Was heißt hier Macht, was Kunst? Ein Spaziergang mit Markus Hinterhäuser, dem Pianisten, Programmerfinder und designierten Intendanten der Salzburger Festspiele
Seinen ersten Komponisten hat er angerufen, als er dreizehn war und abends allein zu Hause. “Es gab bei der Auskunft die Nummer von ihm, in Kürten bei Köln”, sagt Markus Hinterhäuser. “Ich war ein Kind, nicht mal im Stimmbruch. Und dann kam er ans Telefon, und ich war so verdutzt und verlegen, dass ich gefragt habe, ob er mir die Zwölftonmusik erklären kann.” Was Karlheinz Stockhausen ganz liebenswürdig tat. Der Pionier der elektronischen Musik faszinierte den Jungen, seit drei Jahre zuvor in Bonn die Proben für ein Stockhausen-Projekt zum Skandal geführt hatten. Der Vater seines besten Schulfreunds war Konzertmeister dort “und rastete völlig aus. Er bedrohte den Dirigenten und zerstörte seine Geige. Ich fand es total irre, dass jemand mit Musik einen Menschen so zur Raserei bringen kann.”
Wir sitzen im Salzburger Café Tomaselli, oben, wo man behaglich rauchen darf, im gedämpften Licht des Vormittags. Mit seinen 53 Jahren hat Hinterhäuser noch immer etwas Jungenhaftes, Durchscheinendes. So leise, wie er spricht, ist er keiner jener professionellen Dickhäuter, die die Branche so zahlreich bevölkern.
Ohne die Geschichte mit Stockhausen säßen wir wahrscheinlich gar nicht hier, denn mit ihr begann eine Obsession. Anders als bei den hartgesottenen Avantgardisten der sechziger und siebziger Jahre aber führte diese Obsession nicht zu weiteren kaputten Geigen, sondern zu den größten Erfolgen, die ein Programmmacher je mit Neuer Musik und einer neuen Sicht auf Altes erzielt haben dürfte. Kürzlich wurde Markus Hinterhäuser zum nächsten Intendanten der Salzburger Festspiele gewählt, des schicksten, glamourösesten und finanzkräftigsten aller Sommerfestivals. Fühlt er sich am Ziel? Hinterhäuser beugt sich leicht vor, denkt nach: “Ich habe nie in diesen Parametern geplant.”
270.000 Karten wurden dieses Jahr in Salzburg verkauft, der Etat liegt bei gut sechzig Millionen Euro. Nicht zuletzt das Gezerre um diesen Etat hatte zum vorzeitigen Abgang von Alexander Pereira geführt, der schon im Herbst 2014 als Direktor an die Mailänder Scala wechseln wird. Weil Hinterhäuser dann noch bei den Wiener Festwochen unter Vertrag ist, beginnt seine Intendanz erst 2017 (die drei Jahre bis dahin überbrückt eine Interimsmannschaft um den amtierenden Schauspieldirektor Sven-Eric Bechtolf). Zeit genug, mit dem Zukünftigen einmal durch die Gassen zu schlendern. Salzburg im Herbst, da liegt alles noch halb in nachsommerlicher Agonie, halb bereits im Winterschlaf. Zeit genug auch, das Verhältnis zu erforschen zwischen der “Mozartstadt” und ihrem neuen Festspielleiter. Mit 17 ist Hinterhäuser hier mal umgestiegen, als Interrailer auf dem Weg von Amsterdam nach Athen; mit 20 studierte er am Mozarteum Klavier; mit Anfang 30 leitete er sein erstes eigenes Festival und rief später noch einmal in Kürten bei Stockhausen an.
Da lag sein Büro noch am anderen Ufer der Salzach. Vom Tomaselli sind es zehn Minuten über den Fluss hinüber ins älteste Viertel Salzburgs, wir stehen in der Steingasse, er zeigt auf Schleifspuren an einer Mauer. Die hat anno 1945 ein amerikanischer Panzer hinterlassen, “mit dem die Soldaten direkt in den Puff fahren wollten”. Hinterhäuser liebt solche kuriosen Details und betrachtet das bis heute existierende maison de plaisir samt rotem Laternchen im Fenster fast gerührter als das Haus, in dem er sich zusammen mit dem Kulturmanager Tomas Zierhofer-Kin die legendären Zeitfluss-Programme ausdachte. Die beiden hatten 1989 einen Kulturverein gegründet, da ging in Salzburg nach mehr als drei Jahrzehnten gerade die Ära Karajan zu Ende. “Das Festspielhaus war ein uneinnehmbarer Kulturkreml, da kam man nicht rein und war glücklich, drum herumzuschleichen.” Karajans Nachfolger hieß Gerard Mortier und ließ sich prompt ein auf die verrückten Ideen der Zeitfluss-Macher.
