Kategorie-Archiv: Reportagen

Kunst im Klima der Zensur

Ungarns nationalistische Regierung duldet Hetze gegen Juden und Schwule und drangsaliert das Kulturleben.

Die alte gelbe Straßenbahn, die längs der Donau zum Zentrum rumpelt, ist zum Platzen voll. Nachts um elf drängen sich hier Musiker mit Instrumentenkästen und ihr Publikum. Gerade haben sie im Palast der Künste, einem gleißenden Bau im Süden von Budapest, Ungarns größten lebenden Komponisten gefeiert – in dessen Abwesenheit, denn der nun 85 Jahre alte György Kurtág verlässt sein Dorf in Frankreich nur noch selten. Sein Kollege Peter Eötvös hat Kurtágs Botschaften für Sopran und Ensemble dirigiert, längst ein Klassiker, und András Keller, Primarius des berühmten Keller Quartetts, hat an diesem Abend als Dirigent mit 100 Instrumentalisten die Stele von 1994 errichtet, eins der bedeutendsten Orchesterwerke der Gegenwart, in Ungarn noch nie gespielt. Ob man es hier bald wieder hören wird, ist fraglich.

Derzeit droht Kurtágs Trauermusik Stele zu einem Abgesang auf eine der reichsten kulturellen Szenen zu werden, die es in Europa gibt. Das Concerto Budapest, das sie aufführte, hat seinen Hauptsponsor verloren und hofft auf staatliche Hilfe. Die ist allerdings völlig unberechenbar. Gerade jetzt treffen rigide Kürzungen viele Musiker in Ungarn, auch die Theater und zahlreiche Filmemacher. Das hat zu tun mit den Sparauflagen der Europäischen Union, deren Ratsvorsitz seit Januar Ungarn innehat. Doch die Kürzungen vermischen sich auf schwer entwirrbare Weise mit der Politik einer konservativen bis nationalistischen Regierung , mit der Maßregelung des kritischen Filmregisseurs Béla Tarr , mit der unverhohlen politisch motivierten Verfolgung liberaler Philosophen als »Geldverschwender« und dem Hass, der einem der international renommiertesten ungarischen Musiker in seiner Heimat entgegenschlägt.

András Schiff , in Italien lebend, zählt zu den besten Pianisten der Welt. Schon als 14-Jährigen unterrichtete ihn Kurtág in Budapest, noch zu kommunistischer Zeit zog Schiff nach Italien. Von dort schrieb er im Dezember 2010 einen Leserbrief an die Washington Post gegen die Einschränkung der Pressefreiheit unter der neuen Regierung, gegen Antisemitismus und Nationalismus in seiner Heimat. »Die Leute haben Angst«, erklärte er. In der ungarischen Zeitung Magyar Hirlap hetzte daraufhin ein Parteigenosse des Regierungschefs Viktor Orbán, Zsolt Bayer, gegen die Kritiker der ungarischen Politik, wobei er jüdische Namen aufzählte. Als »stinkendes Exkrement« bezeichnete er Nick Cohen vom Guardian, es folgten die Namen Cohn-Bendit und Schiff und der Satz: »Leider ist es nicht gelungen, einen jeden bis zum Hals im Wald von Orgovány zu verscharren.«

Wobei jeder Ungar weiß, dass in diesem Wald 1919 mindestens 300 Linke und Juden von Offizieren des späteren »Reichsverwesers« Miklós Horthy gefoltert und getötet wurden. »Bayers Anspielung bedeutet, dass leider damals zu wenig Juden ermordet wurden, und jetzt haben wir also ihre Nachfolger am Hals«, sagt der ungarische Dirigent Ádám Fischer. Man stelle sich vor, ein Freund Angela Merkels hätte Vergleichbares in einer deutschen Zeitung veröffentlicht – falls sich eine Zeitung dafür überhaupt fände. Guttenbergs Doktorspiele wären drittrangig neben dem Sturm des Entsetzens und der Empörung, der dem folgen würde. Ungarn aber blieb still. Antisemit Bayer bekam für frühere Veröffentlichungen noch einen bedeutenden Literaturpreis. Auf eine Entschuldigung wartet der Pianist András Schiff, dessen Familie viele Angehörige in Auschwitz verloren hat, bis heute. Stattdessen hat ein ungarisches Gericht gerade in einem Urteil dem Nazifilm Jud Süß bescheinigt, »unideologisch« zu sein. Es ging dabei um die Frage, ob es erlaubt ist, den Propagandafilm ohne wissenschaftlichen Rahmen öffentlich vorzuführen.

