Das Leben hinter den Noten

Unter Hunderten von Supergeigern war sie die richtige: Jetzt verjüngt die 26-jährige Vineta Sareika das fabelhafte Artemis Quartett

Sollte es wieder eine Frau sein? Als die drei Männer von ihrer Partnerin verlassen wurden, war erst mal nur eines klar: Man musiziert sich nicht zum Weltruhm hoch, um an einer Trennung zu scheitern. Auch nicht, wenn eine grandiose Geigerin wie Natalia Prishepenko die Koffer packt. Prishepenko war seit 1994 Primaria im Artemis Quartett, seit Beginn der professionellen Karriere des Ensembles. “Ich persönlich”, sagt Cellist Eckart Runge, 46, der als einziger Gründer geblieben ist, “hatte eine leichte Präferenz für eine Dame und drei Herren, die Gruppendynamik gefiel mir. Aber letztlich war es eine künstlerische Entscheidung.” Er lacht – wie Vineta Sareika, die neue Geigerin.

Sie lacht oft in diesem Gespräch, mit ihrer etwas rauen Stimme, die so anders ist als ihr Geigenton. Wie süß, zerbrechlich, nachdenklich der sein kann, das hat man auf der jüngsten Tournee gehört. In Stuttgart war es, im dritten Satz des c-Moll-Quartetts von Brahms, als spielten die vier Musiker ihr Kennenlernen nach. Ganz links die blonde Lettin, rechts der Bratscher Friedemann Weigle mit biblisch langem Haar, dazwischen der zweite Geiger Gregor Sigl und der Cellist. Dem furiosen Aufbruch im ersten Satz waren sie gemeinsam gefolgt, nun aber stand Vineta da wie eine traurige Fremde. Ketten kleiner Seufzer in der ersten Geige, dazu ein gemessener Tanzrhythmus.

Irgendwann löste sich der Bann, alle standen einzeln da wie in sanftem Sommerregen und fanden einander neu. Man begriff, dass es bei Brahms, dem Formbewussten, doch um Menschen geht. Manchmal war es fast, als erscheine eine fünfte Gestalt zwischen den vieren. Auch in der Musik gibt es so etwas wie magischen Realismus. Wegen solcher Erlebnisse ist man immer wieder gespannt auf das, was das Artemis Quartett macht. Kein Wunder, dass die 26-jährige Geigerin nervös wurde, als vor zwei Jahren der Anruf aus Berlin kam.

“Es gibt Hunderte von Supergeigern”, sagt Eckart Runge, “aber das reduziert sich schnell, wenn es um ein Quartett geht.” Drei Frauen und drei Männer wurden vor zwei Jahren eingeladen, um mit dem zweiten Geiger, dem Bratscher und dem Cellisten zunächst gemeinsam etwas durchzuspielen, sich dann beim Mittagessen gesprächsweise ausquetschen zu lassen und schließlich zu proben. Wie ist das, wenn jemand mit uns arbeitet, wollten die drei wissen. Wie bringt er oder sie sich ein als Solist, als Teamplayer, welche Ideen kommen da? Ein Werk von Schubert stand auf den Notenpulten, ausgerechnet Schubert, von dem das Ensemble gerade drei Quartette aufgenommen hatte. Vineta Sareika hielt den Druck gut aus. “Es war so eindeutig”, sagt Runge, “dass wir die zweite Runde geknickt haben.”

Die Geigerin hat Erfahrung in vielen Bereichen. Sie war Konzertmeisterin der Flämischen Philharmonie in Antwerpen, hat es beim mörderischen Brüsseler Wettbewerb “Reine Elisabeth” bis ins Finale geschafft und mit einer Pianistin und einem Cellisten aus Frankreich das Trio Dali gegründet – das wiederum an einem Meisterkurs der “Artemisse” teilnahm. Seitdem kannte man sich. Eine fließend Französisch sprechende Baltin also, die gut in ein so heterogenes Ensemble passt. Ein sensibler Bayer an der Geige, ein geerdeter Ostberliner an der Bratsche und ein Cellist, der sich als energischer Zugereister vom Berliner Geist inspirieren lässt.

Auf solche Leute hat Felix Mendelssohn offenbar gewartet. Nicht dass es an Aufnahmen seiner Quartette fehlte, auch nicht an vorzüglichen. Es gab in jüngster Zeit, von den Emersons über die Mandelrings bis zu Ebène und Minetti, fast einen Boom, der vieles wettgemacht hat von der unsäglichen Rezeption, die bräunliche Blödheit bis in die 1970er transportierte und den Komponisten bestenfalls elegant fand. Aber der Schritt vom analytischen Ernstnehmen und Mitempfinden dorthin, wo Mendelssohn in autarker Größe neben Beethoven und Brahms sichtbar wird, der ist erst dem verjüngten Artemis Quartett auf seiner neuen Doppel-CD gelungen.