Hinterhäuser, der als Liedpianist mit der Mezzosopranistin Brigitte Fassbaender um die Welt gereist war, wollte unbedingt Luigi Nonos Oper Prometeo nach Salzburg holen, konzertant. Daraus wurden zwei Aufführungen in der Kollegienkirche, für die die Leute Schlange standen wie sonst nur für Mozarts Zauberflöte. Flankiert wurde das Ganze von zehn weiteren Nono-Konzerten – und höheren Orts der Erkenntnis, dass man die Neugier des Publikums wohl unterschätzt hatte. “Es ist viel ratloser, als es sich selbst eingesteht, und für Neues viel empfänglicher, als man ihm zugesteht”, sagt Hinterhäuser, “das ist in vielen Lebensbereichen so.” Zeitfluss, das Festival im Festival, wurde Kult. Als Karlheinz Stockhausen 1995 hier seine Hymnen realisierte, strömte ein drastisch verjüngtes Publikum in die Barockkirche.
Nun lässt sich nicht jeder namhafte Künstler auf jedes Projekt ein, nur weil ein netter Mensch aus Salzburg anruft. Hinterhäuser hat als Pianist mit Stockhausen selbst Klavierstücke erarbeitet: “Die Präzision, mit der er hören konnte, das glaubt man nicht. Er verlangte metronomische Zwischenstufen wie 63,3, und wenn die stimmten, war plötzlich eine Freude am Klanglichen da. Dann durfte man aus der verordneten Strenge auch wieder heraustreten.” Er blickt jetzt sehr hell, in erster Linie begreift sich der künftige Intendant eben als Künstler, der mit Künstlern kommuniziert. Der sich Zeit nimmt und ihnen Zeit lässt. “Intuitive Intelligenz” sei wichtig, “ein Sensorium dafür, wo ein Gespräch, ein Gedanke hinführen kann”. Das merkt auch sein Gegenüber. Bei blöden Fragen sucht Hinterhäuser sich freundlich den Teil aus, mit dem er noch am ehesten etwas anfangen kann.
Nicht zum letzten Mal überqueren wir auf unserem Zickzackpfad die Salzach, Hinterhäuser bleibt vor einer Bank stehen. Hier saß er einmal mit Einar Schleef, er wollte den ostdeutschen Berserker für eine Opernregie gewinnen. “Der rauchte Zigarre und schwieg, und ich rauchte eine Zigarette nach der anderen. Irgendwann sagte Schleef, nee, ich mach hier nichts, ich krieg hier keinen hoch.” Er lacht. Ihm selbst, sagt er, gehe es eher in Weimar so. Aber hat er von Salzburg nicht langsam genug? Acht Jahre Zeitfluss, drei Jahre Konzertchef unter Jürgen Flimm, ein Jahr Interimsintendanz, 2011, als Flimm nicht mehr wollte und Pereira noch nicht konnte, reicht das nicht? “Man muss auch mal einsehen, wo man hingehört”, antwortet Hinterhäuser schlicht. Ganz nebenbei bescheinigte ihm nicht nur das österreichische Magazin News 2011 “die seit Kritikergedenken aufregendsten Salzburger Festspiele”.
Wir spazieren weiter, Hinterhäuser zitiert Paul Valéry: “Das Gedächtnis erwartet die Intervention des Gegenwärtigen.” Er wiederholt den Satz des Franzosen mit seiner leisen Stimme wie eine Melodie, als tastete er ihn ab. “Das hat unfassbar viel mit den Dingen zu tun, mit denen ich mich beschäftige. Es betrifft Konzert, Theater, Musiktheater, Inszenierungen.” Heißt das, die Werke verändern sich in der Zeit? “Ja. Auch die politischen Stücke von Nono hören wir 30, 40 Jahre später anders, weil sich die Welt anders darstellt. Sie können ihre Mitteilungen subtil verändern. Wir müssen nur die Gegenwärtigkeit dafür herstellen.”
Salzburgs sahniges Barock und mittelalterliche Mauern bieten dafür sicher keinen schlechten Schutzraum. Der Mann, der die Musik der jüngsten Jahrzehnte hierhergeholt hat, der Wolfgang Rihm mit Brahms verband, Giancinto Scelsi mit Schumann, Verdis Macbeth mit dem von Salvatore Sciarrino, wohnt in einem der ältesten Häuser der Stadt. Neben der Felsenreitschule am Toscaninihof nehmen wir den Felsenfahrstuhl, der zum Büro der Festspiele führt, gehen durch ein paar Türen ins Freie, einen Hangweg über der Stadt entlang, an dem gerade ein kleiner Junge seinen noch kleineren Bruder bedenklich hoch über die Steinbrüstung hält. “Lass das mal lieber”, sagt Hinterhäuser und wartet, bis beide Knirpse wieder sicher stehen.
Ein paar Schritte weiter von hier wohnt er mit seiner Familie. Ein außen schmuckloses, innen verwinkeltes Haus aus dem Jahre 1470. An einer Wand lehnt hinter Glas ein Plakat von 1959: die Absage eines Festspielauftritts von Glenn Gould. Einen Flügel sucht man hier vergebens, Hinterhäuser besitzt bis heute keinen, zum Üben geht er seit Jahren ins Festspielhaus. Er habe sich nie “zweihundertprozentig” als Pianist gefühlt, “fast alle meine innigen Freunde waren Schauspieler.” Die Liebe zum Sprechtheater muss er für seinen neuen Job also nicht erst entdecken. Dem Jedermann, mit dem alljährlich die Festspiele beginnen, kann er sogar vom Garten aus lauschen. Der zieht sich hinterm Haus weiter hoch, knorrige Bäume, in einem ein Baumhaus für den achtjährigen Sohn Jakob. Unmittelbar vorm brüchigen Zaun ragt der Turm der Erzabtei St. Peter mit fast bedrohlicher Wucht in den knallblauen Herbsthimmel.
“Wenn der Föhn die Wolken nach Norden zurückschiebt, atmet das Mittelmeer über die Berge” – der Wahl-Salzburger zitiert den Dichter Gerhard Amanshaus, der gleich nebenan gewohnt hat. Wie auch Kokoschka, der Maler, und der Regisseur Christoph Marthaler. Hinterhäuser spürt hier oben gern das Mittelmeer atmen, er selbst kam im Süden zur Welt, in der Hafenstadt La Spezia, in der sein Großvater Kapitän der italienischen Handelsmarine war. Ihm gefällt die Vorstellung, dass der als Kind am Kai den kleinen Giacinto Scelsi getroffen haben könnte, den späteren Komponisten und mysteriösen, noblen Klangerkunder, den er so liebt. Im vorigen Jahr hat Hinterhäuser Scelsi ein literarisches Denkmal gesetzt, mit einer Übersetzung aus dem Englischen. Unendlichkeit heißt das schmale, lichte, schwebende Buch von Gabriel Josipovici, in dem der Diener des “Mr. Pavone” (wie Scelsi hier heißt) über seinen Herrn Auskunft gibt. Da ist der Programmerfinder einmal dem Metier seines Vater gefolgt, des deutschen Romanisten und Übersetzers Hans Hinterhäuser.
Wir gehen ein Stück weiter den Mönchsberg hinauf, dort hat lange Peter Handke gewohnt, man kann ja mal klingeln. Niemand da, macht nichts. Als wir wieder hinabsteigen und durch den Tunnel hinter dem Festspielhaus gehen, wird Hinterhäuser vom iranischen Kioskverkäufer begrüßt – einem Typ, der den Eingang zur Tiefgarage mit Bach beschallt, Majakowski im Original liest und mit einem Foto von Albert Camus den Rauchern schmeichelt. Natürlich kennt er den netten Kunden mit den schütteren schwarzen Haaren, der nie Krawatte trägt. Alle hier kennen ihn. “Wir sind überselig”, sagt eine ältere Dame, die ihn auf der Straße anspricht. “Ist ja noch eine Weile hin”, sagt Hinterhäuser, fast verlegen.
Wir schlendern wieder ans nördliche Ufer der Salzach, über eine Brücke voller Liebesschlösser am Geländer, “so viele unverbrüchliche Verbindungen gibt’s ja gar nicht, wie hier hängen”, meint er amüsiert, dann setzen wir uns vor das Kaffeehaus Bazar. Ungemütliche Frage: Ist Macht ein Thema? “Warum?”, fragt Hinterhäuser befremdet zurück, zerreißt ein Ahornblatt und denkt nach. “Macht oder das, was man so nennt, beinhaltet Entscheidungen, in denen der eine zum Zug kommt und der andere nicht. Das ist so. In Salzburg wird dem Festspielintendanten sicher ein übertriebener gesellschaftlicher Stellenwert eingeräumt.” Verständlich, wenn eine Stadt fünf, sechs Wochen im Jahr doppelt so viele Festspielgäste wie Einwohner hat. Aber Hinterhäuser kann und will nicht der Machtmensch sein, den viele sich reflexhaft unter einem Intendanten vorstellen. Vielleicht ist die Zeit der großen Häuptlinge in diesen Positionen auch einfach vorbei.
