Ein Morgen am Rand des Universums

Wahrscheinlich würden sich jedem Astrophysiker die Brillenbügel kräuseln, vernähme er die Gespräche, die Frido und ich mitunter so haben, während wir zum Kinderhaus fahren. Diesmal will er wissen, wie lange es die Erde noch geben wird. „Mindestens vier Milliarden Jahre“, sage ich, „und noch länger, als es sie sowieso schon gibt.“ „Und dann?“ „Dann bläht sich wahrscheinlich die Sonne auf und schmilzt alle ihre Planeten ein. Du brauchst dir aber keine Sorgen zu machen, bis dahin haben die Menschen bestimmt einen Planeten gefunden, auf dem sie auch leben können. Das ist noch SEHR lange hin.“

Er macht sich auch eher Sorgen um die Sonne, die jetzt rechts von uns sehr anmutig orangefarben auf die Felder scheint. Was die denn dann mache? „Nachdem sie sich aufgebläht hat?“ „Ja.“ „Dann sackt sie zusammen und wird viel kleiner als vorher. Und viel schwerer, denn sie hat ja all ihre Planeten aufgefressen.“ Ich zeige auf die Bäckerei, an der wir gerade vorbeifahren. „Siehst du das Haus da? Stell dir vor, man würde es schaffen, das ganze Haus in diesen Rucksack zu stopfen. Ich habe keine Ahnung, wie man all die Steine so zusammenpressen kann, aber der Rucksack wäre WAHNSINNIG schwer.“

Er lacht, die Vorstellung gefällt ihm. Ich finde es eher gruselig, aber jetzt führt an der Gravitation kein Weg vorbei. „So ein Klumpen wie diese schwere Sonne hat eine ganz starke Anziehungskraft. Er lenkt sogar Lichtstrahlen ab.“ Es sei so, als würde ich den Lichtstrahl einer Taschenlampe auf Paul richten, während Frido daneben den superschweren Rucksack mit dem Haus darin hält. Die Gravitation des Rucksacks würde den Lichtstrahl von Paul wegbiegen. „Deswegen nennt man diese zusammengeschrumpften Sonnen schwarze Löcher. Obwohl es keine Löcher sind, lassen sie alles um sich herum verschwinden.“

„Auch was fünftausend Meter weit weg ist?“ „Na hör mal! Fünftausend Meter, das ist nichts, das ist so weit wie von uns bis zur Autobahn.“ „Und wenn alle Sonnen schwarze Löcher geworden sind?“ „Es werden ja immer neue geboren“, wage ich kenntnisfrei zu behaupten. „Und wo ist das Universum zu Ende?“ „Ohje. Das ist ein bisschen kompliziert. Es dehnt sich aus, das haben die Forscher rausgefunden. Es dehnt sich aus wie ein Luftballon, den man aufbläst. Aber der hat ja eine Haut, an der er zuende ist. Das Universum hat wohl keine Haut, an der es zuende ist. Da müssen die Forscher noch sehr viel erforschen.“

So. Mehr weiß ich nicht. Das, liebe Astrophysiker, ist die bittere Wahrheit, mehr habe ich bislang nicht begriffen. Falls aber die Wissenschaft inzwischen VIEL weiter sein sollte, erinnere ich höflich daran, dass die Menschen im 17. Jahrhundert, auch die allermeisten gebildeten, noch Jahrzehnte nach Galilei zwar wissen konnten, dass da ein kopernikanisches Modell zur Diskussion stand, aber doch weiterhin davon ausgingen, dass die Sonne sich um die Erde dreht. Meine Privattheorie ist ja, dass die Erde trotz ihrer Randlage der geheime Mittelpunkt des Universums ist, weil es nur hier Zuschauer für das gigantische Spektakel gibt. Aber das ist schon eine sehr ästhetische Perspektive…

„Papa“, sagt Frido, als wir aussteigen, „das wusste ich schon alles, was du erzählt hast.“ „Wirklich?“ „Ja, aber ich wollte mal hören, wie du es erzählst.“

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