“Ich hab´ mir das selber beigebracht…”

Wie Ottavio Dantone vom toy piano ans Pult der Scala kam – und zu einer Pariserin, die perfekt italienisch singt und englisch spricht

Ich hasse Barockmusik“, sagte der ältere Dirigent zum jüngeren, „aber ich mochte Íhr Konzert und die Art, wie Sie das machen.“ Ottavio Dantone grinst in seinen Bartschatten hinein, als er von dieser Szene erzählt, 1999 in Ravenna. Er hatte sich überhaupt erstmals öffentlich ans Dirigentenpult gewagt, mit knapp vierzig Jahren, und Riccardo Muti hatte zugehört bei einem Auftritt der Accademia Bizantina, mit historischen Instrumenten. Die waren noch immer indiskutabel für einen Maestro wie Muti, den Musikdirektor der Mailänder Scala. „Aber er fragte mich sofort, ob ich sein Assistent werden wolle, und ich nahm an.“ So begab es sich, dass Ottavio Dantone in der folgenden Saison gleich zehnmal die Nina von Paisiello dirigierte, an der Scala di Milano, in der Stadt seiner Geburt.

Davon hatte er keineswegs geträumt. „Ich war glücklich mit Cembalo und Orgel“, meint er, der mittlerweile überall in Europa  Opern dirigiert, von Madrid bis Berlin, von Glyndebourne bis Zürich. Hier ließ er vor einem Jahr Antonio Vivaldis „La verità in cimento“ funkeln und prasseln zur szenischen Selbstzerlegung einer verlogenen Wohlstandsfamilie. Die furiose Zofe Damira sitzt Ottavio Dantone jetzt gegenüber auf dem Sonnendeck der Züricher Dramaturgie, über das ein erfrischender Seewind streicht, und ist diesmal einfach nur Delphine Galou, Sängerin, Frau des Dirigenten, Mutter der kleinen Mélusine, die zwischen uns sorgsam auf ein Blatt zeichnet, und unsere Sprachhelferin. Ottavio findet sein Englisch nämlich unzureichend, und das Englisch von Delphine ist besser als seines und meines zusammen.

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Natürlich haben sich die beiden bei einer Opernproduktion kennengelernt, unter ziemlich kuriosen Umständen, aber ganz normal ist sowieso selten etwas gelaufen bei diesem Musiker, dem ausgerechnet ein Wort so oft nicht auf Englisch einfällt, dass Delphine beim dritten Mal schallend lacht: „Success!“ Dass ihn Erfolg nicht interessiert, nicht im handelsüblichen Sinn, mit Kohle und Karriere, begreift man schnell. Musik interessierte ihn, in dessen Familie niemand musizierte, schon, als er fünf Jahre alt war. „Ich hab´mir das selber beigebracht, Noten lesen und schreiben, das dauerte, bis ich neun war. Meine Eltern schenkten mir ein Spielzeugklavier, das war unglaublich. Es hatte zwei Oktaven und unten sechs Tasten mit fertigen Akkorden und ein Buch mit Nummern für die Finger.“ Das wurde seine Autodidaktenbasis.

Als er sieben war, kam die Erleuchtung, mit einer Fernsehsendung. Armando Trovajoli, italienischer Jazzpianist und Filmkomponist, spielte mit dem RAI-Orchester das d-Moll-Konzert von Johann Sebastian Bach, natürlich am modernen Flügel. „Die Interpretation war nicht gerade philologisch, aber Bach kannst du spielen egal wie, diese Musik überlebt alles, ein Wunder. Er gehört zum 18. Jahrhundert, aber wenn wir über die Musik dieser Epoche sprechen, sollten wir Bach weglassen, er ist exterritorial. E.T. Bach! Er konnte nie nach Italien kommen, transkribierte aber jede Menge italienischer Musik und schrieb dann selbst die beste italienische Musik von allen. Dieser unglaubliche Dialog zwischen Klavier und Orchester im d-Moll-Konzert! Da begann meine passion for baroque music zu brennen. Da hab´ ich gesagt, das will ich auch spielen.“

Ein Klavier wurde beschafft, zwischen dessen Saiten Ottavio Papier steckte, damit es ein bisschen nach Cembalo klang. Mit neun sang er im Kathedralchor von Milano, dessen Chef ihn auch mal an die Orgel ließ und am Konservatorium sein Orgellehrer wurde. Außerdem unterwies er ihn in Kontrapunkt und Harmonie, „sehr streng, überall fand er Quintparallelen! Der Sinn der Sache war… riuscire?“ Er blickt zu Delphine. „To succeed!“ „Es zu schaffen, mit einer Menge Regeln schöne Musik zu schreiben!“ Und das Cembalo? „Mit siebzehn besorgte ich mir einen Bausatz aus den USA. Ich habe mein erstes Cembalo selbst gebaut und mir das Spiel darauf selbst beigebracht.“

Die Cembalistin Emilia Fadini, Spezialistin für barocke Rhetorik am Mailänder Konservatorium, nahm dann mit ihm die Stücke auseinander. „Sie lehrte mich, dass Musik nicht abstrakt ist, sondern in den kleinsten Dingen eine Bedeutung steckt. Absteigende Chromatik für Lamento, aufsteigende Sexte für Triumph, fallende Quinte für Resignation, hunderte solcher Bedeutungen.“ Natürlich könne man nicht in jedem Fall wissen, welcher dieser Affekte einem Komponisten vorschwebte, „aber diese Art, Musik zu lesen, hilft, um maximal emotion zu erreichen. Sogar für den Moment der heftigsten Emotion gibt es in der Struktur der barocken Musik einen bestimmten Platz. Das klingt ein bisschen schematisch, aber nur, wenn man das weiß, erreicht man Freiheit.“

Spielt das bei Mozart noch eine Rolle, dessen Clemenza di Tito er jetzt in Zürich dirigieren wird? „Die Verbindung von Wort und Ton wurde im 18. Jahrhundert metabolisiert, sie ging sozusagen in den Stoffwechsel über, sie spielte eine Rolle in der Psychologie der Komponisten, sie existierte im Verborgenen.“ Gerade Mozarts Tito, meint Ottavio, sei aber auch ein Rückgriff auf die Vergangenheit. „Er schrieb eine opera seria zu der Zeit, als sie schon aus der Mode kam. Es gibt also Rezitative und Arien und Koloraturen, aber er reduzierte drei auf zwei Akte und baute Ensembles wie in der opera buffa ein. Es ist sozusagen eine postmoderne opera seria, eine ganz andere Art zu komponieren als gleichzeitig in der Zauberflöte oder vorher in den Opern mit da Ponte. Man kann die nicht vergleichen, aber für mich ist die Partitur voll mit seinem Genie.“

Es ist wohl kein Zufall, dass der Tito erst in jüngsten Jahrzehnten wieder geschätzt wird, in denen sich die Art, Mozart zu spielen, gravierend verändert hat. „Das ist eine andere Welt geworden“, meint Ottavio, „der Einfluss von Nikolaus Harnoncourt war dabei sehr, sehr wichtig. Es gibt in den modernen Orchestern eine neue Generation von Musikern, die die musikalische Sprache, die Philologie, die Artikulation beherrschen.“ Aber besteht derweil nicht bei den Spezialensembles sogar schon die Gefahr, dass sich ein mainstream der historical correctness bildet, ohne Überraschungen? „Viele dieser Gruppen sprechen nun mal dieselbe Sprache. Manche Musiker wollen unbedingt etwas anders machen, sie sind extrem, um aufzufallen, aber das ist nicht die richtige Art, Musik zu machen. Das wichtigste ist, sincere zu sein, aufrichtig.“

Im Italien der 1980er freilich fielen die Pioniere ganz von selbst auf. Es waren überall die Gründerjahre der heute maßgeblichen Generation historisch informierter Musiker. In Mailand wurde „Il giardino armonico“ gegründet, „mit einem Probenraum, der halb so groß war wie diese Terasse“, sagt Ottavio, der dort auch mitspielte und zugleich bei der Accademia Bizantina in Ravenna. 1996 übernahm er deren Leitung und rüstete das Ensemble auf Barockinstrumente um, „dann baten sie mich, ihr Dirigent zu werden.“ So kam das also. Und dann kam nicht nur Riccardo Muti mit der Scala, sondern anno 2000 auch das neu erbaute, damals noch hochambitionierte Opernhaus im sizilianischen Cagliari , in dem auch Frans Brüggen und Ton Koopman dirigierten, und lud den Pultneuling ein, Mozarts Così fan tutte zu dirigieren.

Von da an war Ottavio Dantone ein gefragter Dirigent der historisch kritischen Denkungsart, und als solcher leitete er vor sieben Jahren in Beaune Proben für Händels Rinaldo. Die Altistin für die Titelrolle war ausgefallen, eine Woche vor dem Konzert reiste eine junge Pariserin an, Delphine Galou. „Das erste Treffen war ein Desaster“, sagt er. Sie erzählt lachend, dieser Italiener habe damals Verzierungen für ihre Arien vorbereitet, sie bestand aber auf ihren eigenen. „Er war sauer und wütend vom Anfang bis zum Schluss“, sagt sie, „aber das Konzert ging sehr gut.“ „Danach“, meint er, „machten wir Alcina, und damit war ich sehr glücklich. So begann nach und nach…“ Welches Wort jetzt? „Our story“, sagt sie schlicht. Und Mélusine ist mit ihrem Bild fertig geworden.

Dieser Text erschien im Juni 2016 im Magazin des Opernhauses Zürich (Nr.40, S. 30) und ist urheberrechtlich geschützt. Foto: Walter Capelli