“Das Machtgefühl, das viele sicher haben, ist bei mir nicht so rasend entwickelt”, sagt er so gelassen, bis man Scharen von Alphamännchen wie in einem Affenkäfig vor sich sieht. “Ich habe unglaubliches Glück gehabt.” Und er erzählt von einem Glücksfall, der sich hier im Bazar zutrug. Da fiel ihm in den Neunzigern ein Typ auf, der eine Lachenmann-CD bei sich trug, “die hatte ich auch, wirklich toll. Nun hab ich die äußere Erscheinung dieses Mannes nicht in Zusammenhang bringen können mit Lachenmann und solchen Dingen. Ich hol mir ne Zeitung, lese, er sitzt da immer noch allein …” Irgendwann spricht Hinterhäuser ihn an: “Wunderbare CD, verstehn Sie was davon?” – “Ja, ich bin der Produzent.”
So kam Hinterhäusers erste Klavieraufnahme für Wulf Weinmanns Label collegno zustande, Triadic Memories von Morton Feldman. Mit Strategie wäre nie etwas daraus geworden. Typisch ist diese Mischung aus Neugier, Zufall und dem richtigen Gespür, “dass man ahnt, wann Konstellationen eintreten und dann gut damit umgeht”.
Das heißt freilich nicht, dass ein Intendant in aller Ruhe auf Konstellationen warten kann. Natürlich schaut Hinterhäuser sich Produktionen wie Mozarts Così fan tutte an, Michael Hanekes Inszenierung für Madrid und Brüssel, die er im kommenden Jahr bei den Wiener Festwochen zeigen will – in der Originalbesetzung, aber mit seinem Wunschorchester, der Kammerphilharmonie Bremen. Natürlich wird es auch in Salzburg großes Opernrepertoire geben, “aber je nachdem, in welche geistige Landschaft man es stellt, kann das neuer sein als jede Neue Musik”. Eine Uraufführung pro Jahr? “Das ist nichts als statistische Befriedigung für den Intendanten. Unendlich viele Werke sind wieder verschwunden. Um ein neues Stück muss man sich wirklich kümmern.”
Und um 280 ganzjährige Mitarbeiter und 5.000 sommerliche Saisonkräfte auch – und um die “Sympathie, Freundschaft und Identifikation mit dem Publikum”. Dafür seien fünf Jahre Intendanz eine realistische Zeit, auch wenn viele ein Dreijahresmodell wie bei der Ruhrtriennale für zeitgemäßer halten. “Der eine hat noch nicht angefangen, da steht schon der Nächste im Büro. Das sind für die Beteiligten und den ganzen Betrieb schwer zu bewältigende psychologische Situationen, die auch viel kosten.” Hinterhäuser sieht es als Symptom einer “Krise des ganzen Systems”, dass sich das Leitungskarussell in Salzburg zuletzt immer schneller drehte: zehn Jahre Mortier, fünf Jahre Peter Ruzicka, vier Jahre Flimm, drei Jahre Pereira.
Er kann sich noch genau daran erinnern, wie er zeitgleich mit der Presse erfuhr, dass es sein Zeitfluss-Festival nicht mehr geben würde, elf Jahre ist das her. Solche Rückschläge steckt er nicht einfach weg. “Aber bei mir geht dann immer eine andere Tür auf. Ich bin am selben Tag nach Zürich gefahren zu den Proben für Marthalers Schöne Müllerin und habe mich da reingestürzt.” Ein wahnwitziges Liedertheater um Franz Schubert, in dem Hinterhäuser den Pianisten gab, als “Sehnsuchtstrauerkloß”, wie es damals hieß. “Dieser Anfang!”, schwärmt er. “Immer nur die erste Strophe, dreizehn, vierzehn Mal. Das Wandern, das Wandern …”, er spielt immer wilder Klavier auf dem zerrissenen Ahornblatt neben der Kaffeetasse, “raddldidiraddldidi, das Wandern … bis du wirklich nur noch das Wort Wandern gehört hast! Gehn wir noch ein paar Schritte?”
Der Text erschien am 7.11.13 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt