfgang Rihms Proserpina vereint kammerorchestral ein paar Streicher mit ebenfalls prominent eingesetzter Viola, Bläser, auch tiefe, und Schlagzeug. Doch von Anfang an fluten hier raumgreifend die Klänge, von Stößen durchsetzt, von knurrenden Crescendi aufgeheizt, und tragen den Gesang der Solistin, die in mitunter schier Straussschem Duktus von Glanz und Elend singt, sich in allen Lagen, ob hoch, ob tief, ob selig oder entsetzt, verströmen darf, das schiere Gegenteil der abgeklemmten Vokalgesten bei Sciarrino und nicht weniger anspruchsvoll: Dieses Monodram verlangt von der Sopranistin Extreme an Technik, Gestaltungskraft und Bühnenpräsenz. Auf ihre Gefangenschaft reagiert diese Figur mit vokaler Befreiung. Anders gesagt: Wäre da nicht der Text, man würde eher Lust als Verlust in der Musik hören. Doch Wolfgang Rihm hat als Komponist auch einen völlig anderen Weg genommen als der auf Monteverdis Spuren am Wort arbeitende Sciarrino. Er begann zwar mit konventionellen Libretti, hat dann aber Texte in Klangeruptionen zerschmolzen wie in Tutuguri, hat ihren musikalischen Gehalt freigelegt jenseits allen Sprechens, Textfetzen als Material zusammengestellt oder gar nur, wortlos und ortlos, als Assoziationsbasis verwendet, auf der er Klänge meißelt, malt und übermalt. Seit einigen Jahren entdeckt Rihm die Geschlossenheit der Dichtung neu, besonders die großen verzweifelten Frauengestalten, Kleists Penthesilea, Botho Strauss’ Frau im Gehege. Seither durchwebt kantabel expressiver Gesang sein Klangfluten, das sich in größeren Besetzungen zur Spätromantik verdickt.

Ein Gynäkologenstuhl verbreitet dekorativen Schrecken

In Proserpina weht dieser Tendenz frischer Wind entgegen. Obwohl man immer mal tonale Zentren ahnt in Vorhaltsbildungen oder Terzenidyllen, bleiben doch eine Schroffheit, Unberechenbarkeit, Wendigkeit und etwas seltsam Rohes inmitten weit schwingender Bögen. Da ist Rihm den Sprachfarben Goethes überraschend nah, dem Archaischen, Frühen, Gärenden, wo »dumpfe Gewitter tosend sich erzeugen«. Die Gefangenschaft der Göttertochter ist eher ein Rahmen, der die Ausdruckswucht fokussiert. Mit dieser Wucht muss die Regie klarkommen, der Wolfgang Rihm auch die Frage überlässt, was dies bedeuten könnte. Warum ist Proserpina hier, warum entkommt sie nicht? Wofür steht der Biss in den Granatapfel, der ihr (in Goethes Version) für immer den Ausweg verschließt? Gefällt ihr die Ehehölle doch irgendwie?

Den Regisseur Hans Neuenfels interessiert das nur in Maßen. Mit drei stummen Männern umgibt er die Sängerin, einer davon ist der schöne Pluto, dem Proserpina halb willig, halb widerwillig die Brust küsst und der sich, während sie sich nach Granatapfelgenuss hinter einen weißen Vorhang zurückzieht, um rhythmisch zu seufzen, verzückt an die Lenden greift. Der klamme Symbolsex passt ins neoklassische Ambiente von Gisbert Jäkel – ein klinisch reines Säulenrondell, in dem ein düsterer Gynäkologenstuhl dekorativen Schrecken verbreitet. Mal wird die Heldin ein wenig gefesselt, mal reckt sie verklärt die Hände nach oben, von wo sich dann erschröcklich eine gewaltige schlafende Fledermaus herabsenkt. Zum tragenden Thema wird nichts in diesem hilflosen Arrangement, weder die Ambivalenz der Heldin noch die Ausweglosigkeit, weder ihre Lebenslust noch ihre Verzweiflung. Was den Abend trägt, ist die grandiose Präsenz, Kunst und Selbstverausgabung der Sopranistin Mojca Erdmann, sekundiert von achtzehn unsichtbaren Damen des SWR-Vokalensembles.

Warum unsichtbar? Was könnte man mit so einem Chor auf der Bühne anstellen! Doch Neuenfels fehlt diesmal die Neugier, die ihn beim Angriff aufs bewährte Repertoire so oft beflügelte. Manchmal, das lehrt der Abend, kommen wir gerade deswegen nicht weiter, weil ein Hindernis fehlt. Und Rihms Musik, vom SWR-Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Jonathan Stockhammer wunderbar gespielt, lässt viel offen: eine Tür, vor der kein Hüter sitzt.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 07.05.2009

Liebestod mit einem Kopflosen

Auch mit ihrem neuen Generalmusikdirektor gewann die Deutsche Oper Berlin bislang wenig Profil. Doch jetzt hat Donald Runnicles einen sensationellen “Tristan” dirigiert.

Einer wurde immer verschwiegen, weggeschwiegen. Man wusste von ihm, aber spielte er eine Rolle? Er singt ja nicht, er ist tot, von Tristan erschlagen. Morold! Er hatte von Cornwall den Tribut für Irland eingefordert, Tristan schlug ihm den Kopf ab und sandte ihn Morolds Verlobter Isolde. So was vergisst sich nicht, da kann die neue Liebe noch so rasen. Doch die Rezeptionsgeschichte von Tristan und Isolde hat die Leiche immer im Keller versenkt. Bis jetzt. In der Deutschen Oper Berlin ist Morolds glänzender Sarg von Anfang bis Ende präsent, Morold wächst schier im Sarge, während die Beziehungen der Lebenden untereinander bröckeln und bersten. Schon lange hat sich das gern als weltoffen gelobte Berliner Publikum nicht mehr so aufgeregt wie über diesen Abend.

Damit war eigentlich nicht zu rechnen. Regisseur Graham Vick, 1953 in Großbritannien geboren, hatte an deutschsprachigen Bühnen bislang nicht viel zu tun, auch nach einer Aida in Bregenz, einer Zauberflöte in Salzburg blieb der Ruf eines freundlichen Arrangeurs, mit dem Scala und Met kein Risiko eingehen. Das passte zum Kurs, den für die Deutsche Oper Berlin manche befürchteten und manche erhofften, als 2009 der neue Generalmusikdirektor Donald Runnicles antrat, der die Amtszeit der scheidenden Intendantin Kirsten Harms mit der von Dietmar Schwarz verbindet. Weil der erst 2012 anfängt, Harms aber jetzt aufhört, ist der 1954 geborene Schotte Runnicles eine prägende Gestalt an einem der größten Opernhäuser Europas, das in sechs Jahren unter Harms zwischen vielen Abstürzen und manchen Lichtblicken schlingerte.

Wer wissen will, wie unter Runnicles das Haus tickt, was ihm fehlt und warum sich sein Publikum so über Tristan ereifert, wer sich für den Alltag jenseits der Premieren interessiert und für das Profil des Generalmusikdirektors, muss zum Beispiel in eine der fast ausverkauften Vorstellungen der monumentalen Trojaner von Hector Berlioz gehen, nach wie vor ein rares Werk. Harms selbst hatte für diese Herausforderung den Briten David Pountney engagiert, Runnicles war das sehr recht, er dirigierte die Trojaner als seine erste Premiere in Berlin und wurde sehr gelobt, während die Regie bei den Kritikern bestenfalls Kopfschütteln auslöste. Beim Publikum weniger, aber tatsächlich hat Pountney Berlioz’ Fünfakter geradezu skandalös verschenkt und versenkt.

Der trojanische Beginn, unverbindlich archaisierend, ist noch auszuhalten als Erinnerung an eine Ästhetik, wie sie an Covent Garden um 1975 üblich war, danach geht es steil in die Fünfziger. Kitschigstes Ballettgehopse, kopfloses Chorgerenne, Geisterauftritte aus der Mottenkiste lassen das Desinteresse an Personenregie und Figurenerkundung noch schärfer hervortreten. Aber die Berliner gehen hin. Neben Solisten, die überragend sein können wie Anna Caterina Antonaccis Cassandra und überfordert wie Ian Storeys Énée, gibt es ja noch den Chor, oft gerühmt als einer der besten der Welt – aber dem heiklen Beginn der Trojaner sind diese Sänger in der fünften Vorstellung nicht annähernd gewachsen. Es klappert an allen Enden, die Sprache erkennt man nicht, und es hilft auch nichts, diese Defizite zu überbrüllen.

Das Orchester, von Runnicles dirigiert, zeigt vor allem die Streicher in bester Form, symptomatisch ist eine Basslinie wie im vierten Akt, sinnlich gespannt, mystisch dunkel. Die Bläser haben hinreißende Solisten, aber eine problematische Intonation. Abgesehen davon, wirkt der Klang, den Berlioz anders als Wagner nicht verschmilzt, sondern trennscharf konstruiert, erstaunlich homogen. Französischen Elan bietet Runnicles’ robustes Dirigat bei Berlioz ebenso wenig, wie er in Verdis Otello scharfe Akzente setzt oder das Gift spüren lässt, das Verdi in scheinheiligen Orchestergesten zu Jagos Intrigen wirken lässt. Das Orchester klingt dann auf sehr deutsche Weise zutraulich, aber diese Musiker haben einen gemeinsamen Impetus, einen Klang von sanfter Wucht, der sie nicht nur innerhalb Berlins unverwechselbar macht.

