Das Unwetter, das der Liebfrauenkirche in Arnstadt die Spitze vom Nordturm geschossen hatte, von der ein Teil in ein Wohnmobil Marke „Komet“ krachte, war weitergezogen, der Himmel blaute makellos, der Zug nach Göttingen war pünktlich, ich simste: „Komme 21.17 in H an.“ Sehr leichtfertig. Gotha wurde pünktlich erreicht, das Heilbad Heiligenstadt auch. Da standen wir jetzt. Mittlerweile hatte sich der Himmel bezogen, ich schrieb Mails und nahm eine sich etwas verzögernde Weiterfahrt in Kauf, ich hatte einen Zeitpuffer.
Es dauerte. Ich ging auf dem Bahnsteig eine rauchen, wo drei Zugbegleiter plauderten. Dann kam die Durchsage, wegen eines Unwetters sei das Gleis blockiert, wer nach Göttingen wolle, müsse hier den Zug nach Eichenberg nehmen. 120 Leute stiegen aus. Der Zug kam pünktlich. Neben mir nahm ein Schwerstbehinderter Platz. Er wollte nach Bielefeld. Ein witziger Mann. Er meinte, was das Wetter angehe, verhalte sich die Bahn meist wie einer, der die Gebrauchsanleitung des Feuerlöschers erst liest, wenn es brennt.
In Eichenberg wurde es knapp. In zehn Minuten von Gleis 10 bis Gleis 4, ohne Fahrstuhl, das war für den Mann nicht zu schaffen. Ich schnappte mir seinen Koffer, ein anderer half ihm beim Treppensteigen; er konnte linkes Bein und linken Arm nicht benutzen. An Gleis 4 stand vor dem Zug ein Mann in Leuchtweste, der sagte, dieser Zug fahre nicht. Dann lief einer auf Gleis 5 ein. Angeblich nach Göttingen. Alle rasten runter in den Tunnel und wieder rauf, wie in „Die Ferien des Monsieur Hulot“. Aber Hulot war nicht schwerstbehindert.
Ich blockierte die Tür, damit der Bielefelder es schaffte, aber das war nicht nötig. Der Zug stand und stand. Er schaffte es bequem, nur nicht in den Zug. Die Stufe war so hoch, dass wir ihn heben mussten. Der Zug stand immer noch, kein Personal war zu sehen. Hatten wir ein Geisterschiff bestiegen? Ich eilte vier Wagen weit zum Steuermann. Pochte ans Glas. „Können Sie mir sagen, ob und wohin dieser Zug fährt?“ „Wenn, dann nach Göttingen. Die Zentrale hat etwas Stress.“ „Hier haben auch Leute Stress“, sagte ich und eilte zurück.
Eine Durchsage kam, unverständlich. Eine Klassenlehrerin hatte die Information, dass dieser Zug nicht weiterfahren würde. Der Bielefelder hatte Schweiß auf der Stirn und sagte: „Ich verliere das Vertrauen.“ Alle stiegen aus. Schienenersatzverkehr? Es wurde nichts durchgesagt. Es hat begonnen, dachte ich, Europa bricht zusammen. „Ich rufe uns ein Taxi“, sagte ich dem Bielefelder. Wir hoben ihn wieder aus dem Waggon. Ich bekam tatsächlich ein Taxi. Es begann zu regnen, aber der Bahnhof Eichenberg hat kein Vordach mehr.
120 Leute wurden nass und hofften auf den Schienersatzverkehr, von dem keine Durchsage etwas verlautet hatte.Vor meinem Taxi kam ein anderes, das hatte die Bahn geschickt. „Zuerst setzt sich dieser Herr hinein“, sagte ich und winkte dem Bielefelder. Ich schob seinen Koffer rein, derweil eroberten drei Rentner die Rücksitze. „Sie fahren nicht mit?“, sagte er enttäuscht. „Ich nehme das nächste Taxi.“ „Danke!“, sagte er noch. Als mein Taxi auf dem Weg nach Göttingen war, kam uns ein Bus entgegen: Schienenersatz, kleine Überraschung!
Um 23.17 kam ich in Hannover an. Immerhin. Mich hätte ja auch in Arnstadt eine Turmspitze treffen können. Ohne Ansage, das kennt man ja.
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