„Das Tanzvokabular muss ständig revolutioniert werden“

Paul Connelly erzählt in Paris, wie er zum Ballettdirigenten wurde und wie Bernstein in der Küche sang

Blauer Himmel über Paris bei vierzehn Grad plus. Das hat an einem Mittag kurz vor Weihnachten etwas Surreales, ebenso wie ein stilles, leeres Lokal mitten in der Stadt, einen Katzensprung vom Centre Pompidou entfernt, bestens versteckt und keinem Touristen bekannt – wohl aber Paul Connelly, der seit vierzehn Jahren an der Seine lebt und wohlweislich reserviert hat. Wie alle, die sich im Laufe der Mittagsstunden an die Tische im kleinen Lokal setzen und irgendwann so munter durcheinander lärmen, dass ich mir Sorgen um das Fassungsvermögen des winzigen Mikrofons mache. Bloß gut, dass Paul so klar wie  baritonal spricht. Die Stimme eines Mannes, der sich gern unterhält.

Es stört ihn gar nicht, dass ich über ihn nicht viel mehr herausfinden konnte, als dass er an den größten Häusern mit den besten Choreographen arbeitet, und dass er, natürlich, in Zürich mit Christian Spuck die aktuelle Ballettproduktion Anna Karenina dirigiert. Man findet seinen Namen in einer Menge von Rezensionen, aber es gibt keinen Eintrag bei Wiki, keine Website, keine PR-Abteilung. Wie alt mag er sein? In den Fünfzigern? Die dunklen Augen unter schwarzen Haaren funkeln jünger, das Gesicht mit leicht indianischem Teint ist das eines Genießers. Er empfiehlt foie gras, in der Pfanne gebraten.

Sein Alter soll ich für mich behalten. In diesem Punkt eignet ihm die Zurückhaltung der Tänzer, die sein Leben prägten. Zwar war Paul Connelly niemals nur Ballettdirigent, und sein Debüt am Pult gab er mit Porgy and Bess, aber ohne den Tanz wäre alles anders gelaufen für den jungen Mann aus Buffalo im US-Staat New York, der, mehr auf Wunsch seiner Eltern als den eigenen, in Boston Klavier studierte zu einer Zeit, als dort junge Dirigenten wie Seiji Ozawa und Claudio Abbado mit den Studenten arbeiteten. Bei einem Picknick im heimischen Bufallo lernte er David und Anna Maria Holmes kennen, ein bekanntes kanadisches Tänzerpaar, und sie befreundeten sich.

„Die Compagnie zog nach London, ich folgte ihnen mit meiner Freundin. Und dort sahen wir eines Abends eine Choreographie von Maurice Béjart. So etwas hatte ich noch nie gesehen, das war wirklich der Gipfel, I was pretty blown off. Ich ging nach der Show zu Béjart und sagte, ich bin kein Tänzer, sondern Pianist, aber wenn es irgendeinen Weg gibt, mit Ihnen zu arbeiten, würde ich alles dafür tun.“ Er nimmt Tanzunterricht, um sich an Béjarts Brüsseler Schule Mudra bewerben zu können. Er wird angenommen. „Da hab ich tatsächlich ein Jahr Tanz studiert. Aber das beste war, Béjart bei der Arbeit mit der Compagnie zuzusehen.“

Dann zieht Paul nach New York, schlägt sich durch als Korrepetitor, wandert zur Oper in Minnesota und weiter über Santa Fé nach San Francisco, wo er als assistant conductor alles macht, „auch aufpassen, dass sich die Sänger im Haus nicht verlaufen.“ Dazu gehören immerhin Gäste wie Joan Sutherland, Kiri Te Kanava, Birgit Nilsson, die jungen Tenöre Pavarotti und Carreras. Er springt bei einer Tourneeproduktion von Porgy and Bess für den erkrankten Dirigenten ein, arrangiert für eine Minitruppe diverse Opern für zwei Klaviere, „wirklich eine gute Schule“, schließlich gerät er ans American Ballett Theatre, dessen Dirigent John Lanchbery sein Porgy-Mitschnitt gefallen hat.

Das American Ballett Theatre in New York ist zu der Zeit legendär. „Michail Beryshnikow, Natalja Makarowa, solche Tänzer!“ Nur den rising star der 1980er Jahre nennt er bescheiden nicht, Susan Jaffe, die Ballerina, mit der er zusammen lebte und über die er damals sagte: „Die Vorbereitungen auf einen Flug mit dem space shuttle verblassen neben denen eines Tänzers auf die nächste große Saison.“ Er lacht, als ich den alten Artikel zitiere. „Das stimmt schon. Wenn man die Zahl der Trainingsstunden und der Probenstunden vergleicht mit der Zahl der Minuten auf der Bühne, versteht man, warum Tänzer sich so viel Sorgen machen um den Moment, in dem sie da draußen sind. Sie brauchen Unterstützung.“

