Renaissance einer bedrohten Gattung: Nie gab es so viele tolle junge Streichquartette. In Reggio spielten sie um die Wette
Manchmal kommt das Lampenfieber erst in Takt achtzehn. Bis dahin kann der Erste Geiger sich zusammenreißen. Beethovens Einstieg ins Streichquartett opus 74 ist choralhaft, alle vier spielen im gleichen Rhythmus, das schützt vor der Angst, obwohl das Stück schon zerbrechlich, fragend, leise beginnt. Dann aber hat die erste Geige die Melodie, von zweiter Geige und Bratsche begleitet. Und nun schießt jeder Tropfen Adrenalin direkt in die Hand, die den Bogen hält. Ganz sacht soll er die Saiten schwingen lassen. Bloß nicht zittern. Nicht hier in dieser knochentrockenen Theaterakustik, in der man alles hört, vor dieser Jury, die darüber entscheidet, ob das Ensemble weiterkommt. Und daran hängt viel. Wer den Premio Paolo Borciani gewinnt, wird auf den Olymp der Branche katapultiert. Für Streichquartette ist Reggio Emilia das Tor zur Welt. Dem norditalienischen Städtchen merkt man das nicht an. Vor dem säulenumsäumten Theater donnert der Presslufthammer der Stadtverschönerung, im Park nebenan lärmen die Ghettoblaster der Migranten, und die Plakate am Theater verraten nur Eingeweihten, dass hier der wichtigste Wettbewerb stattfindet, den es für Quartette gibt.
Die hohe Kunst des Streichquartettspiels erlebt seit zehn Jahren eine Renaissance, wie es sie in der klassischen Musik noch nicht gegeben hat. Es ist ein Boom besonderer Art, bei dem sich das Angebot unabhängig von der Nachfrage vergrößert – und verfeinert. Neues Publikum wird zwar erst zögernd aufmerksam, noch spukt das Schreckbild befrackter Senioren, die vermeintlich trist vor sich hinfiedeln. Doch obwohl man mit sechzehn Saiten nicht reich und nur mäßig berühmt werden kann, lockt die Zentraldisziplin der Kammermusik die besten jungen Musiker an. Während die altehrwürdigen Ensembles vom Guarneri-Quartet bis zum Alban Berg Quartett nach und nach von der Konzertbühne abtreten, wächst eine Szene von ungeheurer Vielfalt heran, technisch, künstlerisch auf einem Durchschnittsniveau, das deutlich über dem des restlichen Musikbetriebs liegt.
Das erhöht den Druck, der im schönen Theater von Reggio herrscht, aber von den Gemetzeln der Solistenwettbewerbe ist man hier weit entfernt. Während sich anderswo Geiger und Pianisten erst mal mit Virtuosenstücken niederspielen müssen (wobei die Kreativen oft den Kämpfern weichen), geht es hier sofort um die Kunst. Und wer wissen will, was es damit auf sich hat, warum das Projekt Streichquartett, das vor etwa 250 Jahren begann, bis heute Spieler, Komponisten, Hörer in Atem hält, der kann es hier schon in einem Satz erfahren, dem ersten Satz aus Beethovens opus 74 nämlich, 1809 komponiert. Alle zwanzig Ensembles aus fünfzehn Nationen müssen ihn in der ersten Runde spielen. Und von Mal zu Mal wird es nicht langweiliger, sondern spannender. Bei der Begegnung mit Beethoven entstehen völlig verschiedene Filme.
Mal wird mit zittriger Handkamera Beethovens umwölkte Miene aus der Froschperspektive gefilmt, mal sehen wir ihn auf Erlösungssuche in einem Kammerspiel. Vieles ist drin in diesem Stück, das so fragend beginnt, ein Rätsel, für das es mehr als eine, vielleicht keine Lösung gibt. Unvermittelt und früh taucht ein federndes Idyll auf, wird jäh wieder ausgeblendet und erscheint am Schluss als Hintergrund einer schier wahnsinnigen Geigenraserei. Was soll das? Das polnische Quartett Apollon musagetes spielt das Idyll wie reines Glück, das durch seine Kürze noch an Realität gewinnt. Und die 400 Sechzehntel der ersten Geige am Schluss umrasen das Motiv, als es wieder aufgetaucht ist, wie schützende Gedanken. Zumindest kann man auf solche Ideen kommen.
Die Jury hat sich noch nie vertan: Aus allen Preisträgern wurde etwas
Die vier Polen selbst, die in Wien ein Jahr lang diesen Auftritt vorbereiteten, haben ihr Spiel nicht als extrem empfunden. »Beim Wettbewerb darf man nicht so viel riskieren wie im Konzert«, sagen sie, »so eine Jury, die die Noten mitliest, setzt einen total unter Druck.« – »Mit Noten«, sagt Jurymitglied Oliver Wille, Geiger im Kuss Quartett, »hört man mehr.« Doch dass die Situation für die Musiker schwierig ist, weiß er, seit er vor sechs Jahren selbst hier auf dem Podium saß. »Es war schrecklich.« Sein Jurykollege Volker Jacobsen, langjähriger Bratscher im Artemis Quartett, bestätigt das: »Wettbewerb ist ein beschissenes Gefühl. Aber dieser Wettbewerb war für uns der Durchbruch, acht Jahre nach Gründung des Ensembles.« Es ist nicht die überschaubare Preissumme von 19000 Euro, die den Premio Paolo Borciani so begehrt macht, sondern der Stress danach: eine knapp fünfzig Konzerte umfassende Tournee rund um die Welt, betreut vom Impresariat Simmenauer, der Quartettadresse schlechthin. Außerdem hat sich die Jury in Reggio Emilia noch nie vertan. Alle Preisträger bewährten sich langfristig als Hochkaräter. In jedem Jahr urteilen andere Juroren und selten solche, die mit den Quartetten auch schon als Lehrer zu tun hatten. »Hier wird keine Politik gemacht«, sagt Wille. Allenfalls ästhetisch: Die Ausrichtung hin zum analytischen Spiel und ohne Rücksicht auf Mainstream ist klar, wenn Musiker wie er und Jacobsen die Punkte vergeben, zusammen mit András Keller, dem überragenden Avantgarde-Interpreten, Geiger im Keller-Quartett, und fünf weiteren Experten.
Hinter denen sitzen die Enthusiasten im Parkett. Die Bildungsbürger von Reggio, ohne deren Hilfe der Wettbewerb mit seinem Miniaturetat von 130000 Euro nicht stattfände, und ein paar Reisende – der bärige Konzertveranstalter aus Koblenz mit Plastiktüte und Kugelschreiber zum Benoten, die Dame aus Brüssel, die zu allen Wettbewerben der Welt pilgert. Und vorm Auftritt des Quartetts Collegium aus der Ukraine geht Reinhold Ferrari, der Mann für alles, in den Park nebenan, wo sich die ukrainischen Auswanderer treffen, und lädt sie ins Theater ein.
Woher kommt solche Reife mit Mitte zwanzig?
Für Besucher, die sich zeigen wollen, ist der Premio uninteressant. Das Streichquartett ist auf eine Weise elitär, die Alphatiere nicht begreifen. Es etabliert, anders als Orchester, Solostars oder Oper, keinen Machtbereich der Kunst. Es ist von fast allen wichtigen Komponisten bis heute zu einem Medium entwickelt worden, in dem Extreme erforscht und realisiert werden, die durch die Einheitlichkeit der Besetzung aneinander messbar sind – in Reggio von Mozarts Dissonanzenquartett (1785) bis zu den Sonnets et rondeaux von Giovanni Solima (2008). Die Gattung Streichquartett ist ein Teilchenbeschleuniger, der nicht mehr Platz wegnimmt, als man für vier Leute braucht. Also sehr demokratietauglich. So hatte sich der Humanist Guido Alberto Borciani das auch gedacht, der Bruder des Geigers Paolo Borciani vom legendären Quartetto Italiano. Er hat diesen Wettbewerb 1987 gegründet, er starb hochbetagt im vergangenen April.
Jetzt leitet Cellist Mario Brunello den Wettbewerb und muss nach der ersten Runde den schwierigsten Job übernehmen: das Trösten der Gruppen, die nicht weiterkommen. Am schlimmsten leiden die jungen Männer aus Venezuela. Das Quartett Simón Bolívar ist eine Frucht jenes inzwischen berühmten Ausbildungssystems, das venezolanische Kinder von der Straße in Musikschulen holt und ihnen so eine Zukunftsperspektive eröffnet. Das südamerikanische Quartett spielt im Stehen, verziert mit gelb-roten Schärpen wie eine Folklorekapelle, es spielt mit ungeheurer Energie, fast doppelt so laut wie alle anderen, bestens gelaunt und meilenweit an allen Problemen vorbei, mit denen sich die Komponisten in ihren Stücken befassen. Schubert reitet da in Der Tod und das Mädchen strahlend zur Seite der Rebellen, man könnte dazu tanzen, und Beethovens Fragen… Was für Fragen? Die schnelle Stelle ist eine schnelle Stelle. Ein virtuoses Freudenfeuer, fertig!
