„Dass er sie nie haben kann, das macht ihn süchtig“

Die Litauerin Ausrine Stundyte singt Renata in Prokofjews Oper „Der feurige Engel“, die am 7. Mai Premiere in Zürich hat. Ein Probenbesuch

Tschitirje, pjat, schest“, zählt der Dirigent, „vier, fünf, sechs“, sehr langsame Viertel an dieser Stelle, und das Klavier setzt ein. Man glaubt schon das Orchester zu hören, weil alle Sänger sich voll hineinwerfen in die erste musikalische Probe mit dem Dirigenten Gianandrea Noseda. Solisten aus Russland, England, Schottland, Polen, Rumänien, Georgien, Litauen sind dabei. Und wenn Ausrine Stundyte den Obsessionen der Renata im Feurigen Engel folgt, hoch aufgerichtet zwischen den blauen Stühlen im Chorsaal der Züricher Oper, weht der heiße Wind des Wahnsinns durch den nüchternen Raum.

Heftige Emotionen brechen da aus, doch bei den Ansagen zwischen den Szenen herrscht lockere Atmosphäre. Noseda spricht fließend italienisch, russisch, englisch, und der Zaungast kommt sich mitunter vor wie bei einem Übersetzerkolloquium, einem gut gelaunten. Da ist auch Platz für ein „Happy Birthday“, weil eine Korrepetitorin Geburtstag hat, und ehe Iain Milne den Buchhändler singt, muss er erzählen, aus welcher Gegend von Schottland er kommt. Vor allem aber: Musik. Sehr konzentriert. So dicht und heftig, dass man nach zwei Stunden Probe meint, man hätte vier hinter sich.

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Ausrine Stundyte lässt sich die Erschöpfung nicht anmerken, als wir hinterher in die Kantine gehen, aber sie gesteht: „Es ist sehr schwer, nach den Proben abzuschalten. Ich brauche Stunden, um runterzukommen.“ Denn diese Renata ist eine der rätselhaftesten Gestalten der Opernliteratur. Eine Frau, der als Kind ein Engel erschien, den sie später als Mann wiedergetroffen zu haben glaubt. Mit einem anderen Mann, der sie liebt, begibt sie sich auf die Suche nach diesem Engel . Oder ist er doch ein Teufel? Und wer ist eigentlich diese Renata? „Ich blicke noch nicht ganz durch. Es gibt keine Antwort“, meint die 40jährige Sopranistin aus Vilnius, „es gibt das, was du da reinlegst.“

Sie legt da sehr viel rein, nun schon in der dritten Produktion. Stundyte stand in Prokofjews komplexester Oper auch schon in Lyon und München auf der Bühne, in Inszenierungen von Benedict Andrews und Barry Kosky. In Zürich probt sie seit zwei Wochen mit Calixto Bieito, den sie sehr schätzt, seit sie seine Katerina in Dmitri Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk war. „Diese Figuren sind total unterschiedlich. Katerina nimmt das Leben in die Hand, Renata ist Opfer aller.“ So allerdings, wie Ausrine Stundyte sie singt, existentiell bis in den ernsten Gesichtsausdruck, mit sehr hellen blauen Augen unter mittelkurzen schwarzen Haaren, wirkt diese Renata gleichermaßen gefährdet und gefährlich.

„In München sagte mir der Dirigent Michail Jurowsky, dass er als Kind Prokofjew kennengelernt hat. Er meint, eigentlich sei Renata Prokofjew selbst. Der Komponist habe Stimmen und Dinge gesehen. Ob er nun psychisch krank war oder ein Hellseher, die Welt der Geister-Erscheinungen sei ihm nicht fremd gewesen. Aber mich interessiert etwas anderes. Es geht bei dieser Figur auch um Kindesmisshandlung und wie Kinder damit umgehen, wenn ihnen ein naher Mensch Schaden zufügt.“ Beim Phänomen der Abspaltung werde das Trauma mit einer imaginären Figur verbunden – wie etwa dem Feurigen Engel.

Anstrengend sei aber nicht nur das psychische Potential der Gestalt, sondern die Partitur selbst. „Die Harmonie wechselt mit jedem Ton, und das Tempo ist schnell. Man muss sich zwei Takte vornehmen beim Lernen und zehnmal langsamer singen, wieder und wieder, mein Freund ist fast wahnsinnig geworden.“ Sie lacht. „Er hat in Belgien ein altes Kloster gekauft, da bin ich frisch eingezogen und konnte singen, so viel ich will. Ausgerechnet in einem Kloster die Rolle einer Frau zu üben, die in einem Kloster endet, inmitten durchgedrehter Nonnen! Ein lustiger Zufall.“

Viel früher hat Ausrine im Wald geübt, beim Dorf ihrer Großmutter. Da war sie zwölf und gerade Mitglied der „Lindenbäume“ geworden, des berühmtesten litauischen Mädchenchores. „Mein Vater hat den Chorleiter mit Würsten bestochen, damit ich da reinkam. So wurde das damals gemacht. Der Chor durfte nach Westen reisen, und mein Vater wollte, dass ich mal ein bisschen anderes Leben sehe, es ging ihm nicht um die Musik. Aber erstaunlicherweise habe ich mich dort selbst in das Singen und die Musik verliebt. Ich wollte im Chor auch solistisch singen, und das konnte ich nur als Sopran.“

Ausrine war aber als Altistin eingesetzt, „und darum hab ich im Sommer im Wald so hoch geschrieen, wie ich konnte, damit die Stimme höher wird.“ Es klappte. An der Akademie in Vilnius traf sie dann, siebzehnjährig, auf Irena Milkevičiūtė, „die war phänomenal, ein dramatischer Koloratursopran. