Von einem neuen Ballerspiel, in dem man beim Kampf gegen Terroristen auch den Eiffelturm zertrümmern kann, wurden am ersten Tag nach der Veröffentlichung 6,5 Millionen Exemplare verkauft. Am selben Tag kamen schon sieben Millionen Stunden zusammen, die Leute, die sich „Call of Duty“ gekauft hatten, mit dem Ballerspiel verbrachten. Das sind umgerechnet 799 Jahre. Können Sie gerne mal nachrechnen. Wer so lange lebt, hätte im Alter von 36 Jahren der Grundsteinlegung des Kölner Doms beiwohnen können, mit 668 Jahren dessen Fertigstellung erlebt und dürfte jetzt erfüllt das Zeitliche segnen.
Sieben Millionen Stunden sind etwa ein Drittel der Arbeitszeit, die für den Eiffelturm aufgebracht wurde. 3000 Metallarbeiter haben 26 Monate lang an dem Eisending genietet. Würden sich die Ballermänner des Planeten konstruktiv zusammentun, hätten sie in drei Tagen ein Bauwerk hingestellt, dessen virtuelle Nachbildung sie jetzt in wenigen Sekunden in Schutt und Asche legen. Pro Tag würde ihnen die Privatwirtschaft der EU dafür 155 Millionen Euro zahlen. Stattdessen zahlen sie selbst dafür, sich Level für Level hochzukämpfen, bis sie die richtig großen Türme umnieten dürfen. Ist ja auch ihre Sache.
Aber eine Anballung von 799 Jahren an einem Tag, auf ein Projekt bezogen, das lässt einen schon ins Grübeln kommen. James Joyce arbeitete sieben Jahre lang an seinem „Ulysses“. Mal angenommen, er saß an 300 Tagen des Jahres je acht Stunden lang am Schreibtisch. Es kämen lächerliche 16800 Stunden dabei heraus. Selbst wenn wir annehmen, dass Joyce nicht mal selbst den Müll runterbrachte, und die Arbeitsstunden für „Ulysses“ auf 20000 aufrunden, steckten in den an einem Tag mit „Call of Duty“ verbrachten Stunden ganze 350 epochemachende Werke vom Format des „Ulysses“. Soviel Genie auf einmal würde allerdings kein Publikum verkraften, das muss nicht sein.
Aber es lassen sich ja auch andere Optionen erwägen, besonders da einer der Reize von „Call of Duty“ darin besteht, dass man online gegen andere Spieler antritt, egal, wo sie sitzen. So gesehen ist es der destruktive Gegenentwurf zu konstruktiven Kollektivaktionen im Netz, wie etwa „Wikipedia“. Man stelle sich vor, wieviele Wikipedia-Artikel an einem Tag entstünden, an dem sieben Millionen Stunden dafür aufgewendet würden. Oder was sich sonst anstellen ließe, wenn sich so viele Leute mit einem gemeinsamen Interesse online an die Lösung eines Problems setzten, Probleme gibt es ja genug.
Ich finde nicht, dass man dauernd Gutes tun oder Werke wie „Ulysses“ lesen oder schreiben sollte. Acht Jahrhunderte globales Ballern am Bildschirm an einem Tag sind aber ein Horrorszenario, gegen das vorerst nur weitere Zahlen helfen: 6,5 Millionen Bildschirmkrieger sind nicht mal ein Tausendstel der Weltbevölkerung. Und selbst sie bringen zwischendurch wahrscheinlich wenigstens mal den Müll runter. Es gibt noch Hoffnung.
Dieser Text erschien am 3. Dezember 2011 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung sowie 2012 in der Kolumnensammlung “Mann, Frau, Affe” (Zu Klampen Verlag) und ist urheberrechtlich geschützt. Die Weltbevölkerung ist seit der Erstpublikation vor knapp vier Jahren um 800 Millionen Menschen gewachsen. Mit “Call of Duty”, von dessen 11. Variante im Text die Rede ist, werden bis zu 500 Millionen Dollars Umsatz pro Tag erzielt. Die demächst erscheinende 15. Variante soll in der “dystopischen” Zukunft des Jahres 2065 spielen.