Ein Ballettdirigent muss wissen, wer ein Springer ist und wer nicht, und dass Großgewachsene für manches mehr Zeit brauchen. „You can kill a dancer, wenn du zu schnell oder zu langsam bist.“ Darum ist Tempo ein großes Thema. Selbst er hört von Tänzern noch: „Das war gut, aber bitte nicht schneller. Dann sage ich, danke, gern, ich hatte eigentlich vor, es beim nächsten Durchlauf 20 mal so schnell zu machen.“ Neulich rief ihm ein Ballettmeister aus dem Parkett zu, er sei zu schnell. „Ich sagte nur, oookay, versuchen wir´s noch mal, und dirigierte exakt dasselbe Tempo. Da sagte er: THAT´s the good one. Manche müssen einfach ihr bisschen Macht haben. Und ich muss auch Psychologe sein.“

In Zürich läuft es entspannter. „Christian ist ein so guter Musiker, sensibel, sehr klug und offen für das, was Musik bedeutet, und er nimmt den Dirigenten ernst.“ Das sagt er nicht, weil wir uns hier für die Oper Zürich treffen. Er war skeptisch, als er vom Konzept einer musikalischen pastiche für Anna Karenina erfuhr. „Eine pastiche, oouuhh… aber er macht das einfach gut. Und er bringt frische Luft in das Tanzvokabular, das muss ja ständig revolutioniert werden. Deswegen wirken heute selbst Béjarts Kreationen überholt.“ Was ihm bei vielen Kompagnien fehlt, ist der Mut zum Risiko. „Das hat ökonomische Gründe. Mit einem story ballett wie Giselle verkauft man die meisten Karten.“

Wie aber hat es den Tänzerversteher Paul Connelly nach Paris verschlagen? „Ein paar Jahre lang flog ich hin und her zwischen New York und Europa, dann beschloss ich, in Europa zu bleiben, zunächst in den Niederlanden, dann machte ich immer mehr an der Pariser Oper.“ Und da gab es diese Tänzerin, von der alle Choreographen sagten: „I want HER.“ Er wollte sie auch. Ein Jahr später kam die gemeinsame Tochter zur Welt, die jetzt dreizehn ist. „Aber mein Französisch ist immer noch…“ Er verdreht die Augen und bestellt mit schwerem Akzent einen dahinschmelzenden Schokoladenkuchen.

Zum Nachtisch tauchen wir nochmal in seine frühen Jahre: Welcher Dirigent hat ihn besonders beeindruckt? „Good question! Bernstein!“ Als Paul 1977 bei einer Gedenkfeier für Isadora Duncan am Flügel Brahms spielte, im City Center, „da fühlte ich, dass jemand hinter mir stand.“ Das war Bernstein, der als nächster dran war. „You know, that was really good“, habe ihm Lenny gesagt, Paul imitiert perfekt die raue, langsame Sprechart. Anschließend ging es in ein Restaurant, „ wie in einem Traum! Da war Bernstein, da war Sondheim, der Autor der West Side Story, Jerome Robbins, der große Choreograf.“ Paul gab Bernstein eine Kassette, „yeah, give it to my driver… Er kriegte jeden Tag 5000 Tapes.“

Aber er hörte sich den Mitschnitt an, er lud Paul ein zu einem Symposium junger Dirigenten und irgendwann zu sich nach Hause: Party nach einem der vielen Konzerte, die Paul in New York mit Bernstein erlebte. „Das war im Dakota Building, in dem auch John Lennon lebte. Es gab da acht oder zehn riesige Apartments, Bernsteins Küche war etwa so groß wie bei anderen Leuten das ganze Haus. Und der Typ, der vor einer Stunde noch ganz ernst Brahms dirigiert hatte, wollte jetzt mit Michael Tilson Thomas Bess you is my woman machen. MTT saß am Klavier und sang Porgy, Bernstein kroch auf dem Boden herum und sang. Als Bess! He was such a charakter und funny!“

Wenn Paul über solche Begegnungen nachdenkt, wird er streng mit dem jungen Mann, der er war. „Ich hätte meine Hausarbeiten machen und besser über diese Leute Bescheid wissen müssen. Wie sie dahingekommen waren, wo sie waren. Und wie viel sie taten, um ihre Kunst zu verstehen. Heute ist das natürlich viel leichter herauszufinden…“ Ja, es sei denn, einer wie Paul Connelly gibt im Netz so wenig von sich preis. Lieber empfiehlt er andere. „Haben Sie Verdis Requiem in Zürich gesehen? Nein? Fabio Luisi dirigiert das. Er zeigt genau das, was nötig ist. Keine Bewegung zu viel, und außerdem schön anzusehen.“ Es klingt, als seien für Paul Dirigenten auch Tänzer. Aber sie dürfen trotzdem foie gras und Schokoladenkuchen essen…

Dieser Text erschien in geringfügig kürzerer Fassung im MAG 45, dem Magazin des Opernhauses Zürich, im Januar 2017, Seite 36/37, und ist urheberrechtlich geschützt