„Ich kann die feminine Seite besser betonen als ein Mezzo“

Der Counter Philippe Jaroussky spricht über Händels Helden, Bachs Kantaten und das Leiden der Kinder

Er rührt im doppelten Espresso, das ist sein Frühstück um halb zwölf. Es ist spät geworden nach dem Konzert gestern, aber das sieht man Philippe Jaroussky nicht an. Mit hellwachem Blick sitzt er da, schlank und unauffällig in seinen Alltagsklamotten, die im „Bayerischen Hof“ am Münchener Promenadenplatz fast schon wieder auffällig sind, zwischen all den Anzugmännern und Oligarchenfrauen. Da werden so viele große Boutiqueneinkaufstüten durchs Foyer getragen, dass es wie eine Karikatur von Luxus wirkt. Kurios, hier mit einem zu sitzen, der soviel Bescheidenheit austrahlt. Für ihn ist das hier keine Bühne. Aber selbst auf der Bühne macht dieser Sänger keine Show.

Das mag verwundern bei einem, der in seinem Repertoire zu beträchtlichen Teilen den Arien der Kastraten des 18. Jahrhunderts folgt, den auf die ganz große Show trainierten und operativ konditionierten Wunderwesen. Aber auch wenn er die Koloraturen der Barockoper souverän beherrscht, hat ihn schon immer mehr die geistige Substanz, die tiefe Emotionalität interessiert, nicht nur in den Opern. So ist der 38jährige Countertenor jetzt, vor Beginn der Züricher Proben für Händels Alcina, mit einem geistlichen Programm unterwegs, mit Kantaten von Telemann und J.S. Bach. „Manche waren überrascht“, meint er: „Ausgerechnet ein französischer Counter singt jetzt deutsche Kantaten!“

Die sind ihm aber schon vertraut, seit er im Pariser Vorort Maisons Lafitte zur Schule ging. „Ich hatte da einen Lehrer, der Spezialist für so etwas war, vier Jahre lang sangen wir im Chor Buxtehude, Schein und Schütz“. Zudem lernte Philippe Deutsch und, weil seine musikalische Begabung dem Lehrer auffiel, mit elf Jahren Geige, später Klavier. Beim Achtzehnjährigen weckte ein Konzert mit Fabrice de Falco die Begeisterung für den hohen Gesang der anno 1996 noch immer raren und exotischen Countertenöre. Der Pariser Gesangslehrerin Nicole Fallien, zu der er daraufhin ging, ist Jaroussky bis heute treu geblieben, auch sein Tourneeprogramm hat er neulich mit ihr noch einmal durchgearbeitet.

Er hat Angst gehabt vor Bach, gesteht er. Nicht gestern im Konzert, sondern bevor dieses Projekt begann. Zum einen natürlich wegen der Sprache: „Meine Stimme ist sehr klar, und wenn ich einen Fehler mache, hört man das garantiert. Vor allem aber ist bei Bach der Druck größer, das merkt man besonders nach Telemann. Die Schreibart ist so reich, so dicht, man hat weniger Freiheit. Man möchte oft gleich noch mal anfangen, um es besser hinzukriegen! Es mag provokant klingen – aber diese Musik braucht eine Art Unvollkommenheit, um schön zu sein. Du musst akzeptieren, dass das, was du in dem Moment lieferst, nicht so perfekt ist wie das, was er geschrieben hat. Wir brauchen beides.“

Ganz behutsam hat er im Konzert angesetzt in der Arie „Schlummert ein“ aus Bachs Kantate Ich habe genug, aber keineswegs erstarrt in Demut vor dem Thomaskantor. Den innigen Weltglanz seiner Stimme nimmt er mit, jede Silbe auskostend und in der Wiederholung hier und da die Linie verzierend, immer in engstem Kontakt mit dem Freiburger Barockorchester. Und wenn er am Ende im beschwingten Dreier singt „Ich freue mich auf meinen Tod“, hat das etwas so Dringliches, bei aller vokalen Kontrolle und Fokussierung etwas so mediterran Überschwängliches, als warte im Jenseits die ganz große Liebe.

Vielleicht liegt es auch an Jarousskys Biografie fern der deutschen Oratorienlandschaft, an seiner dezent eingebrachten Opernerfahrung, dass die berühmte Schlummerarie auch einen Hauch Händel hat, eine gewisse Sinnlichkeit, etwas Szenisches. Dabei bewegt sich der Sänger im Konzert nur minimal, eher unwillkürlich formen seine schlanken Hände manche Worte mit. „Ich bin more grounded jetzt, zentriert. Ich bewege mich weniger. Sich nicht bewegen zu müssen heißt, dass man innen stark ist. Die Kastraten arbeiteten Stunden und Stunden vor dem Spiegel daran, die Schultern nicht zu bewegen! Sogar bei verrückten Koloratursachen. Kaum jemand schafft das heute.“

Aber in einer modernen Opernproduktion wird ja in der Regel nicht reglos herumgestanden, im Gegenteil. An den szenischen Einsatz, der da gefordert wird, musste sich der zurückhaltende Jaroussky erst gewöhnen: „Ich bin nicht der geborene Schauspieler, und für mich hatte das acting immer etwas Gewaltsames. Nach fünfzehn Jahren Oper fühle ich mich da jetzt wohler. Aber wenn du zuviel über Regiekonzepte nachdenkst, bist du verloren. Ein bisschen musst du auch Marionette sein und das tun, worum der Regisseur dich bittet.“ Wobei er vehement die viel kritisierte Inszenierung verteidigt, in der er erstmals zusammen mit Cecilia Bartoli auftrat, 2012 im Salzburger Giulio Cesare.

Moshe Leiser und Patrice Caurier hatten Händels Oper in eine surreale Gegenwart verlegt, und Jaroussky musste als Tolomeo einer Statue blutige Eingeweide herausreißen. „Mir sagte jemand, ich hasse diese Produktion, awful, digusting, aber Sie waren ein viel besserer Schauspieler als sonst! Was müssen Sie gelitten haben! Das ist paradox. Ich war ja deswegen besser, weil die Psychologie der Personen so intensiv war. Eine Inszenierung ist doch mehr als ein visuelles Ereignis!“ Die Psychologie interessiert ihn auch an Ruggiero besonders, dem von Alcina bezauberten Verlobten der Bradamante, den er in Zürich singen wird und im vergangenen Jahr auch in Aix schon gestaltete.

„Dieser Typ ist nicht sehr heroisch, er ist beeinflussbar, aber irgendwann verstehen wir, warum die Frauen ihn lieben. Er hat etwas sehr Zerbrechliches in seinem Charakter, sogar etwas Feminines, und bei der Produktion mit Katie Mitchell fand ich es gut, in diese Richtung zu gehen. Meistens hören wir ja Mezzosopranistinnen, die versuchen, einen Mann darzustellen“, er vertieft karikierend seine Stimme, tut breit und bullig und lacht. „Ich bin ein Mann, und gerade darum kann ich die feminine Seite von Ruggiero besser betonen als ein Mezzo. Genau wegen dieses Charakters hat der Kastrat Carestini die Rolle nicht gemocht, er verstand nicht, warum Händel ihm dieses Ding nach dem heroischen Ariodante gab. He was pissed off.“

Besonders um die heute weltberühmte Arie Verdi Prati hätten sich die beiden gezankt, „die war Carestini zu einfach, ihm fehlte das Feuerwerk. Aber er irrte sich. An jedem Abend musste die Arie wiederholt werden, Händel wusste besser, was sein Sänger konnte. Übrigens ist das nicht leicht zu singen, so nackt, einfach, fragil.“ Philippe Jaroussky ist mit den Hintergründen bestens vertraut, denn wie viele Interpreten „alter“ Musik ist er sein eigener Forscher, „auch im Hotel suche ich im Internet nach Partituren.“ Um sie irgendwann auch selbst zu dirigieren? „Ja. Ich überlege, in zwei Jahren damit anzufangen. Oder ehe ich 45 werde. Denn ich weiß ja nicht, ob ich in zehn Jahren noch singe.“

Die nächste Generation der Counter ist jedenfalls schon auf dem Weg, ihm nach. „Von mir gibt es auf Youtube die Arie Vedrò con il mio diletto von Vivaldi, über eine Million Mal angeklickt, und ich sehe eine Menge Videos von jungen Sängern, die diese Arie mit exakt meinen Verzierungen singen. Manche sagen mir, sie hätten meinetwegen angefangen, als Counter zu singen. Das bedeutet, ich fange an, alt zu werden“, er lacht wieder. Und wird ernst, als ich ihn zum Schluss nach Paris frage, der Stadt, in der er lebt, ein Jahr nach den Anschlägen. „Ich wohne nur zwei Minuten von da entfernt. An dem Abend wollte ich mit Freunden ausgehen und tat es nicht. It could have been me.“

Die Atmosphäre habe sich geändert in Paris, aber auch auf der ganzen Welt. „Es ist schockierend, dass wir in Paris nicht Menschen willkommen heißen können, die aus guten Gründen ihr Land verließen. Dass der Tod anderer für uns um so weniger interessant ist, je mehr Kilometer uns von ihnen trennen. In diesen Ländern sterben so viele Kinder, und doch scheinen wir uns für wichtiger als den Rest der Welt zu halten.“ Aber seit drei Jahren, sagt er, falle ihm auf, dass Leute, die nach Konzerten zu ihm kommen, über ihre Ängste reden. „Sie sagen, diese zwei Stunden waren kostbar für mich bei all dem Elend in der Welt. Dann fühlst du plötzlich, was für eine fantastische Kraft Musik haben kann.“

Dieser Text erschien im MAG 44, Magazin des Opernhauses Zürich, im Dezember 2016, Seite 40/41, und ist urheberrechtlich geschützt