Sie muss aber zum Drang auch Geist haben, Bilder hervorbringen. Beim tschechischen Quartett Bennewitz ist es, als seien die Sechzehntelketten die bebende Takelage an einem Boot, als sei das ganze Stück ein Vehikel, mit dem eine Gruppe aufbricht ins offene glitzernde Meer. Und das blutjunge, hellwache Galatea Quartett aus Zürich arbeitet unangestrengt Details heraus, die man zuvor nicht hörte. Da wird etwa eine Achtelnote so leicht verbreitert, dass ein ganzer Takt zu sprechen beginnt, der sonst nur Überleitung war. Vor allem aber gibt es in diesem Ensemble kein Gefälle wie bei vielen anderen, wo einer dominiert oder zwei eine Achse bilden. Nirgendwo in der Musik liegen Beziehungen, Atmosphären, Auren so offen wie beim Quartett.
Das ist auch ein Beziehungslabor, als Komposition wie als Ensemble. Vier Stimmen, vier Persönlichkeiten – auf magische Weise stellt die Vierzahl eine Balance, eine Spannung zwischen Individualität und Abstraktion her. Die Musik enthüllt die Spieler und verändert sich mit ihnen. Und das Auge hört mit. Wenn drei Mädchen in pastellfarbenen Törtchenkleidern um einen wackeren Jüngling herumsitzen und mit Starkstromvibrato Schubert plattmachen, passen Ton und Bild zusammen. Beim britischen Doric Quartet ist das anders. Mit uniformartigen hellbraunen Hemden zu schwarzen Hosen sehen die jungen Herren aus wie bessere Wildhüter – aber sie spielen den mit Abstand klarsten Beethoven als Pflichtstück. Das ist so differenziert, so bis ins Letzte strukturiert und analysiert, dass einem doch was fehlt: Unberechenbarkeit, Leben, Risiko.
Aber das kann ja noch kommen. Man muss in drei Runden mit allem rechnen. Organisatorin Francesca Zini unterscheidet zwei Arten von Verläufen. »Entweder taucht sofort ein Favorit auf, oder alles entwickelt sich nach und nach. So wie jetzt.« Wohl wahr. Und wohl dem Besucher, der kurz vorm Abreisen noch den Start des Halbfinales erleben kann. Das Ardeo-Quartett, zuerst nicht sonderlich aufgefallen, beschert allen eine Sternstunde. Die vier Französinnen spielen Beethovens spätes opus 127 mit einer Sensibilität und Verletzlichkeit, als seien sie unter sich und zugleich mit uns im Gespräch. Hier teilen Menschen andern etwas mit. Kann man wortlos über eine Trauer sprechen, deren Anlass keiner kennt, so behutsam, so umfassend, dass jeder sich wiederfindet? Im Adagio geschieht es. Danach realisieren sie Ligetis rasend komplexe Métamorphoses so kristallklar und ironisch wie einen neuen Haydn. Woher kommt solche Reife mit Mitte zwanzig? Man kann andersherum fragen: Wo ist sie bei den andern in dem Alter? Vielleicht hat das Interesse vieler junger Musiker an intimer, subtiler, komplexer Kunst auch damit zu tun, dass ihnen der Rest der Welt zu laut, zu schnell, zu einfach wird. »Es gibt einen Vorhang vor dem Wesentlichen in unserer Zeit«, sagt András Keller. »Musik kann diesen Vorhang wegnehmen. Aber dazu muss man Persönlichkeit haben. Ich suche hier die mit einer eigenen Stimme.« Das Ardeo-Quartett zählt dazu, ebenso das Signum Quartett aus Deutschland. Die haben im Pflichtfach Beethoven sogar die Londoner Dorics analytisch überboten, haben zudem Energiewellen in den Saal rollen lassen, Pianopassagen riskant bis an die Versandungsgrenze trockengelegt, Beethoven als Gespaltenen gezeigt.
Und sie haben Leoš Janáčeks Intime Briefe in ihren Konturen zwischen Sprache und Grafik so konkret, so glühend realisiert, dass das Ensemble nach ihnen mit demselben Stück nur abstürzen kann: Da klingt es wie lückenhafte Spätromantik. Wer aber nun glaubt, es sei so weit alles klar, was die Favoriten angeht, hat die Wettbewerbsdynamik unterschätzt und die Tatsache, dass Quartette ihrer Sensibilität wegen starken Schwankungen unterworfen sind. In der Finalrunde spielt sich das Bennewitz Quartett aufs Siegerpodest, gefolgt vom Doric Quartet. Den Platz dahinter teilen sich die Genies von Ardeo und Signum. Kein Grund, die Kompetenz der Jury zu bezweifeln. Wenn solche Leute Dritte werden, hat das Niveau dieser Extremkunst ein historisches Hoch erreicht.