Schiff will in Ungarn bis auf Weiteres nicht mehr auftreten. »Ein Auftritt dort könnte für mich sehr unangenehm werden, und ich möchte nicht mit Bodyguards herumgehen«, sagt er. Was im Ungarn der Regierung Orbán vorgeht, wird an den Musikern deswegen so deutlich, weil sie, einer Übersetzung nicht bedürfend, im Ausland besonders präsent sind und ziemlich zahlreich – dank einer Geniedichte, wie sie wohl kein anderes Land der Welt hat, an der Zahl seiner gerade mal zehn Millionen Bürger gemessen. Und weil jene Musiker nicht schweigen, die ihr Erfolg unabhängig macht. Gemeinsam mit András Schiff und weiteren Künstlern und Intellektuellen wie der Philosophin Ágnes Heller und dem Filmemacher Béla Tarr hat der Dirigent Ádám Fischer, in Reaktion auf den Hetzartikel, einen Aufruf an alle Künstler der EU unterzeichnet, sich »für die Bewahrung der moralischen Grundrechte Europas« einzusetzen. Man könne diese Aufgabe »nicht allein den Regierungen überlassen«. Dass der antisemitische Kommentator Bayer noch immer Mitglied der Regierungspartei ist, nennt Fischer – auch in ungarischen Zeitungen – einen Skandal.

In Deutschland kennt man Fischer seit seinen Jahren als Generalmusikdirektor in Mannheim und dem gefeierten Ring -Dirigat in Bayreuth 2001. Fischer war bis zum vorigen September Chefdirigent an der Oper Budapest. Die neue Regierung hat nicht ihn gefeuert, sondern seinen glücklosen Intendanten durch einen linientreuen Mann ersetzt, so wie sie das auch mit vielen anderen Chefs staatlicher Einrichtungen tat: öffentlich-rechtlichen Medien, Museen, Theatern, Forschungsinstituten… Fischer, dessen innovativer Kurs ohnehin nicht gut im Haus ankam, sah nun keine Chance mehr und nahm von selbst den Hut. Der Vertrag des künstlerischen Leiters und Regisseurs Balázs Kovalik wurde schon vorher auf Geheiß der Regierung nicht verlängert.

Dabei hatte der Stil, den Kovalik hier wagte, mit Regietheater wenig zu tun. Im Mefistofele von Arrigo Boito erlebt man zirzensische Ausstattung mit Gegenwartsrequisiten, Trockeneisnebel umwallt Tangatänzerinnen, Hubpodien sind im Dauereinsatz, die Figuren sind holzschnitthaft: Der Teufel hüllt sich unterm Gelächter etlicher Opernbesucher in eine Europafahne. »Modern, aber viel zu kostenaufwändig« findet der neue Intendant Ádám Horvath, der zuvor Sänger im Ensemble des Hauses war, diese Inszenierung. Näher ist ihm ein Regisseur wie Marco Arturo Marelli, »zeitgemäß, dabei sehr ästhetisch«. Und er freut sich auf Bildmagier Achim Freyer, der den Ring gestalten soll. Redet das Ministerium, das Horváth als Intendanten einsetzte, auch bei der künstlerischen Ausrichtung mit? »Keineswegs, wir sind unabhängig! Aber wir müssen uns an das Budget halten. Daher sollte die Regie zu 60 Prozent im Rahmen bleiben.« Den er sich »traditionell im guten Sinne« denkt.

Konservativ ist der offizielle Kulturbetrieb immer gewesen. Um György Ligeti, einen der Größten des Jahrhunderts, gähnte in Ungarn zeitlebens ein »schwarzes Loch«, sagt Komponist Peter Eötvös, dessen Musik überall, nur nicht in seiner Heimat gespielt wird. Die Regierung hat weder den Traditionalismus, den Nationalismus noch den Antisemitismus erfunden und auch nicht die Gepflogenheit, wichtige Posten mit eigenen Leuten zu besetzen. »Es ist eine paternalistische Gesellschaft, das wäre mit den Sozialisten auch nicht besser geworden. Aber sie waren ängstlicher«, meint Dirigent Ádám Fischer. »Das Problem am Kopf-durch-die-Wand-Stil von Orbán ist, dass die Leute es normal finden.« Normal, dass ein Gesetz mit Gummiparagrafen die Journalisten lähmt, normal, dass öffentlich Bedienstete ohne Angabe von Gründen entlassen werden können?

»Es droht die Gefahr, dass das Land in einer nationalistischen Diktatur versinkt«, erklärte kürzlich der Dirigent Iván Fischer der FAZ . Wie sein Bruder Ádám ist er auch im Westen tätig, aber anders als dieser hat er ein Orchester in Ungarn, mit dem er auch reist. Das Budapest Festival Orchestra ist der sinfonische Botschafter des Landes, es konzertiert von Los Angeles bis Tokyo. Nach Fischers Interview wurden 17,5 Prozent der staatlichen Subventionen, bis dahin knapp vier Millionen Euro, gestrichen. Eine politische Strafe? Das will der Dirigent »nicht für möglich halten«. Dass zugleich die Ungarische Nationalphilharmonie, auf globalem Parkett kaum präsent, nun das Doppelte von dem bekommt, was Fischer gestrichen wurde, freut ihn zwar, »denn alles, was für Musik ausgegeben wird, ist hochnotwendig in Ungarn«. Aber verstört ist er schon. Anfragen bei den Behörden blieben bis heute unbeantwortet.

