Paul erneuert die Polyphonie

Schlaflieder sind einfach und beruhigend, das weiß man, davon bin ich bis gestern auch ausgegangen. Gerade hatte ich das „Mondlied“ gesungen für Frido und Paul, „Der Mond ist aufgegangen“ in eigener Fassung, den Knaben einschläfernd gut bekannt. Da wollte Paul mehr und zog die Strippe des Igels, der am Bett hängt. Es erklang eine wohlbekannte Weise. “Wie geht noch der Text?”, fragte ich mich, da erklang schon die nächste. Er hatte nun auch den großen Stoffmond mit der Spieluhr aktiviert: „Lalelu, nur der Mann im Mond schaut zu…“

Paul hörte aufmerksam zu. Ich fand es komplex. Igel und Mond sind beide in As-Dur gestimmt, aber mit einem Drittelton Unterschied. Außerdem hatten die Lieder in abweichenden Tempi nacheinander begonnen. Ein Vierertakt mit Metronomzahl 104, einer mit 112 Vierteln pro Minute. Wahnsinn! Ein schimmerndes Geflecht pingelnder Einschlaftönchen spann sich um Pauls Bett, da nahm er den Hasen und zog auch dem an der Strippe. F-Dur, Metronomzahl 94, „Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein…“ Welcher Prinz soll bei sowas einschlafen?

Dieser jedenfalls lag da und schaute ins Dämmerlicht so ernst, als sähe er das megakomplizierte, mikrotonal und metrisch ineinander verschobene Schlafliedertrio als Partitur vor sich, präzise interpretiert von zwei Kuscheltieren und einem Plüschmond. Charles Ives, dachte ich, der wäre begeistert. Er hat 1917 in „The Things our Fathers Loved“ sechs verschiedene Volkslieder übereinander gelegt, und die Stimmen einer Fuge in vier verschiedenen Tonarten starten lassen. Pauls Trio ging an Subtilität natürlich weit darüber hinaus. „Schlaf gut!“ sagte ich.

Er schlief tatsächlich gut, aber ich nicht. Mir fiel der Text zur Weise des Igels nicht ein. Ich suchte im Netz, da gibt es Melodieerkennungshilfen. Man kann dem PC etwas vorsingen oder auf der Tastatur eines „Flashpiano“ Töne eingeben, das tat ich. Ergebnisse: Der „Gondoliere“ von Liszt, eine asturische Volksweise und der Anfang von Mozarts „Jagdquartett“, alles Meilen von unserer Melodie entfernt. Ich versuchte es auch noch mit rhythmisch korrekter Notation und landete bei einem Concerto grosso von Händel. Die digitale Technik steckt noch in den Kinderschuhen.

Nachts träumte ich von einem Avantgardistentreffen, bei dem Hasen und Igel mit Nerdbrillen zu beiden Seiten eines Ackers saßen, dessen Furchen die Notenlinien einer gewaltigen Partitur bildeten, hell und fahl beschienen von einer Mondsichel, aus deren Spitze Tropfen fielen, um in den Furchen Noten zu bilden, Klangpfützen, die von den Hasen und Igeln gesampelt wurden, eingespeist in Rechner, umgewandelt in splittrige sounds, die sich zum Rauschen verdichteten, aus dem sich schließlich ein altmodisches Telefonklingeln herausarbeitete: mein Handywecker.

„Telefonieren!“, dachte ich, „vergiss das Netz, ruf Mama an!“ Ich zog den Igel auf und ließ ihn seine As-Dur-Weise ins Handy plinkeln. Meine Mutter sang die Töne nach und rief meinem Vater zu: „Kennst du das?“ Papa musste es wissen, als weltbester Musiklehrer. „Guter Mond, du gehst so stille!“ Nun kann ich ruhig schlafen. Paul, dem Strippenzieher, steht eine Zukunft als Erneuerer der Polyphonie offen. Die Integration volkstümlichen Liedguts in die Kunstmusik, ein Projekt von Jahrhunderten, darf man indessen als abgeschlossen betrachten. Na dann – gute Nacht!

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