Kategorie-Archiv: Reportagen

Erkenne dich selbst

Nur 55 Kilometer liegen zwischen Bratislava und Wien. Und doch trennt noch etwas wie ein Eiserner Vorhang die Slowakei von der EU. Die Menschen müssen erst lernen, wer sie sein wollen. Der Pantomime Milan Sládek zeigt ihnen, wie das geht

Es riecht nach Feuer am südlichen Ufer der Donau. Holzfeuer in eisiger Kälte, minus fünf Grad in Bratislava. Der Geruch kommt aus einem alten Brückenhaus mit leeren Fensterhöhlen, zur Renovierung eingerüstet. Da liegen in einer Schubkarre die Scheite und brennen munter vor sich hin. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Über die alte Eisenbrücke braust ab und an ein Auto. Vom Damm führt eine rutschige Treppe herunter zum kleinen Theater. Zwölf Katzen drängen sich in das bisschen Wärme, das durch den Künstlereingang nach draußen dringt. Ab und zu stellt ihnen der Chef persönlich etwas Futter hin. Er kümmert sich hier um alles. Er verhandelt mit Behörden, beaufsichtigt Handwerker, leitet Proben, macht Tee. Und abends steht der Pantomime auf der Bühne.

Dann ist Milan Sládek der König Ubu, der Grand Pierrot oder Carmen. Eine wüste Carmen ohne Worte, mit behaarten Beinen und Pappbrüsten, die einen völlig verschüchterten weiblichen Don José anbalzt, kokett die Augenbrauen hochzieht, die Brüste schleudert und mit gefräßigem Lächeln aus einer Karikatur einen Archetypus macht, das Vollweib schlechthin, eine Überspanierin.

Milan Sládek hat das Stück aus Köln mitgebracht. Es war einmal sein Kommentar zur Carmen-Manie der Westdeutschen in den Achtzigern, vermischt mit Anregungen aus dem japanischen Volkstheater. Aber diese Carmen versteht man auch in Bratislava, mit dem Unterschied, dass die Leute sich hier im Theater beherrschen. “Sie klatschen lange”, sagt der Pantomime, “aber sie trauen sich nicht zu lachen.” – “Was machen Sie da eigentlich?”, hat ihn neulich ein Taxifahrer gefragt. “Ich kann mir das gar nicht vorstellen.” – “Kommen Sie doch einfach”, sagte der 63-Jährige und lud ihn ein. Der Taxifahrer kam tatsächlich. Er brachte seine Freundin mit. “Zufällig hat er mich heute wieder gefahren”, sagt Sládek, “er wollte kein Geld nehmen. Der Abend hat ihm sehr gefallen. Er will wiederkommen.”

Das Theater – ein Lkw-Schuppen

Auf diese Weise wächst das DivadloAréna, das Theater Arena am Südufer der Donau, allmählich mit der 450 000-Einwohner-Stadt zusammen, deren Zentrum am andern Ufer liegt, die Stadt, aus der Sládek 1968 vertrieben wurde und in die er zurückgekehrt ist, Bratislava, seit acht Jahren Regierungssitz der neuen Slowakischen Republik und früher einmal ein Juwel unter den Städten der habsburgischen Donaumonarchie. Ihr Herz ist da drüben, vom Theater 15 Fußminuten, wenn man die Donau auf der Eisenbrücke überquert. Da sieht man das alte Bratislava liegen, schneebedeckt, reich an Türmen und Giebeln, umfangen von Ausläufern der Karpaten. In Dunst entrückt sind die grauen Plattenbauten und die blanken Einkaufscenter. Eine weltferne Stille liegt über der Stadt, nur 55 Kilometer von Wien entfernt.

Westlich vom Herzen sitzt auf dem Berg die alte Burg, der breitschultrige, viertürmige Hrad, und ihm stemmt sich vom andern Ufer ein sozialistischer Stahlbau entgegen. Zwei gewaltige Stahlschenkel mit einem ufoartigen Rundkopf oben, an Seilen eine Brücke haltend. Es sieht aus, als zerre diese Konstruktion am Uferfuß der Burg, ein erstarrter Kampf versunkener Mächte.

Eine dieser Mächte hat den Pantomimen groß werden lassen und dann verjagt – der Warschauer Pakt. Sládek kam in der slowakischen Provinz zur Welt, in einer Arbeiterfamilie, die Sinn für Kunst hatte: “Meine Mutter hat heimlich gemalt.” Er zog nach Bratislava an die Kunstfachschule und zeichnete die Bäume und Bänke in ebendem Park, in dem das kleine Theater mit den zwei Türmchen steht. Von der bildenden Kunst kam er zum Schauspiel, von dort zur Pantomime. Er war erfolgreich in der Tschechoslowakei, er und seine Truppe durften reisen. Aber während sie in Bulgarien spielten, 1968, wurde der Prager Frühling gewaltsam beendet. Sládeks wortlose Kunst passte nicht zum Sozialistischen Realismus. Man schloss sein Theaterstudio und erklärte den Pantomimen zur unerwünschten Person.

Er schaffte den Neubeginn in Deutschland. Sein Theater Kefka in Köln wurde berühmt. Dann kam 1991 der Anruf aus Bratislava. Ein alter Freund war am Apparat, erklärte, er sei jetzt Parlamentspräsident der im Entstehen begriffenen Slowakischen Republik und fragte, ob Sládek nicht helfen wolle beim Neuaufbau des Theaters, in dem einst auch Max Reinhardt gespielt hatte. Sládek fuhr hin und sah sich um.

Das Theatergebäude war heruntergekommen, “ein Schuppen”, sagten die Leute. Teile des Daches fehlten. In den Zuschauerraum war ein Zwischengeschoss gestemmt worden, zu dem über eine Rampe Lkw fuhren; das staatliche Fernsehen der Tschechoslowakei hatte den Bau als Lagerhalle benutzt. Aber noch schlimmer sah die Stadt aus, in der Sládek zum Künstler geworden war. Historische Bauten aus allen Epochen waren verrottet, die Weinstuben geschlossen, das jüdische Viertel nebst Synagoge geschleift. “Ich dachte, ich träume”, sagt Sládek. Er klingt dabei eher erstaunt als erzürnt. “Wie konnte so etwas erlaubt sein? Was wird hier mit mir geschehen?” Aber er zog hin. Sammelte drei Millionen Mark für die Renovierung, kämpfte und kämpft um neues Publikum.

“Hier kommt meistens zuerst die Nation. Das ist zu abstrakt. Zuerst komme ich doch!” Er breitet lächelnd die Hände und Arme von der Brust her aus, nicht, weil er sich so großartig fände, sondern weil er zeigen möchte, was die Leute von der Pantomime lernen könnten: Das Zentrum in sich fühlen. “Sich selbst anerkennen, sich auf sich besinnen. Viele haben noch Angst, ihre Meinung zu äußern.” Aber das macht ihn nicht ungeduldig. “Auch Deutschland brauchte Zeit, um sich zu sortieren. Aber von den postkommunistischen Ländern erwartet man, dass alles ganz schnell geht. Die Leute müssen doch erst mal verstehen, warum sie selbst Verantwortung übernehmen sollen.” Er will hier nicht den Emigranten geben, der alles besser weiß. “Jeder muss Amerika selbst entdecken.”

Das tun die Leute hier vorerst aber ganz woanders. Hinter dem Park, in dem das Theater seit Ende des 19. Jahrhunderts steht, erhebt sich gleißend ein Einkaufsklotz nach amerikanischem Vorbild. Mit Rolltreppen, Springbrunnen und Markenartikeln, die für die meisten unbezahlbar sind. Ein Orchestermusiker verdient an der Slowakischen Philharmonie nur 10 000 Kronen im Monat – rund 250 Euro.

Den Bruch zwischen alter und neuer Zeit bemerkt man schon an der verschneiten Landesgrenze dicht vor der Stadt. Hier ist die Geschichte festgefroren. Der Bus Nummer 1195 aus Wien-Schwechat muss warten. Junge Beamtinnen mit unbeweglichen Gesichtern sammeln zweimal wortlos die Pässe zur Kontrolle ein. Die kann eine Stunde dauern oder länger. Der Rand der Europäischen Union trägt Züge des Eisernen Vorhangs. Doch gleich dahinter verweisen große Plakate auf Ikea, Carrefour, McDonald’s.

Der alte Bus durchquert auf breiten Pisten eine Plattenbautensiedlung, rumpelt über den Fluss, an Hafenanlagen und Raffinerien vorbei, und noch deutet wenig darauf hin, dass er sich einem alten Herzstück des europäischen Kontinents nähert. Einer Altstadt, die mit erstaunlichem Tempo ihre Wunden schließt. Die Kirchen, Barockpalazzi, Jugendstilfassaden, Mittelaltermauern, winkligen Kopfsteingassen, lauschigen Plätze sind nicht glatt zum touristischen Legoland renoviert worden, sie zeigen Spuren und Leben. Noch bröckelt manches und birgt doch neue oder wieder eröffnete Läden, Cafés, Restaurants. Der Marktplatz ist bis in die Nacht belebt. Man beißt in würzige Würstchen und schlürft Glühwein. Und vom Durcheinander der Zeitläufte scheinen selbst die Uhren sanft erfasst zu sein. Es ist nicht leicht, in Bratislava oder Pressburg ganz pünktlich zu einer Verabredung zu kommen, denn jedes öffentliche Chronometer zeigt, wenn auch nur mit ein paar Minuten Spielraum, seine ganz persönliche Zeit. Nicht mal die Bahnhofsuhrzeiger springen synchron zum nächsten Strich.

Peter Roller betrachtet die Zeit auf seine Weise. Er wohnt im Jugendstilviertel hinterm Burgberg, seitdem er in diesem Stadtteil vor 53 Jahren zur Welt kam. Ein sanfter, ruhiger, bärtiger Typ, ein Bildhauer, Grafiker, Maler. Er hat ein Blatt gemacht, halb Zeichnung, halb Relief, mit dem Titel Die festgehaltene Zeit. Man sieht da auf hellrosafarbenem Hintergrund eine stilisierte Fassade mit Treppengiebel. Ein Papierband läuft quer darüber und scheint das Haus, oder diese Idee eines alten Hauses, halb zu halten, halb zu fesseln. Aber die Entsprechung zwischen dem Titel und dem, was man sieht, wird ins Schweben gebracht durch die unberechenbare Struktur des Hintergrunds, durch einen rätselhaften dunkelrosafarbenen Streifen am unteren Rand. Man lässt sich davon gern ins Denken bringen.

Als Peter Roller vier Jahre alt war und auf dem Stalinplatz spazierengeführt wurde, pinkelte er an die Stalinstatue. “Das war”, sagt seine Frau Magda, “der Beginn seiner Laufbahn als Bildhauer.” Mittlerweile wird seine Kunst in vielen Ländern ausgestellt, sogar jenseits des Atlantiks. Und wenige der rund 2000 Künstler in Bratislava haben wie Roller das Glück, von einer Lehrtätigkeit leben zu können. Hier, wo manche Galerien von den Künstlern sogar Geld verlangen, wenn sie ausgestellt werden wollen, sind Sponsoren besonders wichtig, etwa die örtliche Siemens-Niederlassung. Dort hängen auch Rollers abgründig subtile Studien zum Thema Zeit – gleich neben dem Schulungsraum, wo junge Slowaken an weißen Tischen das Geschäftsenglisch der Gegenwart lernen.

Klugheit in lächerlicher Verkleidung

Mutants! hat jemand mit schwarzer Farbe auf die Stahlbrücke gesprayt, von der eine Schnellstraße zwischen Burgberg und Krönungskirche durch die Altstadt schneidet. Für diese Piste wurde noch um 1970 das jüdische Viertel nebst Synagoge planiert, drei Jahrzehnte nach der Ermordung von 60 000 slowakischen Juden unter dem Hitler-treuen katholischen Regime des Jozef Tiso. Nach diesem Teil der Geschichte ist lange nicht gefragt worden. Vor zehn Jahren fand bei einer Umfrage ein Drittel der Bevölkerung, “die Juden” seien “eine Gefahr für die politische Entwicklung”. Woher kommt solche Verbohrtheit heute mitten in Europa? “Weil das hier so Sitte ist”, sagt Selma Steiner sarkastisch.

Vor 76 Jahren wurde sie hier als Tochter des Buchhändlers Siegfried Steiner geboren und musste, nach bildungsbürgerlich glücklicher Kindheit, erleben, wie das Geschäft “arisiert”, ihre Eltern und Brüder in Vernichtungslager deportiert wurden. Sie selbst überlebte das KZ Theresienstadt. Dann enteigneten die Kommunisten die Familie zum zweiten Mal und verkauften in der Buchhandlung Stalin-Büsten.

Es zeugt von der Energie der Selma Steiner, dass sie vor zehn Jahren genau dieses Geschäft wieder eröffnete. Im alten Haus an der Venturska, der Ventursgasse, wo ihre Vorfahren das Geschäft im Jahre 1847 gegründet haben. Das Antikvariát Steiner läuft mittlerweile so gut, dass seine Chefin auch Bücher herausgeben und sponsern kann. Eines handelt von ihrer Familie und machte sie bekannt. Journalisten kamen, auf deren Zunft sie schlecht zu sprechen ist. Man habe sie da zum “Paradejüdin” gemacht, meint sie, in einer Zeitung stand geschrieben: “Sie strahlt vor Glück.” – “Ich strahle nicht vor Glück!”, ruft sie zornig. In ihrer kleinen Wohnung im vierten Stock eines Mietshauses stellt sie, während nebenher der Fernseher läuft, mal grundsätzlich ein paar Sachen klar.

Erstens hielt sie zwar nicht viel vom Kommunismus, aber das staatliche Antiquariat, in dem sie arbeitete, sei besser gewesen als die westliche Konkurrenz. Zweitens findet sie, dass die Stadt schöner geworden ist, das soziale Klima aber schlechter. Sauer ist sie auf “Leute, die glauben, sie dürften sich alles erlauben, weil sie Geld haben”. Diese neuen Reichen mag sie nicht. Drittens hat ihr später Ruhm ihr nicht nur Bewunderer eingebracht, sondern auch Schmierereien von Neonazis am Schaufenster. Trotzdem: “Diese zehn Jahre sind für meine Seele. Man muss, mit Verlaub, zeigen, dass man kein Dreck im Gras ist. Dass ich das Geschäft eröffnet habe, war ich meiner Familie schuldig. Ich hab mich vor zehn Jahren wahnsinnig jung gefühlt.”

Aus der 76-Jährigen mit dem Blick einer weitaus Jüngeren funkelt nicht einfach Selbstbewusstsein. Es ist ein europäischer Geist, eine im 19. Jahrhundert wurzelnde bürgerliche Identität, ein kulturelles Dasein, das westlichere Europäer bestenfalls noch aus Büchern kennen. Sie spricht drei Sprachen fließend, wie vor dem Krieg fast jeder hier: Deutsch, Slowakisch, Ungarisch.

So viele Sprachen, so viele Mächte haben an dieser Stadt gezerrt. Pozsony, Krönungsstadt der Ungarn. Pressburg, die Stadt, in der sich die Habsburger aus Wien zu ungarischen Königen salben ließen. Bratislava, Hauptstadt einer Tschechoslowakischen Republik nach dem Ersten Weltkrieg und dann einer faschistischen Slowakei, Industriestadt in der ŸSSR, 1993 die “Scheidung” von Tschechien. So übersichtlich die Stadt dazuliegen scheint, hinter der sich, etwas größer als die Schweiz, die Slowakei nach Osten erstreckt, so dicht überlagern sich die Zeiten. Der Stolz der Selma Steiner, die Ruhe des Peter Roller, die Hoffnung des Milan Sládek, so viele Verluste, Aussichten, Spuren und Zeichen, die Geister in den Mauern, dabei dieses Entgegenkommen, die eigentümliche Geborgenheit im Provisorischen …

In diesem Magnetfeld ist man reif für einen Kaffee, wie ihn nur Milan Sládek in seinem Arbeitszimmer an der Donau serviert. Ein Kaffee als Antwort auf die Frage, was man denn in seiner Kunst zuerst lernen muss. Er denkt kurz nach, rührt im Kaffee, schnuppert, trinkt. In seiner Hand befindet sich keine Tasse. Doch Sládeks Besucher nimmt ihre Größe und ihre Wärme wahr, als hielte er sie selbst. “Ich sage keinem, so und so musst du die Hände halten. Zuerst muss sich jeder selbst besinnen: Was habe ich empfunden, als ich Holz, Glas, Stoff gehalten habe? Und dann – was habe ich empfunden bei einer Tasse Kaffee? Wie riecht das? Kann ich die kleinen Tröpfchen sehen, die an der Tasse kleben?” Er hebt wieder die Tasse, jetzt ist sie halb leer. Als hätte man daraus getrunken: stark, mit etwas Zucker.

Die Bewegungen sind nur der sichtbare Teil der Vorstellungskraft beider Seiten. Wer Sládek zuschaut, merkt, wie eingerostete Teile des eigenen Geistes wach werden. Er lässt die Tasse wieder verschwinden und erzählt von der nächsten Stufe auf dem Weg zu seiner Kunst. Es geht darum, eigene Erlebnisse genau zu rekonstruieren. Sich selbst kennen zu lernen: “Was ist geschehen, außen und innen?”

Und er erzählt von einem seltsamen Erlebnis. Neulich, als er abends von der Fahrstunde kam – er lernt erst jetzt in Bratislava das Autofahren -, lief da eine nackte Frau durch die Straße. “Zuerst dachte ich, sie trägt ein helles Kostüm. Aber sie trug wirklich nichts. Bei der Kälte! Und daneben stand ein Mann, der hielt einen Stapel Kartons mit Eiern. Es war wie bei Fellini.” Wie bei Fellini war auch Traurigkeit darin. Am nächsten Tag erklärten ihm Freunde, die Frau sei eine Schriftstellerin, die den Verlust einer Brust nicht verkraftet habe. Nach der Amputation wurde sie verrückt. Es ist eine traurige Geschichte, aber es ist seltsam typisch für die Stadt, dass fast jeder dort die Geschichte kennt und dass die Verrücktgewordene hier einmal Geschichten geschrieben hat.

Hätte es ihr geholfen, wenn sie in Sládeks Theater gekommen wäre, zum Grand Pierrot auf der Bühne unterm hohen Dach? Dort hätte sie erlebt, wie der alternde Mime, weiß geschminkt, sich als Waschfrau verkleidet, mit lächerlichen Stoffbeuteln als Brüsten, und damit einen Verehrer, dem die Attrappen für die Wahrheit gelten, zur Raserei treibt. Eine schlichte, archaische, kluge, befreiende Komik.

Man verlässt dieses Theater mit etwas wärmerem Herzen. Draußen ist es Nacht und noch kälter geworden. Das rätselhafte Feuer im Brückenhaus brennt nicht mehr. Die Lichter von Bratislava am andern Ufer des Flusses wirken einladend. Als säße überall jemand, den man besuchen könnte, um über dies und das zu reden. “Aber erst mal”, hat der Bildhauer gesagt, “wollen wir etwas trinken.”

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit

Dornröschen und der Wolf

Hannover war ruhig – bis Albrecht Puhlmann Chef der Oper wurde

Wenn vor Wut die Worte fehlen, werden manche Opernbesucher zeichnerisch aktiv. Einer kritzelte im Brief mit der Abo-Kündigung den Intendanten des Hauses so, wie Hannovers neuer Don Giovanni stirbt. Abgestochen von seinen Opfern, verblutend, mit dem Rücken zum Publikum. Dazu las Albrecht Puhlmann den Satz: “Die Rache der Abonnenten ist Ihnen gewiss.” Es hat ihn erschreckt.

“Das geht teilweise schon sehr tief”, sagt er und kann sich nur bedingt darüber freuen, dass bei jedem Don Giovanni das Haus ausverkauft ist.

Die Aufregung in Hannover begann schon mit dem Amtsantritt des 46-Jährigen, der mit Fassonschnitt, Krawatte und dunklem Sakko eher einem Versicherungsangestellten ähnelt als dem Wüstling, für den ihn 6200 Abonnementskündiger offenbar halten. In ihren Augen hat er auch Aida und Jenufa geschändet und mithilfe des amerikanischen Zertrümmerers John Cage und dessen Europeras sogar das ganze Haus, auf das Puhlmann frech die Flagge mit der Aufschrift “Eure Oper!” pflanzte. “Unsere Oper!”, riefen da viele erbost zurück.

Einerseits ist dieser Zwist ein altes Stück, bekannt unter den Titeln Der beleidigte Stammgast oder Generationswechsel. Aufgeführt wurde es, mit unterschiedlich glücklichem Ausgang, auch in Leipzig und in Stuttgart. Aber die Unruhe, die von einem Opernhaus ausgehen kann, hat sich schon lange nicht mehr so eruptiv geäußert wie in jener Stadt, die sonst geduldig wie ein großes Schaf in der norddeutschen Tiefebene steht und nicht mal durch eine Weltausstellung aus der Fassung geriet.

Inbild dieser Stabilität ist der klassizistische Bau im Stadtzentrum, jenes Opernhaus, das von 1979 bis 2001 von ein und demselben Manne gelenkt wurde – Hans-Peter Lehmann. Der war als Intendant wie als Regisseur kein Bilderstürmer, aber dem Neuen behutsam aufgeschlossen. Herbert Wernicke und Andreas Homoki konnten hier schon früh inszenieren

Lehmann selbst trieb der Aida den Kitsch aus, den er andererseits der Carmen reichlich gönnte, mit Reimanns Troades setzte er Maßstäbe. Es ist nicht so, dass man hinter dem Mond gelebt hätte.

Donna Anna will’s im Auto

Aber im vergangenen Jahrzehnt machte sich Benommenheit breit, ein halber Dornröschenschlaf, neue Tendenzen kamen hier nur als Raritäten an, zur Aufregung kein Anlass. So verhielten sich viele zur ersten Premiere unter neuer Ägide, als kennten sie Aida nur unter Palmen, als übertreffe die Regie an Radikalität selbst Neuenfels um Lichtjahre, nur weil Aida als Putze schuftet. Man buhte im Fortissimo, viele hatten Trillerpfeifen mitgebracht, es fehlte nicht viel zu Prügeleien. Auswärtige staunten wie über die Schreie einer aussterbenden Tierart: Dass es das noch gibt!

Dabei hätte diese Version der Wüstenoper auch unter Lehmann stattfinden können. Andreas Homoki hat das Ambiente zu einem großen “Nilstein” abstrahiert, einem gelben Kubus als Zeichen der Macht, in dem der Hofstaat steht und, während sich der Würfel dreht, immer pünktlich zum Choreinsatz nach vorn schaut. Was nebenher auch auf Verdis geniale Schnitt- und Verzahnungstechnik verweist, so wie Homoki überhaupt musikalisch inszeniert, Choreinsätze optisch pointiert – oder auf Signale manchmal ganz verzichtet, um eine Arie sich selbst zu überlassen.

Die Zeitung, die Radames liest, wäre als bloßer Aktualisierungsversuch so billig wie angestaubt, zeigte sie nicht, dass dieser Alltagstyp vom Krieg als Letzter erfährt, überrascht, verstört, nur mit einem Ruck sich in die Heldenrolle fügend. Auch Aida ist eine Ausgelieferte, eine Sklavin halt. Sie putzt den Palast und bringt Champagner für eine Party, die zum Triumphmarsch einsetzt: Die Happy Few begießen den Ausgang eines Gemetzels, das ihre Aktien steigen ließ. Solche Ideen drängt Homoki einem nicht auf, er schafft mit leichter Hand Platz dafür.

Das lässt sich von Calixto Bietos Don Giovanni nun wirklich nicht sagen. Die Regie des Katalanen ist gewalttätig, rücksichtslos, überdeutlich. Sie ist aber nur selten so unlogisch und platt wie in Donna Annas letzter Arie, bei der Don Ottavio die Verlobte befummelt und bespringt. Selbst das, befand man beim hannoverschen Ordnungsamt, sei “gewöhnungsbedürftig, aber nicht aus Sicht des Jugendschutzes”. Da sprach jenes Hannover, das nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen ist.

Das andere Hannover aber hatte Anzeige beim Staatsanwalt erstattet und sah nur Pornografie, wo vor allem Milieuwechsel stattfindet. Mozarts Musik führt hier in ein mieses kleines Parkplatzdrama am Rand von Barcelona, wo auf dem Rücksitz eines Autos die von E.T.A. Hoffmann aufgeworfene Frage, ob Donna Anna nicht vielleicht doch auch gewollt habe, so eindeutig beantwortet wird, dass Annas Vater empört die Scheiben einschlägt. Nicht Adlige sind zugange, sondern Zuhälter, Dealer, unerquickliche Typen unserer Tage. Der Don von Garry Magee ist, bei allem Charisma, ein Würstchen, an Liebe denkt er erst, als er zum Telefon greift und sein berühmtes Ständchen singt. Zuerst ganz cool, er glaubt ja selbst nicht, was er da beteuert, aber dann scheint die Musik ihn zu ergreifen, sein Kopf wird klar, er lässt den Hörer sinken, begreift singend, wie viel ihn vom Wahrhaftigen trennt, am Ende ist ihm zum Heulen, und man bestaunt die ungeheure Kraft der Mozartschen Gefühlswelt.

Dass Verabredungen aus einem früheren Jahrhundert, betreffend die Töne, in denen ein Gefühl, ein Zustand, ein Konflikt ausgedrückt werden, noch immer umstandslos funktionieren, ist sowieso ein Wunder. Man kann dieses Wunder zeitlos feiern, man kann es aber auch nutzen, um die Horizonte entrückter Gestalten auf Typen anzuwenden, die uns drastisch näher sind. Und das verfolgt der neue Intendant mit einer Konsequenz, die ihm mit Blick auf die Requisiten der Saison schon den Vorwurf des “Feudelismus” eingetragen hat. Es kommen nämlich reichlich viele Putzlappen vor, die von der neuen Bodennähe künden. Nicht nur Aida ist mit nassem Feudel unterwegs. Auch in John Cages Fünfteiler Europeras versuchen Putzfrauen Ordnung ins Panoptikum der Operntrümmer zu bringen, das Nigel Lowery im Geiste von Monty Python’s Flying Circus anrichtete. Im Don Giovanni bleibt der Müll liegen, in Jenufa wird er tütenweise abtransportiert, und die traurige Titelheldin feudelt nicht nur, sondern steckt am Ende gar den Kopf in den Eimer.

“Kopflastig” findet Eberhard Furch diese neue Ästhetik. Der 72-Jährige betreut in der Gesellschaft der Freunde des Opernhauses den Opernbrief. In der “GFO” sammeln sich seit 25 Jahren spendenwillige Handwerksmeister, Vorstandsvorsitzende, Gastronomen, Lehrer, gestandene Bürger gesetzteren Alters. Nun hadern sie mit dem Neustart. Dass der überhaupt mit Spenden bedacht wurde, hat 200 Mitglieder schon so empört, dass sie den Verein verließen. Für die meisten der 1700 Nochmitglieder ist zumindest die Regisseurin Barbara Beyer “ein rotes Tuch”.

Sie hat aus Janaceks mährischem Dorf von 1904 eine Betonhölle mit Stahltüren gemacht, aus dem Sittenbild um eine unverheiratet schwangere Frau ein Psychodrama unter Plattenbauneurotikern. Was ja noch auszuhalten wäre, stellte die Regie nicht auch jeglichen tröstenden Zug infrage, sowohl die Liebe der Jenufa zu ihrem Kind als auch jene Liebe, die nach allen Katastrophen zwischen Jenufa und ihrem einst verschmähten Anbeter herrscht: Beide sind infantil und überfordert, ihre Beziehung ist eine Regressionsgemeinschaft mit Plüschtier.

Wenn da, auf kahlem Boden kauernd, Jenufa von der großen Liebe singt, die “dem Herrgott ein Wohlgefallen” sei, kann es einen vor Mitleid zerreißen mit dieser Zerstörten, die sich fromm belügt – oder vor Wut über die vermeintliche Anmaßung der Regie. Es wäre eine Anmaßung, verknüpfte Beyer nicht so konsequent wie stimmig ihre Sicht mit dem, was in der Musik ist und sich im Mordmonolog der Küsterin, der Ziehmutter Jenufas, mit ungeheurer Wucht entfaltet.

Denn die bringt das Neugeborene hier nicht nur um, damit Jenufa die Schande erspart bleibt. Auch Eifersucht spielt mit und Hass auf die Männer, die bei Beyer eher Männchen sind, saudumme Wichtigtuer bis in die letzte Nebenrolle.

Das alles verdichtet sich zu einem aggressiven Komplex, den Leandra Overmann, Kommandeuse im grauen Kostüm, in den Saal hinein so explodieren lässt, dass es jeden erwischt – auch die Beyer-Hasser, die zumindest dies Rollenporträt bejubeln.

Anders als Don Giovanni ist Jenufa durch die gespaltene Reaktion aber nicht zum Kassenschlager geworden. Der Intendant räumt ein, dass die durchschnittliche Auslastung des Hauses, zuerst auf 90 Prozent gestiegen, seit dieser Produktion wieder sinkt. Für die Neuzugänge, die dem verschwundenen Abonnentendrittel gegenüberstehen, fehlen noch Zahlen. “Es ist die Frage, ob die bürgerliche intellektuelle Schicht reicht, um 240mal 1200 Plätze zu füllen”, sagt er, ist aber zu Populismus nicht bereit: “Es ist eine kleinbürgerliche Haltung, zu sagen, das Haus wird mit unseren Steuern subventioniert, damit wir uns wohl fühlen.”

Was ihn ermutigt, ist der Publikumserfolg seines hannoverschen Kollegen Wilfried Schulz, der im Schauspielhaus auch alles andere als Wohlfühltheater veranstaltet, und die Rückendeckung vom Land Niedersachsen, das die Staatsbühnen mit 44 Millionen Euro im Jahr füttert und sogar die tariflichen Lohnerhöhungen auffängt, die anderswo die Theater lähmen. Vor allem: Das Opernhaus sei “Stadtgespräch” geworden. Und als zum Don Giovanni mal 800 Spontanbesucher kamen, spürte Albrecht Puhlmann schon ein “Weltstadtgefühl”.

Das hat in der letzten Premiere dieser Saison der junge Londoner Tim Hopkins auf den neuesten Stand der Technik gebracht: Igor Strawinskijs Neoklassiker The Rake’s Progress wird zum geschlossenen Videowahnsystem, der Werdegang eines Wüstlings ereignet sich komplett in einer lebensgroßen Puppenstube, die als Icon durch Computeranimationen flimmert, auf Tapeten und Kostümen wiederkehrt. Eine Luhmann-Oper, in der sich ein System durch Reproduktion seiner Zeichen abschottet. Eine Psychooper, deren Held eine Kreatur der Familie bleibt, gefangen zwischen ihren Menschen, Mauern und – ja doch: Mülltüten.

Der Ansatz ist nicht abwegig. Strawinskijs Vorlage selbst, William Hogarths Radierungen zum Londoner Alltag 1733, zeigt keine Individuen, sondern Stereotype, Menschen, die Mustern folgen. Der Komponist wiederum macht sein Unbehagen in der Opernkultur zum Thema, in dem er musikalische Floskeln, Gesten, Techniken des 18. Jahrhundert wie aus einem zerbrochenen Spiegel zu etwas so Neuem wie Eigenem fügt. Ein geniales, reifes Stück, aus dem bei Hopkins eher eine Installation als eine Inszenierung wird.

Die Ausweglosigkeit der Puppenstube ist hier gefühlsfrei und eiskalt in einen digitalen Manierismus umgesetzt, der sich durchaus entschlacken ließe: Hopkins hat so viel vernetzt, dass man sich gelegentlich unnötig verheddert.

Strawinskij ist klarer und witziger und wird auch so gespielt: Was das Staatsorchester unter dem präzise und klar leitenden Gastdirigenten Jürg Henneberger hören lässt, ist eine Reise wert, ebenso wie die Orchesterleistung in Jenufa unter dem neuen GMD Shao-Chia Lü.

Wo aber abgewetztere Partituren und Alltagsschlendrian zusammenkommen wie in Don Giovanni und Aida, lassen Intonation und Zusammenspiel keineswegs Weltstadtgefühle aufkommen. Da neigt zudem der Chor zum Schreien. Ungern stellt man sich vor, wie es klänge, wenn Puhlmann seinen Traum wahr macht, Rameau zu spielen. “Am besten”, findet er, “wären Pools mit Fachmusikern, aus denen man Ensembles für Strauss hier und Rameau da holt. Aber das werden wir nicht erreichen.”

Die Strukturen bleiben also wie gehabt, ergänzt durch ortsansässige Barockmusiker so wie schon in Basel, wo Puhlmann vorher Operndirektor war. Es ist ja aufregend genug, dass auch in der kommenden Spielzeit Bieto (Trovatore), Beyer (Lulu) und Lowery (Purcell-Projekt) inszenieren, aber auch Konwitschny (Butterfly), dass Mixer Mousse T. und Neutöner Hespos an Auftragswerken sitzen und der Intendant schon überlegt, wer am besten Monteverdis Marienvesper bebildern könnte.

Hopkins vielleicht? Der Videomane aus London hatte sich vom niedersächsischen Aggressionspotenzial sichtlich mehr versprochen. Nach The Rake’s Progress versuchte er, die paar Buhrufer per Handzeichen zur Weißglut zu bringen. Doch man blieb gelassen. Man ist wohl auch erschöpft am Ende dieser Saison, in der das vorher gemütlich vor sich hin tuckernde Haus auf die Gegenwart gestoßen ist wie auf ein Riff zwischen Atoll und Ozean. Ob daraus Schiffbruch wird oder Beginn der großen Fahrt, entscheiden die Hannoveraner.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 29.05.2002

Energieschübe hoch vier

Renaissance einer bedrohten Gattung: Nie gab es so viele tolle junge Streichquartette. In Reggio spielten sie um die Wette

Manchmal kommt das Lampenfieber erst in Takt achtzehn. Bis dahin kann der Erste Geiger sich zusammenreißen. Beethovens Einstieg ins Streichquartett opus 74 ist choralhaft, alle vier spielen im gleichen Rhythmus, das schützt vor der Angst, obwohl das Stück schon zerbrechlich, fragend, leise beginnt. Dann aber hat die erste Geige die Melodie, von zweiter Geige und Bratsche begleitet. Und nun schießt jeder Tropfen Adrenalin direkt in die Hand, die den Bogen hält. Ganz sacht soll er die Saiten schwingen lassen. Bloß nicht zittern. Nicht hier in dieser knochentrockenen Theaterakustik, in der man alles hört, vor dieser Jury, die darüber entscheidet, ob das Ensemble weiterkommt. Und daran hängt viel. Wer den Premio Paolo Borciani gewinnt, wird auf den Olymp der Branche katapultiert. Für Streichquartette ist Reggio Emilia das Tor zur Welt. Dem norditalienischen Städtchen merkt man das nicht an. Vor dem säulenumsäumten Theater donnert der Presslufthammer der Stadtverschönerung, im Park nebenan lärmen die Ghettoblaster der Migranten, und die Plakate am Theater verraten nur Eingeweihten, dass hier der wichtigste Wettbewerb stattfindet, den es für Quartette gibt.

Die hohe Kunst des Streichquartettspiels erlebt seit zehn Jahren eine Renaissance, wie es sie in der klassischen Musik noch nicht gegeben hat. Es ist ein Boom besonderer Art, bei dem sich das Angebot unabhängig von der Nachfrage vergrößert – und verfeinert. Neues Publikum wird zwar erst zögernd aufmerksam, noch spukt das Schreckbild befrackter Senioren, die vermeintlich trist vor sich hinfiedeln. Doch obwohl man mit sechzehn Saiten nicht reich und nur mäßig berühmt werden kann, lockt die Zentraldisziplin der Kammermusik die besten jungen Musiker an. Während die altehrwürdigen Ensembles vom Guarneri-Quartet bis zum Alban Berg Quartett nach und nach von der Konzertbühne abtreten, wächst eine Szene von ungeheurer Vielfalt heran, technisch, künstlerisch auf einem Durchschnittsniveau, das deutlich über dem des restlichen Musikbetriebs liegt.

Das erhöht den Druck, der im schönen Theater von Reggio herrscht, aber von den Gemetzeln der Solistenwettbewerbe ist man hier weit entfernt. Während sich anderswo Geiger und Pianisten erst mal mit Virtuosenstücken niederspielen müssen (wobei die Kreativen oft den Kämpfern weichen), geht es hier sofort um die Kunst. Und wer wissen will, was es damit auf sich hat, warum das Projekt Streichquartett, das vor etwa 250 Jahren begann, bis heute Spieler, Komponisten, Hörer in Atem hält, der kann es hier schon in einem Satz erfahren, dem ersten Satz aus Beethovens opus 74 nämlich, 1809 komponiert. Alle zwanzig Ensembles aus fünfzehn Nationen müssen ihn in der ersten Runde spielen. Und von Mal zu Mal wird es nicht langweiliger, sondern spannender. Bei der Begegnung mit Beethoven entstehen völlig verschiedene Filme.

Mal wird mit zittriger Handkamera Beethovens umwölkte Miene aus der Froschperspektive gefilmt, mal sehen wir ihn auf Erlösungssuche in einem Kammerspiel. Vieles ist drin in diesem Stück, das so fragend beginnt, ein Rätsel, für das es mehr als eine, vielleicht keine Lösung gibt. Unvermittelt und früh taucht ein federndes Idyll auf, wird jäh wieder ausgeblendet und erscheint am Schluss als Hintergrund einer schier wahnsinnigen Geigenraserei. Was soll das? Das polnische Quartett Apollon musagetes spielt das Idyll wie reines Glück, das durch seine Kürze noch an Realität gewinnt. Und die 400 Sechzehntel der ersten Geige am Schluss umrasen das Motiv, als es wieder aufgetaucht ist, wie schützende Gedanken. Zumindest kann man auf solche Ideen kommen.

Die Jury hat sich noch nie vertan: Aus allen Preisträgern wurde etwas

Die vier Polen selbst, die in Wien ein Jahr lang diesen Auftritt vorbereiteten, haben ihr Spiel nicht als extrem empfunden. »Beim Wettbewerb darf man nicht so viel riskieren wie im Konzert«, sagen sie, »so eine Jury, die die Noten mitliest, setzt einen total unter Druck.« – »Mit Noten«, sagt Jurymitglied Oliver Wille, Geiger im Kuss Quartett, »hört man mehr.« Doch dass die Situation für die Musiker schwierig ist, weiß er, seit er vor sechs Jahren selbst hier auf dem Podium saß. »Es war schrecklich.« Sein Jurykollege Volker Jacobsen, langjähriger Bratscher im Artemis Quartett, bestätigt das: »Wettbewerb ist ein beschissenes Gefühl. Aber dieser Wettbewerb war für uns der Durchbruch, acht Jahre nach Gründung des Ensembles.« Es ist nicht die überschaubare Preissumme von 19000 Euro, die den Premio Paolo Borciani so begehrt macht, sondern der Stress danach: eine knapp fünfzig Konzerte umfassende Tournee rund um die Welt, betreut vom Impresariat Simmenauer, der Quartettadresse schlechthin. Außerdem hat sich die Jury in Reggio Emilia noch nie vertan. Alle Preisträger bewährten sich langfristig als Hochkaräter. In jedem Jahr urteilen andere Juroren und selten solche, die mit den Quartetten auch schon als Lehrer zu tun hatten. »Hier wird keine Politik gemacht«, sagt Wille. Allenfalls ästhetisch: Die Ausrichtung hin zum analytischen Spiel und ohne Rücksicht auf Mainstream ist klar, wenn Musiker wie er und Jacobsen die Punkte vergeben, zusammen mit András Keller, dem überragenden Avantgarde-Interpreten, Geiger im Keller-Quartett, und fünf weiteren Experten.

Hinter denen sitzen die Enthusiasten im Parkett. Die Bildungsbürger von Reggio, ohne deren Hilfe der Wettbewerb mit seinem Miniaturetat von 130000 Euro nicht stattfände, und ein paar Reisende – der bärige Konzertveranstalter aus Koblenz mit Plastiktüte und Kugelschreiber zum Benoten, die Dame aus Brüssel, die zu allen Wettbewerben der Welt pilgert. Und vorm Auftritt des Quartetts Collegium aus der Ukraine geht Reinhold Ferrari, der Mann für alles, in den Park nebenan, wo sich die ukrainischen Auswanderer treffen, und lädt sie ins Theater ein.

Woher kommt solche Reife mit Mitte zwanzig?

Für Besucher, die sich zeigen wollen, ist der Premio uninteressant. Das Streichquartett ist auf eine Weise elitär, die Alphatiere nicht begreifen. Es etabliert, anders als Orchester, Solostars oder Oper, keinen Machtbereich der Kunst. Es ist von fast allen wichtigen Komponisten bis heute zu einem Medium entwickelt worden, in dem Extreme erforscht und realisiert werden, die durch die Einheitlichkeit der Besetzung aneinander messbar sind – in Reggio von Mozarts Dissonanzenquartett (1785) bis zu den Sonnets et rondeaux von Giovanni Solima (2008). Die Gattung Streichquartett ist ein Teilchenbeschleuniger, der nicht mehr Platz wegnimmt, als man für vier Leute braucht. Also sehr demokratietauglich. So hatte sich der Humanist Guido Alberto Borciani das auch gedacht, der Bruder des Geigers Paolo Borciani vom legendären Quartetto Italiano. Er hat diesen Wettbewerb 1987 gegründet, er starb hochbetagt im vergangenen April.

Jetzt leitet Cellist Mario Brunello den Wettbewerb und muss nach der ersten Runde den schwierigsten Job übernehmen: das Trösten der Gruppen, die nicht weiterkommen. Am schlimmsten leiden die jungen Männer aus Venezuela. Das Quartett Simón Bolívar ist eine Frucht jenes inzwischen berühmten Ausbildungssystems, das venezolanische Kinder von der Straße in Musikschulen holt und ihnen so eine Zukunftsperspektive eröffnet. Das südamerikanische Quartett spielt im Stehen, verziert mit gelb-roten Schärpen wie eine Folklorekapelle, es spielt mit ungeheurer Energie, fast doppelt so laut wie alle anderen, bestens gelaunt und meilenweit an allen Problemen vorbei, mit denen sich die Komponisten in ihren Stücken befassen. Schubert reitet da in Der Tod und das Mädchen strahlend zur Seite der Rebellen, man könnte dazu tanzen, und Beethovens Fragen… Was für Fragen? Die schnelle Stelle ist eine schnelle Stelle. Ein virtuoses Freudenfeuer, fertig!

Sie muss aber zum Drang auch Geist haben, Bilder hervorbringen. Beim tschechischen Quartett Bennewitz ist es, als seien die Sechzehntelketten die bebende Takelage an einem Boot, als sei das ganze Stück ein Vehikel, mit dem eine Gruppe aufbricht ins offene glitzernde Meer. Und das blutjunge, hellwache Galatea Quartett aus Zürich arbeitet unangestrengt Details heraus, die man zuvor nicht hörte. Da wird etwa eine Achtelnote so leicht verbreitert, dass ein ganzer Takt zu sprechen beginnt, der sonst nur Überleitung war. Vor allem aber gibt es in diesem Ensemble kein Gefälle wie bei vielen anderen, wo einer dominiert oder zwei eine Achse bilden. Nirgendwo in der Musik liegen Beziehungen, Atmosphären, Auren so offen wie beim Quartett.

Das ist auch ein Beziehungslabor, als Komposition wie als Ensemble. Vier Stimmen, vier Persönlichkeiten – auf magische Weise stellt die Vierzahl eine Balance, eine Spannung zwischen Individualität und Abstraktion her. Die Musik enthüllt die Spieler und verändert sich mit ihnen. Und das Auge hört mit. Wenn drei Mädchen in pastellfarbenen Törtchenkleidern um einen wackeren Jüngling herumsitzen und mit Starkstromvibrato Schubert plattmachen, passen Ton und Bild zusammen. Beim britischen Doric Quartet ist das anders. Mit uniformartigen hellbraunen Hemden zu schwarzen Hosen sehen die jungen Herren aus wie bessere Wildhüter – aber sie spielen den mit Abstand klarsten Beethoven als Pflichtstück. Das ist so differenziert, so bis ins Letzte strukturiert und analysiert, dass einem doch was fehlt: Unberechenbarkeit, Leben, Risiko.

Aber das kann ja noch kommen. Man muss in drei Runden mit allem rechnen. Organisatorin Francesca Zini unterscheidet zwei Arten von Verläufen. »Entweder taucht sofort ein Favorit auf, oder alles entwickelt sich nach und nach. So wie jetzt.« Wohl wahr. Und wohl dem Besucher, der kurz vorm Abreisen noch den Start des Halbfinales erleben kann. Das Ardeo-Quartett, zuerst nicht sonderlich aufgefallen, beschert allen eine Sternstunde. Die vier Französinnen spielen Beethovens spätes opus 127 mit einer Sensibilität und Verletzlichkeit, als seien sie unter sich und zugleich mit uns im Gespräch. Hier teilen Menschen andern etwas mit. Kann man wortlos über eine Trauer sprechen, deren Anlass keiner kennt, so behutsam, so umfassend, dass jeder sich wiederfindet? Im Adagio geschieht es. Danach realisieren sie Ligetis rasend komplexe Métamorphoses so kristallklar und ironisch wie einen neuen Haydn. Woher kommt solche Reife mit Mitte zwanzig? Man kann andersherum fragen: Wo ist sie bei den andern in dem Alter? Vielleicht hat das Interesse vieler junger Musiker an intimer, subtiler, komplexer Kunst auch damit zu tun, dass ihnen der Rest der Welt zu laut, zu schnell, zu einfach wird. »Es gibt einen Vorhang vor dem Wesentlichen in unserer Zeit«, sagt András Keller. »Musik kann diesen Vorhang wegnehmen. Aber dazu muss man Persönlichkeit haben. Ich suche hier die mit einer eigenen Stimme.« Das Ardeo-Quartett zählt dazu, ebenso das Signum Quartett aus Deutschland. Die haben im Pflichtfach Beethoven sogar die Londoner Dorics analytisch überboten, haben zudem Energiewellen in den Saal rollen lassen, Pianopassagen riskant bis an die Versandungsgrenze trockengelegt, Beethoven als Gespaltenen gezeigt.

Und sie haben Leoš Janáčeks Intime Briefe in ihren Konturen zwischen Sprache und Grafik so konkret, so glühend realisiert, dass das Ensemble nach ihnen mit demselben Stück nur abstürzen kann: Da klingt es wie lückenhafte Spätromantik. Wer aber nun glaubt, es sei so weit alles klar, was die Favoriten angeht, hat die Wettbewerbsdynamik unterschätzt und die Tatsache, dass Quartette ihrer Sensibilität wegen starken Schwankungen unterworfen sind. In der Finalrunde spielt sich das Bennewitz Quartett aufs Siegerpodest, gefolgt vom Doric Quartet. Den Platz dahinter teilen sich die Genies von Ardeo und Signum. Kein Grund, die Kompetenz der Jury zu bezweifeln. Wenn solche Leute Dritte werden, hat das Niveau dieser Extremkunst ein historisches Hoch erreicht.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 31.12.2008