Er will auch weiterhin kein Blatt vor den Mund nehmen. »Entweder ist in Ungarn Meinungsfreiheit oder nicht. Dazwischen gibt es keine Grauzone. Wenn es keine Meinungsfreiheit gibt, muss man sofort weggehen.« Er hat schon einen Koffer in Berlin, wo er ab Herbst das Konzerthausorchester leitet. In Budapest geht er einstweilen davon aus, dass er sich in einer europäischen Demokratie befindet. Wobei auch er zu bedenken gibt, wie anders diese Demokratie ist. Noch immer werde es von vielen als »nationale Wunde« empfunden, dass Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg große Territorien verlor. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte eine kommunistische Diktatur; der Holocaust, an dem auch Ungarn als Täter beteiligt waren, wurde »als rein deutsche Angelegenheit betrachtet« ( Imre Kertész ). Und in der Demokratie sahen nach 1989 viele eine »postkommunistische Nomenklatura« an der Macht, die das Land ebenso ausraubte wie Ganoven aus dem Westen. Und jetzt, im Europa der offenen Grenzen, sagt Iván Fischer, »ist es schwer mitzuziehen«. Leicht entwickele sich da eine Paranoia, die Tradition hat: »Die Welt ist gegen uns.«

Mit 53 Prozent der Stimmen eroberte die konservative Fidesz-Partei im vergangenen April zwei Drittel der Sitze im Parlament, die Rechtsextremen von der »Jobbik« kamen auf 17 Prozent, die Bevölkerung ist polarisiert. Auf der einen Seite Leute wie Fischer, die Ungarn »an die westliche Welt anschließen möchten«, auf der andern jene, die das »System der nationalen Einheit« wählten. Wer aber nun an der Donau die lastende Atmosphäre einer heraufdämmernden Diktatur erwartet, findet ein Budapest, neben dem Berlin fast ein bisschen depressiv wirkt. Nächtliche Gassen, in denen man sich nicht fürchten muss. Schräge Kneipen, in denen man selbstverständlich Englisch spricht. In Oper und Konzert ein höchst gemischtes, hochintelligentes Publikum, das Iván Fischers hellwache, neugierige Interpretation von Schuberts großer C-Dur-Sinfonie enthusiastisch feiert.

»Budapest vibriert von Kultur, es ist ein Schatz von Europa, es könnte ein osteuropäisches Paris sein. Demgegenüber stehen Behörden, die das einfach nicht verstehen. Das war immer so«, sagt Fischer. »Jetzt kommt der Riesendruck dazu, den Europa ausübt, um zu sparen. Diese Kultur braucht einen Marshallplan, um gerettet zu werden. Das sage ich nicht ganz im Spaß.« Aber Hilfe, gar Nachhilfe von außen, gibt Peter Eötvös zu bedenken, hat einen sonderbaren Beigeschmack in einer Nation, die sich jahrhundertelang gegen übermächtige Herrscher definierte, gegen Tataren, Türken, Habsburger, Russen.

Gern wüsste man von Staatssekretär Géza Szöcs, zuständig für Kultur, was er von den Sorgen hält, die Ádám Fischer, András Schiff und die weiteren Unterzeichner des Aufrufs geäußert haben – gefolgt von Prominenten wie Elfriede Jelinek, Jürgen Habermas, Daniel Barenboim. Und ob der Zentralisierung des Filmbetriebs eine der Musik folgen soll. Und welche Ziele er für die Kultur verfolgt. Aber jede seiner drei Mailadressen scheint ein toter Briefkasten zu sein, während er Zeit findet, einen Filmregisseur zur Rede zu stellen. Béla Tarr, für The Turin Horse mit dem Großen Preis der Berlinale geehrt, hatte dem Tagesspiegel freimütig gesagt: »Die Regierung muss weg, nicht ich«, es gebe eine Zensur, und die staatlichen Förderzusagen seien »nur noch Klopapier«. Nach einem Telefonat mit Szöcz hat Tarr in Ungarn erklärt, er distanziere sich vom Interview, es beschmutze den Erfolg des Films. »Ich pflege auf diese Art weder zu kämpfen noch zu diskutieren.« Die Budapester Premiere des Films, für diesen Donnerstag geplant, wurde inzwischen abgesagt.

Vielleicht empfiehlt es sich dann, wieder »unter der Tischdecke« zu sprechen? »Das«, sagt Komponist Peter Eötvös, »haben wir schon in den 50ern gemacht, es entsteht automatisch, darin sind wir geübt, das ist die große Kunst des Landes.« Er lacht darüber wie über eine Familienmacke. Obwohl man Eötvös’ Musik hier nicht spielt, ist er aus Holland zurückgekehrt nach Budapest, weil er nach der Sprache hungerte, dem Theater. Es gibt hier 200 Theater. Einige stehen vor der Schließung, die anderen erhalten nach und nach neue, linientreue Chefs. Am schwersten unter Beschuss steht der Intendant des Nationaltheaters, Róbert Alföldi. Die Rechtsextremen werfen ihm im Parlament Homosexualität vor, vorm Theater demonstrieren sie gegen ihn. »Er ist wunderbar«, sagt Eötvös, »er macht Welttheater. Und er hat großen Publikumszuwachs, das schützt ihn.« Und die Medien ? »Sie sind vorsichtig…«

Vorsichtig sind hier viele, am schmerzlichsten hat das Pianist András Schiff gemerkt. Nach dem Angriff auf ihn habe in Ungarn »kein einziger Kollege laut gesagt, Moment mal, das geht zu weit. Sie sind still, weil sie Angst haben. Aber so viel Angst muss man nicht haben, es ist nicht so weit wie 1933. Schweigen ist Einverstandensein, oder?« Natürlich schweigt keiner der Budapester Musiker, die man direkt auf den Hetzartikel anspricht. »So was dürfte eine Zeitung nicht drucken«, sagt einer, versteht aber nicht, dass der Pianist sich in Budapest um seine Sicherheit sorgt: »Haben Sie hier so ein Gefühl des Antisemitismus? Im Alltag fühlen wir das nicht.« »Furchtbar« nennt ein anderer die Publikation, hält aber auch Schiffs Kritik für »unglücklich«. Und alle, die hier leben, möchten, sofern sie zitiert werden, ihre Aussagen vor dem Druck autorisieren, was nach deutschem Presserecht nur bei Wortlaut-Interviews üblich ist.

»Es kann für mich weitreichende Konsequenzen haben«, bittet ein Gesprächspartner um Verständnis für die Vorsicht. Dass man mit einer Aussage anecken kann, ohne berufliche Konsequenzen zu befürchten, denen man ausgeliefert ist – das kommt dem Besucher allmählich selbst schon vor wie ein Privileg und nicht wie europäische Normalität.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 14.03.2011

Der neue Burgherr

Eigentlich geht so was ja gar nicht, gerade jetzt. Man kann nicht zehn Monate vor einem Festival einfach mal die Musiker anrufen und anmailen, die man da am liebsten hätte, und sie fragen, ob sie noch eine Woche im Sommer frei haben, um in acht bis zwölf Stücken mitzuspielen, und zwar ohne Honorar, nur für Kost, Logis und Reisekosten. Eine Legende wie den israelischen Geiger Ivry Gitlis etwa, der noch bei Enescu Unterricht hatte und mit Lennon auftrat, oder seine gefragte junge norwegische Kollegin Vilde Frang. Oder so fantastische Leute wie den Klarinettisten Reto Bieri und den Pianisten Alexander Lonquich und noch 35 weitere, die alle längst volle Terminpläne haben.

Doch, das geht. Nicolas Altstaedt hat es ausprobiert. Ihr dürft spielen, was ihr schon immer spielen wolltet, hat er ihnen gesagt, wenn wir die Besetzung zusammenkriegen. Und fast alle willigten ein. Man muss dazu sagen, dass dieser junge Cellist sie für ein Festival angerufen hat, das schon seit 30 Jahren auf etwa dieser Basis funktioniert. Das Kammermusikfest im burgenländischen Lockenhaus ist geradezu legendär. Allsommerlich hat Gidon Kremer, weltoffenster unter den Weltklassegeigern, Musiker auf die märchenschöne Trutzburg an der ungarischen Grenze geholt und dort nach Lage und Laune spontan Programme gebastelt. Wer sich Karten sichert, weiß nie, wofür.

Doch im vergangenen Jahr nahm Kremer seinen Abschied als Burgherr. Vielen in der Gemeinde, der ansässigen, die das Fest mitträgt, und der aus aller Welt angereisten, trieb das die Tränen in die Augen. Charismatiker Kremer hatte das Fest ohne Frack durch alle Krisen geführt, ihm blieben die Leute treu, Musiker wie Hörer. Wer, in aller Welt, kann Kremer ersetzen? Der Geiger empfahl einen Cellisten, 35 Jahre jünger als er selbst. Nicolas Altstaedt, völlig überrascht, sagte zu, er fühlte sich beschenkt. »Es gibt nichts Einfacheres«, sagt er, »als Nachfolger von Kremer zu sein, denn er ist so eine exzeptionelle Persönlichkeit, dass er völlig außer Konkurrenz ist. Ich steh sowieso in seinem Schatten.«

Es hat ihn aber doch erstaunt, wie hilfreich Kremers Vertrauen, wie stark das Zauberwort »Lockenhaus« ist, um Kollegen zu gewinnen. »Ich mach mir eigentlich gar keine Sorgen«, erklärt Altstaedt jetzt, ein T-Shirt-Tramp, der auch selbst mitspielen wird. Wer ist dieser gut gelaunte Typ in Kremers Schatten? Dass ein 30-Jähriger, der innerhalb eines Monats in Verona, Istanbul, Madrid, Wien, New York und Berlin auftritt, mehr als eine Tonleiter spielen kann, darf vorausgesetzt werden. Eher müsste man befürchten, er sei einer dieser jungen Jetsetter, die überall dieselben drei, vier Stücke abliefern, von großen Labels auf die Rampe gedrückt. Nur wäre so einer in Lockenhaus ganz falsch.

Auffällig wurde Altstaedt spätestens, als er mit 23 Jah- ren den Deutschen Musikwettbewerb gewann. Aufsässig wurde er, als ein großes Label ihn unter Vertrag nehmen wollte. »Die waren nicht an mir interessiert, sondern an Verkaufszahlen. Ich hätte eine CD mit Zugabenhäppchen machen sollen. Ich hatte Chopins Cellosonate vorgeschlagen, da wurde mir gesagt, dass die nicht geeignet wäre, weil der erste Satz zehn Minuten dauert und das die Leute überfordert. Da sitzen Verkaufsleute, die BWL studiert haben. Das hat keine Zukunft. Durch solche CDs vertreiben sie das Publikum, aber man kann sich dagegen wehren. Man darf das Publikum eben nicht unterfordern.«

Er weist auf die vielen Neugründungen ambitionierter Labels hin. Dass selbst das renommierte Hagen Quartett von der Deutschen Grammophon zum kleinen Label Myrius wechselte, zeigt ihm: »Die brauchen das nicht mehr. Die Zeit der Majors ist vorbei.« Seit er in Madrid 800 überwiegend junge Leute mit lauter Ligeti begeisterte, ist er sicher: »Die klassische Musik ist was Existenzielles, Teil von uns. Das kann nicht zugrunde gehn. Wenn das zugrunde geht, sterben wir Menschen aus.« Er selbst hat statt der Häppchen eine Herzensangelegenheit realisiert und beim Label Genuin Stücke von Robert Schumann mit solchen von Wilhelm Killmayer kombiniert. Kein Bestseller, dafür aber ein Kleinod.

Das Cello begeisterte diesen Musiker, dessen Vater »ein bisschen Cello und Klavier« spielt, als Fünfjährigen. Da durfte er sich aus der Plattensammlung seiner Eltern bedienen und stieß auf Rostropowitsch mit dem Ersten Cellokonzert von Schostakowitsch. »Das habe ich den ganzen Tag gehört. Jedes Kind ist neugierig, und vielleicht käme jedes zur klassischen Musik, wenn man ihm die Gelegenheit gäbe.« Den Jungen faszinierten dann die Musikfeste im heimischen Gütersloh, er hörte Henze, Kagel, Ligeti; sein erster Lehrer hingegen war Barockcellist. Später folgten so unterschiedliche und berühmte Meister wie Anner Bylsma, David Geringas, Heinrich Schiff und Boris Pergamenschikow.

Eine zentrale Gestalt ist für ihn Nikolaus Harnoncourt. Dem Dirigenten ist er nachgereist zu Proben und Konzerten. »Er ist undogmatisch. Er fragt: Was hat der Komponist im Kopf, wie ist die Struktur, was steht dahinter? Da geht’s nicht um 30 Zentimeter Länge für einen Bogenstrich.« All das hört man auch, wenn Altstaedt Haydn spielt. Auftrumpfen, großer Ton, fette Akkorde, irgendwo hinten schrammelt der Tross – so ist Haydns Cellokonzert C-Dur noch oft zu hören. Bei diesem Solisten und der Kammerakademie Potsdam erlebt man auf der CD stattdessen intelligente Dialoge, das federt und spricht mitreißend, wie eben erst geschrieben, und die Kadenzen zeugen von Altstaedts Witz.

Man ahnt, warum Kremer so einen 2005 zum Mitspielen nach Lockenhaus holte und ihm nun gar die ganze Oase anvertraut hat. Was plant Altstaedt unter dem Motto »Metamorphosen«, den Wünschen seiner Mitspieler folgend? Die Fünfzehnte von Schostakowitsch zum Beispiel – bearbeitet für zwei Klaviere und Schlagzeug. Sándor Veress, ein vergessenes Genie der ungarischen Musik, soll neu entdeckt werden. Und weil Ungarn gleich nebenan liegt, kommen von dort auch acht Tänzer des Nationalballetts, um Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen choreografisch zu deuten. Für andere Werke tun sich alle Solisten zum Kammerorchester zusammen.

Um die Nachfrage macht sich Nicolas Altstaedt keine Sorgen. »Junge Leute ziehen junge an«, meint er, und jeder Künstler bringe sein Publikum mit. Insgesamt geben er und seine rund 40 Kollegen fünfzehn Konzerte in einer Woche. Das entspreche, meint Altstaedt, ihrem »Freiheitsdrang«. Und wer erlebt hat, wie es da ist, oben im Burgsaal mit Blick über die Berge oder unten in der Barockkirche, und wie opulent die Lockenhauser ihre Künstler verpflegen, wie familiär sich im Städtchen Musiker und Hörer mischen, der weiß, dass dieser Gegenentwurf zum Starbetrieb nicht mit Entbehrungen erkauft wird. Der berühmteste Gast dieses Jahres sagte trotzdem nur unter einer Bedingung zu: Er bleibt bis kurz vor Schluss geheim.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 03.07.2012

Treibhausblumen, früh gepflückt

Sieger und Vernichtete beim “Concours Reine Elisabeth”, dem wichtigsten Geigenwettbewerb der Welt

Um 21 Uhr ahnt Oleg Kaskiv, dass es mitten in Europa noch rituelle Menschenopfer gibt. Und dass er eines von ihnen werden könnte. Seine linke Hand ist fest geworden. Das kann jedem mal passieren, ist aber ungünstig, wenn man gerade den fingerbrecherischen Solopart der Symphonie Espagnole von Edouard Lalo spielt. Erst recht, wenn die belgische Königin zuhört und weitere 2000 Anwesende, ganz abgesehen von den Tausenden, die an Radios und Fernsehgeräten den immer noch wichtigsten Geigenwettbewerb der Welt verfolgen, den Concours musical international Reine Elisabeth de Belgique

wenn man einer von 12 Finalisten ist und hinter einem das Nationalorchester brodelt.

Man kann in so einem Moment nicht sagen: “Sorry, meine Hand will im Moment nicht, wir machen in zehn Minuten weiter”, wie bei einer Plattenaufnahme.

Dafür hat Kaskiv nicht seit dem sechsten Lebensjahr bei den Eltern, auf Spezialschulen, schließlich bei Meistern das Geigen erlernt. Es muss also gehen.

Der 23-jährige Ukrainer hat die Noten tausendmal geübt. Und nicht nur die von Lalo, sondern auch drei Paganini-Capricen, Solosonaten von Bach und Bloch und Ysaÿe, Virtuoses von Szymanowsky, Sarasate und Bartók, ein Violinkonzert von Bruch, eins von Mozart, eine Sonate von Mendelssohn und zwei frisch komponierte Pflichtstücke, von denen das Schwierigere erst eine Woche vorm Finale überreicht wurde. So viel wird verlangt beim Concours Reine Elisabeth.

Und das alles ist gut gegangen. Wer es bis hier geschafft hat, in die letzte Runde nach vier Wochen Dauerstress, kann sicher sein, dass der Rest des Geigerlebens nicht mehr anstrengender wird, und ist quasi weltraumtauglich.

Doch für manche wird es genau jetzt zu viel, nicht nur der Muskeln wegen. Sie spüren plötzlich einen Druck, den sie bis dahin ignorieren konnten.

Bizarre Lanzenstechereien

Kaskivs Verhängnis an diesem Abend reicht eigentlich zurück bis in die Antike, als der Satyr Marsyas, ein Flötist, den Leierspieler Apollo zum musikalischen Wettstreit forderte. Der Sieger sollte mit dem Verlierer nach Belieben verfahren dürfen. Beide waren ebenbürtig – aber Apollo gewann. Dann hängte er den Verlierer an eine Pinie und zog ihm die Haut ab. Damals diente die Musik auch der Rivalenvernichtung. Von allen Künsten ist sie dem Unterbewussten am nächsten, und etwas von der alten Gewalttätigkeit, der Wahl der Waffen und von Circus maximus glüht noch in jedem Interpretenwettbewerb.

Entscheidend ist nicht, ob die Nachwelt den Lorbeer bestätigt oder belächelt.

Entscheidend ist die Manege.

Unter dem Lächeln der Königin Fabiola oben auf dem Balkon drängt sich ein Publikum wie einst zu Ritterspielen. Gehobenes Bürgertum, steinalter und steinreicher Adel, Greisinnen in pastellfarben wehendem Chiffon mit Raubvogelköpfen unter hoher Frisur, junge Göttinen in Haute Couture, Herren im Maßanzug, dazwischen Agenten, Geigenbauer, Kritiker, Besessene. Eine Reihe verschwiegener Gestalten bleibt auf Distanz. Stets betreten sie als Letzte vor der Königin unter Applaus den Saal. Das sind die Killer. So hat der Geiger Isaac Stern, selbst oft einer von ihnen, die Jurymitglieder in Brüssel genannt. Es sind alles nette, ältere Prominente, aber sie fällen nun mal die Urteile. 67 von 79 Kandidaten haben sie bereits fortgeschickt. Traf es die Richtigen? Es wäre peinlich, ein Genie zu übersehen, so etwas hat anderswo schon zu Skandalen geführt. Außerdem hat der Reine Elisabeth 50 Jahre nach seiner Gründung einen Ruf zu verteidigen gegen rund 40 weitere Wettbewerbe für Geiger, die zum Teil doppelt so hoch dotiert sind: In Hannover und Indianapolis werden dem Sieger 50 000 Mark überreicht. Und obwohl in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Wettbewerbe ausgeschrieben wurden, wirken sie zunehmend wie ein Anachronismus. Auf welchen ästhetischen Kanon beruft sich eine Jury in so pluralistisch entgrenzten Zeiten? Werden hier nicht eher darwinistische Gelüste ausgelebt als musikalische Wonnen ausgekostet? Junge Talente verformt? Letzteres befürchtete schon 1904 der Geiger Eugène Ysaÿe.

Die Vorbereitung junger Musiker auf Wettbewerbe, schrieb er, “unterdrückt ihr künstlerisches Interesse und führt zu bizarren Lanzenstechereien. Wie Treibhausblumen werden sie unter Glas gehegt und zu früh gepflückt.” Was diesen Geschöpfen später bleibe, sei ein seltsames Aroma, “unreif und unnatürlich”.

Dennoch half er 20 Jahre später der belgischen Königin Elisabeth bei der Vorbereitung eines Wettbewerbs, den er nicht mehr erlebte, aber mit seinem Namen ehrte. Der Ysaÿe in Brüssel, Vorläufer des Reine Elisabeth, fand 1937 statt. Nicht geigerische Lehrmeinungen sollten den Ausschlag geben, sondern das, was die Kandidaten persönlich zu bieten hatten. Die andere Legende ist Elisabeth selbst, die belgische Königin, die noch bis 1965 das besondere Air der zwanziger Jahre in Belgien verkörperte, eine märchenhafte, mädchenhafte Gestalt unter weißem Hut, selbst Violine spielend. Sie machte nach dem Krieg ihren Ysaÿe zum Concours Reine Elisabeth, zu dem im Wechsel Geiger und Pianisten kamen. Unter ihnen waren in der ersten Dekaden so viele geniale Sowjets, dass die Amerikaner zwar den Mond betreten konnten, in Brüssel aber keinen Fuß mehr auf das Siegerpodest bekamen. Von 1978 bis 1987 schickte Moskau dann keine Musiker mehr nach Westen – zu viele Preisträger waren gleich dort geblieben.

Unterm Strich verläuft das Gefälle weniger zwischen West und Ost als zwischen Geige und Klavier. Immer wieder haben die Tastenhengste den Bogenfechtern die Schau gestohlen. Fleisher, Ashkenazy, Afanassiew, Ax, Leonskaja, Uchida – solche Namen finden sich da unter den Klavierfinalisten. Ihren Rang und Ruhm erreichen bei den Geigern eigentlich nur Leonid Kogan, Vadim Repin, Gidon Kremer, der 1967 Dritter wurde, und David Oistrach, der noch als Legende über Brüssel schimmert. Sein Sohn Igor, Mitglied der Jury, 70 Jahre alt und alles andere als ein Killertyp, hält Wettbewerbe nach wie vor “für die vernünftigste Art, Talent zu entdecken”. Obwohl die PR-Strategen der Klassikindustrie sich schon lange nicht mehr für die Siegerlisten der großen Wettbewerbe interessieren und sich ihre eigenen Startypen und Wunderkind-Models erschaffen. Und Ausnahmetalente wie Anne-Sophie Mutter, Christian Tetzlaff oder Joshua Bell haben Karriere gemacht, ohne sich internationalen Turnieren zu stellen.

Mozart wie aus der Waschanlage

In Brüssel gehen den sechs vierstündigen Finalkonzerten eine rund 80-stündige Erstauswahl voraus und 36 Stunden Halbfinale. Das führt den Gast, noch fern von Glamour, in die behäbige Welt des Konservatoriums, in die Grande Salle von 1876, wo im Publikum die Musikenthusiasten und die älteren Bildungsbürger dominieren, in deren Wohnungen die Kandidaten leben, und wo schrullige Künstler auf dem Skizzenblock die Silhouetten der Geiger festzuhalten versuchen. Hier durchschwitzt und begleitet das Königlich Wallonische Kammerorchester in sechs Tagen 24 Halbfinalisten bei Mozart. Das hält auf die Dauer nicht mal Mozart aus. Er nutzt sich ab, während das Orchester seine Partituren wie auf einer Galeere durchrudert. Aber seine Schrecknisse für jeden Solisten bleiben ungebrochen: Mozart kann man nicht beherrschen. Üben genügt da nicht. Er verlangt eher Dialogpartner als Darsteller, und man hört, auf welch anderes Verständnis die meisten Geiger von ihren Lehrern getrimmt werden: Vor allem muss die Technik sitzen, dann wird noch großer Ton gemacht.

Mit dickem Vibrato, ohne Rücksicht auf Struktur und Orchester. Mozarts Soloparts klingen da oft, als kämen sie aus der Autowaschanlage, glänzend und geistlos.

Alle Noten zu spielen reicht nicht

Die Juroren reagieren darauf ganz unterschiedlich. Augustin Dumay, der wunderbare Mozartspieler, sitzt reglos und steil aufgerichtet. Franco Gulli, 64jähriger Gründer der Virtuosi di Roma, unterzieht Schläfen, Nasenwurzel und Stirn einer gründlichen Massage. Ruggiero Ricci, 82 Jahre alt, guckt grimmig wie immer, Igor Oistrach stützt sich eisern auf den Tisch. Warum nur lassen die 13 Richter eine der wenigen gewitzteren Mozartspielerinnen an einer winzigen Gedächtnislücke scheitern, während Kampfsportler durchkommen? Dazu möchte sich der Juryvorsitzende Arie van Lysebeth nur andeutungsweise äußern: “Einige von den Juroren können sich nicht mit neuen Entwicklungen abfinden.