Es ist nicht nur die konzertführerübliche “überschäumende Lebensfreude”, mit der uns der 29-jährige Komponist in seinem D-Dur-Quartett anfällt. Er kann sich seiner Gedanken kaum erwehren. Je präziser er und diese Musiker sie formulieren, desto mehr scheinen es zu werden. Nur Hochspannung hält die Form. Das ist nicht Biedermeier, das ist Metropole, man sieht elektrisches Licht statt Gaslaterne. Und das Andante espressivo: seufz, wie schön! Das auch. Aber mittendrin ziellose Aufstiege der ersten Geige in heftigster Verzweiflung, ein andermal unter endlosem Trillern auf dem Cis ein Kämmerlein, in dem sich die tieferen Streicher leise murmelnd das Material noch mal ganz anders ansehen.

Vielleicht klingt das auch so lebendig, weil die vier diese Musik allesamt als Neulinge erkunden. “Wir fanden, dass wir Mendelssohn viel zu wenig kennen”, meint Runge, “und hatten ihn schon eingeplant, als Natalia noch da war.” Das erwies sich als Glücksfall, denn nun konnten sie zusammen mit der Nachfolgerin den Komponisten entdecken. Nach einigen Konzerten entschloss man sich zur Aufnahme – auch des letzten Werks des Komponisten, seines Opus 80. Es ist üblich geworden, darin vor allem ein Requiem auf die geliebte Schwester Fanny zu hören (der Felix ein halbes Jahr später nachstarb), doch diesmal erlebt man mehr: eine ungeahnte Verschärfung der Spannungen.

Was dieser Steilstarter ausgehalten haben muss als Musterwunderkind an der Schnittstelle zwischen jüdischen und christlichen Traditionen, das ertönt in messerscharfer Vehemenz. Beim Mandelring-Quartett schlägt sie ins Gejagte um, bei Artemis kommt etwas anderes dazu: ein Weltglanz, der den Europäer Mendelssohn wachruft, den Reisenden, Gefeierten, den Star. Die intimste Passage hört man so anrührend herausgearbeitet wie nie zuvor – wenn die Musik im ersten Satz aus schwärzestem f-Moll nach D-Dur gerät und das D-Dur-Präludium aus dem ersten Buch von Bachs Wohltemperiertem Klavier wörtlich aufscheint: ein Zitat aus den Klavierkindertagen der Geschwister.

Dass dagegen das Adagio etwas schluchzend und vibratoreich gerät – und wenn schon. Vielleicht machen die vier Musiker es inzwischen schon wieder anders, die bei jedem Konzert das kleine Aufnahmegerät aufs Podium legen. “Sonst hätten wir jedes Mal vier verschiedene Bilanzen”, meint Runge. “Dem einen war etwas zu schnell, einer fand es genau richtig, einer zu langsam. Mit dem Mitschnitt können wir die Eindrücke konkreter machen.” Wie subjektiv neben dem Spielen das Hören ist, weiß auch Vineta Sareika: “Ich bin manchmal nicht in der Stimmung und sehe nicht die Sterne, die da funkeln.” Ein Satz, den sich auch Kritiker merken dürfen.

Einstweilen funkeln die Sterne überm Artemis Quartett so hell, dass man leicht die Probleme der Branche übersieht. 80 Profiquartette haben sich in den letzten 20 Jahren gegründet. Sonia Simmenauer, die als Agentin auch das Artemis Quartett betreut, glaubt, dass nur ein Viertel überleben wird (ZEIT Nr. 12/13). Steigende Saalmieten, sinkende Etats stünden im Gegensatz zum Boom der Quartette. Eckart Runge mag das nicht ganz so dramatisch sehen. “Es ist schwieriger geworden, aber ich würde keinem abraten.” Zudem werde Kammermusik im Zeitalter medialer Beballerung immer attraktiver. “Es gibt eine neue Sehnsucht nach kleinerer Form, nach wahrhaftigerem Gehalt.”

In ihr vereinen sich silberhaarige Connaisseurs mit der Generation Facebook. Als das Ensemble neulich im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie auftrat, immerhin 1180 Plätze, waren bezeichnenderweise die teuersten und die billigsten Karten zuerst ausverkauft. Ein Heimspiel, sicher. Aber auch Riga war ein Heimspiel, schließlich kommt Vineta Sareika von da. “Sie ist dort ein Superstar”, sagt der Cellist fröhlich, während die Geigerin die Augen verdreht, “und ihre Leute haben uns einfach als lettisches Quartett adoptiert. So als hätte sie uns ausgesucht.” Sieht so aus, als hätten die drei Männer die richtige Frau gefunden.

Der Text erschien am 22.5.14 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt