Zwischen Nogos und Togos

Ach, die Sechziger, die Siebziger! Neulich hat eine Autorin der Süddeutschen von ihren jüngsten Jahren geschwärmt, als man auf der Autobahn noch unangeschnallt in den Urlaub fuhr, während die Eltern vor den Kindern rauchten und Underberg tranken. Die Klage über die heutigen Tabus wird allgemein lauter, vermutlich auch, weil maßgebliche Autoren jetzt ins Wehmutsalter kommen, aber es stimmt: Früher waren alle lockerer. Wie ich um 1970 herum auf der Straße und in Höfen spielte, das würden wir unseren Jungs nicht erlauben. Es war durchaus nicht ungefährlich, aber nicht mal meine vorsichtige Mama zögerte eine Sekunde, mich auf die freie, asphaltierte Wildbahn zu lassen.

Wir spielten im unbegrünten Hof zwischen unrenovierten, gammeligen Häusern ja nicht artig mit Bällen und Playmobil. Wir krochen auf Lagerschuppendächer, von denen man tödlich hätte stürzen können, wir rannten auf die Straße, wir begegneten unbekannten, stärkeren Kindern und schnitzten uns brutal spitze Holzspeere. Das waren ja alles peanuts neben den Erlebnissen der Eltern und Angehörigen. Meine Mama floh als Kind mit ihren Eltern aus dem brennenden Königsberg, ihr Bruder strich mit fünfzehn und real bewaffnet durch das ruinierte Berlin, weil man ihm das befohlen hatte und es ihm wie ein Abenteuer vorkam, mein Papa kletterte auf einem geschrotteten Panzer im Wald herum.

Was Wunder, dass sie sich mit ihren Kindern im Hannover der 60er wie in Abrahams Schoß fühlten? Dass keiner die Kleinen gefährdet sah, wenn sie zur abendlichen, verqualmten Partyrunde stießen? Nie wäre ich auf die Idee gekommen, meinem pfeiferauchenden Vater zu erklären, wie ungesund er lebe. Heute bin ich es selbst, der dem fünfjährigen Frido halbzerknirscht die Schädlichkeit des Tabaks erläutert, und der einen Zaun ziehen lässt, damit der zweijährige Paul nicht vom Hof auf die Straße läuft – und zwar eine, über die pro Tag höchstens zwanzig Autos, zehn Trecker und zwei Busse fahren, übrigens im Schrittempo. Offiziell muss es Schritttempo heißen, seit 1996.

Die logischen, aber idiotischen drei „t“s stehen symbolhaft für den Verhau von Vorschriften, die alle begründet sind, aber eine nicht genau zu definierende Freiheit einschränken in einem Maße, das der Angst vor Bespitzelung entspricht und einem in die Gene wächst. Man darf auch keine alten Strohballen mehr auf Feldern abbrennen. Es ist einfacher, Atommüll zu entsorgen als alte Strohballen. Man kann sie nur als Bauschutt loswerden, für 35 Euro pro Kubikmeter! Die großen Feuer lässt man ruhig brennen, die Tropenwälder und die Krisenherde. Doch die kleinsten Qualmer sind verboten oder unter schwerem Verdacht.

Rauchen gilt zusehends als „no go“ und prollig, wer hingegen mit einem Pappbecher herumläuft, „to go“, wirkt vielbeschäftigt und vermehrt sein Ansehen. Die Gesellschaft droht in Nogos und Togos zu zerfallen. Schon deswegen wäre ich, obwohl nicht christsozial, ganz froh, wenn der Kettenraucher Jean-Claude Juncker zum EU-Präsidenten würde.

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