Ihre Schule ist eine idée fixe.”

Er träumt davon, dass in Brüssel auch die Entwicklungen der Alte-Musik-Szene Wirkung zeigen. Doch die Erfolge der historisch kundigen Interpreten und Tatsachen wie die, dass noch Joseph Joachim Werke seines Freundes Brahms ohne Vibrato eingespielt hat – all das geht an den Talentschmieden von New York bis Tokyo vorbei. Sie erziehen Kämpfer. “Was glauben Sie”, sagt Oistrach, “warum sich keiner das Beethovenkonzert für das Finale aussucht? Weil es sich nicht zum Kämpfen eignet. Es ist zu friedlich. Immer wenn es jemand versucht, wird es ein Fiasko.” Aber vorm Fiasko ist man auch auf einem Schlachtross der Konzertliteratur nicht gefeit. Wie im Finale zu erleben ist, abends im schönen Palais des Beaux-Arts.

Dort hat Oleg Kaskiv den zweiten Satz Lalo hinter sich. Es klang nicht wie “scherzando”. Er ist blass, und drei weitere Sätze stehen ihm bevor. Das Orchester setzt wuchtige Ausrufezeichen. Erneut wischt er die linke Hand am auberginefarbenen Seidenhemd trocken. Er muss im Intermezzo herrische Gesten und andalusisch sprudelnde Triolenläufe hinlegen. Er spielt auch alle Noten, aber mehr nicht. Der Orchesterschlussakkord schlägt ein wie ein Messer neben einem Gefesselten. Im Andante kann sich der Geiger erholen. Und nachdenken.

Nach diesem Satz lässt er die Geige sinken, flüstert dem Dirigenten etwas zu und geht von der Bühne. Offiziell wird es später heißen, er habe seinen defekten Bogen austauschen müssen. Der Dirigent Gilbert Varga eilt ihm nach.

Gemurmel. In den Logen der Fernsehkommentatoren kommt Unruhe auf. Wie soll man dem Publikum der Live-Übertragung erklären, was hier geschieht? Da kommt Oleg Kaskiv zurück, um sich dem letzten Satz zu stellen. Der könnte statt Rondo allegro ebenso gut Salto mortale heißen. Hier gibt es Passagen, die technisch dem Sprung aus einem rasenden Achterbahnwagen in den andern ähneln, wobei noch Luft für kleine, triumphierende Gesänge bleiben sollte. Man muss vom Geigen nichts verstehen, um von diesem Wahnwitz gebannt zu sein. Alles ist Manege, das Orchester brüllt wie eine Horde von Löwen. Auf solche finalen Situationen reagieren die Kandidaten ganz unterschiedlich. Es gibt die Augen-zu-und-durch-Methode, die beim begleitenden Orchester nicht sehr beliebt ist, und die Ich-bin-sowieso-ein-Star-Methode. Es gibt auch Spieler wie Kaskiv, die vielleicht zu genau wahrnehmen, was hier vorgeht.

Und es gibt Wesen wie nicht ganz von dieser Welt. Da betritt ein Mädchen den Saal, schreitet wie über Wellen und spielt Tschaikowskij so reflektiert und raffiniert, so analytisch und eindringlich, dass alle wilden Tiere in dieser Manege zahm werden, das Orchester, die Zuhörer, die Killer. Anstatt sich mit Kraft ins Virtuose zu stürzen, führt sie Dialoge mit der Klarinette, nimmt sich Zeit für sonst übersehene Details, schwebt zwischen Versenkung und, kaum zu fassen, einer fernen Ironie mitten in der Perfektion. Sie heißt Baiba Skride, ist 20 Jahre alt, kommt aus Lettland und gewinnt den ersten Preis.

Bei ihrem Auftritt, am selben Abend nach Kaskiv, vergisst man fast, dass dieses Arenaspektakel vor allem von den Opfern lebt, von all denen, die auf der Strecke bleiben. Dass so ein Wettbewerb zwar nach außen hin ein Forum für Talente ist, aber in Wahrheit sich selbst genügt und den Höhenflug umso lieber feiert, je tiefer der Abgrund darunter ist.

Wie tief der sein kann, hat Oleg Kaskin erlebt, als er den Faden verlor.

Immer wilder mussten seine Finger durch Lalos Finale jagen, immer mühseliger ist es gegangen. Plötzlich hängt der Bogen in der Luft, der Geiger späht in die Partitur des Dirigenten, sucht endlose Sekunden lang die Stelle, sucht mit dem Bogen, was der Kopf vergaß, die millionenteure Geige gibt Pfeifgeräusche von sich. Da erklingt eine glasklare Oktavkette. Er ist wieder drin. Aber man merkt, während die Finger weiterhasten, wie die gewaltige, unsichtbare Wunde blutet. Während das Orchester Fanfaren spielt, liegt der junge Ritter, den sie feiern, neben der Bahn und stammelt letzte Worte. Alles halb so wild, werden sie später zu Oleg Kaskiv sagen, du lebst doch noch.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 07.06.2001