Vor der sperrigen Migrationsoptik, die Harald Thor für Otello auf die Bühne gestapelt hat, ließe sich spannend die Verbindung kollektiver und individueller Ängste erkunden, aber Regisseur Andreas Kriegenburg, von Verdi offenbar eher gehemmt als animiert, vertieft keine Figur, und was die Solisten angeht, ist es Glückssache, welche Besetzung man erwischt. Nach solchen Eindrücken kann man es durchaus nicht nur der Nöligkeit der Hauptstadtpresse zuschreiben, wenn unablässig von einer Krise des Hauses die Rede ist. Und man ist sich nicht sicher, ob Runnicles die Lichtgestalt ist, die das ändern könnte. Nun ist da dieser Tristan, und alles ist anders. Nicht sofort. Die ersten Takte zerfallen, obwohl Wagner »nicht schleppend« anmerkt, die Holzbläser intonieren schartig. Dann aber entdeckt Runnicles seinen Wagner auf den Spuren ausgerechnet Bachs.

Dass nämlich dieses Vorspiel ein Wunderwerk der Kontrapunktik ist, haben nicht mal Norringtons historische Instrumente so deutlich hören lassen. Hatte Runnicles Berlioz noch homogenisiert, nimmt er den Verschmelzer Wagner auseinander, gestaltet Klangfarbenflächen, die aneinandergefügt sind wie bei Cézanne, und er lässt sprechen. Das Orchester umgibt hier nicht wissend die Protagonisten, es spricht mit ihnen. Denn sie beschweigen vieles in diesem Siebziger-Jahre-Bungalow, den Vicks Ausstatter Paul Brown gebaut hat. Da sitzt Brautwerber Tristan steif im Anzug auf dem Sofa, den Sarg vor sich sehend oder auch nicht, während Isolde das Brautkleid ausprobiert und ihr künftiger Gemahl Marke nicht an ferner Küste, sondern schon hier, im Fernsehsessel, wartet. Alle sind schon da, plus ein Toter, unbehaglicher könnte die Stimmung nicht sein.

Im beklemmenden Ambiente rückt näher, was zwischen den Gestalten geschieht. Wie Tristan, von der Liebe erwischt, seinen Seelenpanzer verliert und schutzlos zum zitternden Wrack wird, das im dritten Akt durchs Wohnzimmer taumelt, ein Pflegefall für seinen Diener Kurwenal – das wird von Peter Seiffert so intensiv gespielt, dass sein schlackerndes Vibrato schon wieder passt, und wenn das Orchester parsifaleske Gesten wie zur Faust ballt, die dieser Held im Schlafrock reckt, dann hofft man für ihn. Wenn er den »furchtbaren Trank« besingt, der den »sehrendsten Zauber« erst möglich machte, ist es gar, als rede Wagner von sich und seiner Musik, aus der er selbst nicht herauskann und die hier immer deutlicher die Menschen ihrer Selbstgewissheit entkleidet.

Wie anrührend ist da der hilflose Trost des ältesten Kurwenal, den man je erlebte. Eike Wilm Schulte, 70-jähriger Wagner-Kämpe, will nicht sehen, was wir sehen, den Sarg, die Verzweiflung, die Schwäche, er bastelt seinem Herrn ein Papierschiff, rafft alle Kräfte zusammen, gute alte Schule, der Mann hat Statur, auch stimmlich noch, er tut, als wisse er nicht, dass (in Vicks Deutung) Isolde Tristan verlassen hat. Weißhaarig kommt sie, als Tristan schon hinausgetaumelt ist und nur noch aus dem Off singt, und ihren Schlussmonolog singt Petra Maria Schnitzer – intensiv, nicht verklärt – am Sarg ihres toten Verlobten Morold. Alldem hält die Partitur nicht nur stand, sie scheint darauf gewartet zu haben wie auf König Markes traurige Frage nach dem Grund des Betrugs. Wie liebevoll, wie scheu, wie sprechend ihm da die Holzbläser antworten, das ist symptomatisch für eine Verbindung von Graben und Bühne, in der einem so klar wird wie seit Langem nicht mehr, wozu Oper wirklich da ist.

Über anderes lässt sich streiten. Die Gestalten aus Welt und Psyche, die da noch herumwandern, Migranten, Halbwelttypen, paradiesische Nackte, die sonderbare Brutlampe, die wie eine Machina ex Deo über die Protagonisten wacht – na ja. Doch es scheint, als wütete das Publikum vor allem wider die Ernüchterung, die aus dem seligen Paar ein gescheitertes macht und im Orchester aus wohligem Wogen eine deutliche Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind. Wenn das den künftigen Kurs der Deutschen Oper bestimmt, wird sie keine Krise mehr haben, sondern ein Ort sein, an dem man sich mit Krisen auseinandersetzen kann. Solche Orte werden gebraucht.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 15.03.2011