Hannover war ruhig – bis Albrecht Puhlmann Chef der Oper wurde
Wenn vor Wut die Worte fehlen, werden manche Opernbesucher zeichnerisch aktiv. Einer kritzelte im Brief mit der Abo-Kündigung den Intendanten des Hauses so, wie Hannovers neuer Don Giovanni stirbt. Abgestochen von seinen Opfern, verblutend, mit dem Rücken zum Publikum. Dazu las Albrecht Puhlmann den Satz: “Die Rache der Abonnenten ist Ihnen gewiss.” Es hat ihn erschreckt.
“Das geht teilweise schon sehr tief”, sagt er und kann sich nur bedingt darüber freuen, dass bei jedem Don Giovanni das Haus ausverkauft ist.
Die Aufregung in Hannover begann schon mit dem Amtsantritt des 46-Jährigen, der mit Fassonschnitt, Krawatte und dunklem Sakko eher einem Versicherungsangestellten ähnelt als dem Wüstling, für den ihn 6200 Abonnementskündiger offenbar halten. In ihren Augen hat er auch Aida und Jenufa geschändet und mithilfe des amerikanischen Zertrümmerers John Cage und dessen Europeras sogar das ganze Haus, auf das Puhlmann frech die Flagge mit der Aufschrift “Eure Oper!” pflanzte. “Unsere Oper!”, riefen da viele erbost zurück.
Einerseits ist dieser Zwist ein altes Stück, bekannt unter den Titeln Der beleidigte Stammgast oder Generationswechsel. Aufgeführt wurde es, mit unterschiedlich glücklichem Ausgang, auch in Leipzig und in Stuttgart. Aber die Unruhe, die von einem Opernhaus ausgehen kann, hat sich schon lange nicht mehr so eruptiv geäußert wie in jener Stadt, die sonst geduldig wie ein großes Schaf in der norddeutschen Tiefebene steht und nicht mal durch eine Weltausstellung aus der Fassung geriet.
Inbild dieser Stabilität ist der klassizistische Bau im Stadtzentrum, jenes Opernhaus, das von 1979 bis 2001 von ein und demselben Manne gelenkt wurde – Hans-Peter Lehmann. Der war als Intendant wie als Regisseur kein Bilderstürmer, aber dem Neuen behutsam aufgeschlossen. Herbert Wernicke und Andreas Homoki konnten hier schon früh inszenieren
Lehmann selbst trieb der Aida den Kitsch aus, den er andererseits der Carmen reichlich gönnte, mit Reimanns Troades setzte er Maßstäbe. Es ist nicht so, dass man hinter dem Mond gelebt hätte.
Donna Anna will’s im Auto
Aber im vergangenen Jahrzehnt machte sich Benommenheit breit, ein halber Dornröschenschlaf, neue Tendenzen kamen hier nur als Raritäten an, zur Aufregung kein Anlass. So verhielten sich viele zur ersten Premiere unter neuer Ägide, als kennten sie Aida nur unter Palmen, als übertreffe die Regie an Radikalität selbst Neuenfels um Lichtjahre, nur weil Aida als Putze schuftet. Man buhte im Fortissimo, viele hatten Trillerpfeifen mitgebracht, es fehlte nicht viel zu Prügeleien. Auswärtige staunten wie über die Schreie einer aussterbenden Tierart: Dass es das noch gibt!
Dabei hätte diese Version der Wüstenoper auch unter Lehmann stattfinden können. Andreas Homoki hat das Ambiente zu einem großen “Nilstein” abstrahiert, einem gelben Kubus als Zeichen der Macht, in dem der Hofstaat steht und, während sich der Würfel dreht, immer pünktlich zum Choreinsatz nach vorn schaut. Was nebenher auch auf Verdis geniale Schnitt- und Verzahnungstechnik verweist, so wie Homoki überhaupt musikalisch inszeniert, Choreinsätze optisch pointiert – oder auf Signale manchmal ganz verzichtet, um eine Arie sich selbst zu überlassen.
Die Zeitung, die Radames liest, wäre als bloßer Aktualisierungsversuch so billig wie angestaubt, zeigte sie nicht, dass dieser Alltagstyp vom Krieg als Letzter erfährt, überrascht, verstört, nur mit einem Ruck sich in die Heldenrolle fügend. Auch Aida ist eine Ausgelieferte, eine Sklavin halt. Sie putzt den Palast und bringt Champagner für eine Party, die zum Triumphmarsch einsetzt: Die Happy Few begießen den Ausgang eines Gemetzels, das ihre Aktien steigen ließ. Solche Ideen drängt Homoki einem nicht auf, er schafft mit leichter Hand Platz dafür.
Das lässt sich von Calixto Bietos Don Giovanni nun wirklich nicht sagen. Die Regie des Katalanen ist gewalttätig, rücksichtslos, überdeutlich. Sie ist aber nur selten so unlogisch und platt wie in Donna Annas letzter Arie, bei der Don Ottavio die Verlobte befummelt und bespringt. Selbst das, befand man beim hannoverschen Ordnungsamt, sei “gewöhnungsbedürftig, aber nicht aus Sicht des Jugendschutzes”. Da sprach jenes Hannover, das nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen ist.
Das andere Hannover aber hatte Anzeige beim Staatsanwalt erstattet und sah nur Pornografie, wo vor allem Milieuwechsel stattfindet. Mozarts Musik führt hier in ein mieses kleines Parkplatzdrama am Rand von Barcelona, wo auf dem Rücksitz eines Autos die von E.T.A. Hoffmann aufgeworfene Frage, ob Donna Anna nicht vielleicht doch auch gewollt habe, so eindeutig beantwortet wird, dass Annas Vater empört die Scheiben einschlägt. Nicht Adlige sind zugange, sondern Zuhälter, Dealer, unerquickliche Typen unserer Tage. Der Don von Garry Magee ist, bei allem Charisma, ein Würstchen, an Liebe denkt er erst, als er zum Telefon greift und sein berühmtes Ständchen singt. Zuerst ganz cool, er glaubt ja selbst nicht, was er da beteuert, aber dann scheint die Musik ihn zu ergreifen, sein Kopf wird klar, er lässt den Hörer sinken, begreift singend, wie viel ihn vom Wahrhaftigen trennt, am Ende ist ihm zum Heulen, und man bestaunt die ungeheure Kraft der Mozartschen Gefühlswelt.
Dass Verabredungen aus einem früheren Jahrhundert, betreffend die Töne, in denen ein Gefühl, ein Zustand, ein Konflikt ausgedrückt werden, noch immer umstandslos funktionieren, ist sowieso ein Wunder. Man kann dieses Wunder zeitlos feiern, man kann es aber auch nutzen, um die Horizonte entrückter Gestalten auf Typen anzuwenden, die uns drastisch näher sind. Und das verfolgt der neue Intendant mit einer Konsequenz, die ihm mit Blick auf die Requisiten der Saison schon den Vorwurf des “Feudelismus” eingetragen hat. Es kommen nämlich reichlich viele Putzlappen vor, die von der neuen Bodennähe künden. Nicht nur Aida ist mit nassem Feudel unterwegs. Auch in John Cages Fünfteiler Europeras versuchen Putzfrauen Ordnung ins Panoptikum der Operntrümmer zu bringen, das Nigel Lowery im Geiste von Monty Python’s Flying Circus anrichtete. Im Don Giovanni bleibt der Müll liegen, in Jenufa wird er tütenweise abtransportiert, und die traurige Titelheldin feudelt nicht nur, sondern steckt am Ende gar den Kopf in den Eimer.
“Kopflastig” findet Eberhard Furch diese neue Ästhetik. Der 72-Jährige betreut in der Gesellschaft der Freunde des Opernhauses den Opernbrief. In der “GFO” sammeln sich seit 25 Jahren spendenwillige Handwerksmeister, Vorstandsvorsitzende, Gastronomen, Lehrer, gestandene Bürger gesetzteren Alters. Nun hadern sie mit dem Neustart. Dass der überhaupt mit Spenden bedacht wurde, hat 200 Mitglieder schon so empört, dass sie den Verein verließen. Für die meisten der 1700 Nochmitglieder ist zumindest die Regisseurin Barbara Beyer “ein rotes Tuch”.
Sie hat aus Janaceks mährischem Dorf von 1904 eine Betonhölle mit Stahltüren gemacht, aus dem Sittenbild um eine unverheiratet schwangere Frau ein Psychodrama unter Plattenbauneurotikern. Was ja noch auszuhalten wäre, stellte die Regie nicht auch jeglichen tröstenden Zug infrage, sowohl die Liebe der Jenufa zu ihrem Kind als auch jene Liebe, die nach allen Katastrophen zwischen Jenufa und ihrem einst verschmähten Anbeter herrscht: Beide sind infantil und überfordert, ihre Beziehung ist eine Regressionsgemeinschaft mit Plüschtier.
Wenn da, auf kahlem Boden kauernd, Jenufa von der großen Liebe singt, die “dem Herrgott ein Wohlgefallen” sei, kann es einen vor Mitleid zerreißen mit dieser Zerstörten, die sich fromm belügt – oder vor Wut über die vermeintliche Anmaßung der Regie. Es wäre eine Anmaßung, verknüpfte Beyer nicht so konsequent wie stimmig ihre Sicht mit dem, was in der Musik ist und sich im Mordmonolog der Küsterin, der Ziehmutter Jenufas, mit ungeheurer Wucht entfaltet.
Denn die bringt das Neugeborene hier nicht nur um, damit Jenufa die Schande erspart bleibt. Auch Eifersucht spielt mit und Hass auf die Männer, die bei Beyer eher Männchen sind, saudumme Wichtigtuer bis in die letzte Nebenrolle.
Das alles verdichtet sich zu einem aggressiven Komplex, den Leandra Overmann, Kommandeuse im grauen Kostüm, in den Saal hinein so explodieren lässt, dass es jeden erwischt – auch die Beyer-Hasser, die zumindest dies Rollenporträt bejubeln.
Anders als Don Giovanni ist Jenufa durch die gespaltene Reaktion aber nicht zum Kassenschlager geworden. Der Intendant räumt ein, dass die durchschnittliche Auslastung des Hauses, zuerst auf 90 Prozent gestiegen, seit dieser Produktion wieder sinkt. Für die Neuzugänge, die dem verschwundenen Abonnentendrittel gegenüberstehen, fehlen noch Zahlen. “Es ist die Frage, ob die bürgerliche intellektuelle Schicht reicht, um 240mal 1200 Plätze zu füllen”, sagt er, ist aber zu Populismus nicht bereit: “Es ist eine kleinbürgerliche Haltung, zu sagen, das Haus wird mit unseren Steuern subventioniert, damit wir uns wohl fühlen.”
Was ihn ermutigt, ist der Publikumserfolg seines hannoverschen Kollegen Wilfried Schulz, der im Schauspielhaus auch alles andere als Wohlfühltheater veranstaltet, und die Rückendeckung vom Land Niedersachsen, das die Staatsbühnen mit 44 Millionen Euro im Jahr füttert und sogar die tariflichen Lohnerhöhungen auffängt, die anderswo die Theater lähmen. Vor allem: Das Opernhaus sei “Stadtgespräch” geworden. Und als zum Don Giovanni mal 800 Spontanbesucher kamen, spürte Albrecht Puhlmann schon ein “Weltstadtgefühl”.
Das hat in der letzten Premiere dieser Saison der junge Londoner Tim Hopkins auf den neuesten Stand der Technik gebracht: Igor Strawinskijs Neoklassiker The Rake’s Progress wird zum geschlossenen Videowahnsystem, der Werdegang eines Wüstlings ereignet sich komplett in einer lebensgroßen Puppenstube, die als Icon durch Computeranimationen flimmert, auf Tapeten und Kostümen wiederkehrt. Eine Luhmann-Oper, in der sich ein System durch Reproduktion seiner Zeichen abschottet. Eine Psychooper, deren Held eine Kreatur der Familie bleibt, gefangen zwischen ihren Menschen, Mauern und – ja doch: Mülltüten.
Der Ansatz ist nicht abwegig. Strawinskijs Vorlage selbst, William Hogarths Radierungen zum Londoner Alltag 1733, zeigt keine Individuen, sondern Stereotype, Menschen, die Mustern folgen. Der Komponist wiederum macht sein Unbehagen in der Opernkultur zum Thema, in dem er musikalische Floskeln, Gesten, Techniken des 18. Jahrhundert wie aus einem zerbrochenen Spiegel zu etwas so Neuem wie Eigenem fügt. Ein geniales, reifes Stück, aus dem bei Hopkins eher eine Installation als eine Inszenierung wird.
Die Ausweglosigkeit der Puppenstube ist hier gefühlsfrei und eiskalt in einen digitalen Manierismus umgesetzt, der sich durchaus entschlacken ließe: Hopkins hat so viel vernetzt, dass man sich gelegentlich unnötig verheddert.
Strawinskij ist klarer und witziger und wird auch so gespielt: Was das Staatsorchester unter dem präzise und klar leitenden Gastdirigenten Jürg Henneberger hören lässt, ist eine Reise wert, ebenso wie die Orchesterleistung in Jenufa unter dem neuen GMD Shao-Chia Lü.
Wo aber abgewetztere Partituren und Alltagsschlendrian zusammenkommen wie in Don Giovanni und Aida, lassen Intonation und Zusammenspiel keineswegs Weltstadtgefühle aufkommen. Da neigt zudem der Chor zum Schreien. Ungern stellt man sich vor, wie es klänge, wenn Puhlmann seinen Traum wahr macht, Rameau zu spielen. “Am besten”, findet er, “wären Pools mit Fachmusikern, aus denen man Ensembles für Strauss hier und Rameau da holt. Aber das werden wir nicht erreichen.”
Die Strukturen bleiben also wie gehabt, ergänzt durch ortsansässige Barockmusiker so wie schon in Basel, wo Puhlmann vorher Operndirektor war. Es ist ja aufregend genug, dass auch in der kommenden Spielzeit Bieto (Trovatore), Beyer (Lulu) und Lowery (Purcell-Projekt) inszenieren, aber auch Konwitschny (Butterfly), dass Mixer Mousse T. und Neutöner Hespos an Auftragswerken sitzen und der Intendant schon überlegt, wer am besten Monteverdis Marienvesper bebildern könnte.
Hopkins vielleicht? Der Videomane aus London hatte sich vom niedersächsischen Aggressionspotenzial sichtlich mehr versprochen. Nach The Rake’s Progress versuchte er, die paar Buhrufer per Handzeichen zur Weißglut zu bringen. Doch man blieb gelassen. Man ist wohl auch erschöpft am Ende dieser Saison, in der das vorher gemütlich vor sich hin tuckernde Haus auf die Gegenwart gestoßen ist wie auf ein Riff zwischen Atoll und Ozean. Ob daraus Schiffbruch wird oder Beginn der großen Fahrt, entscheiden die Hannoveraner.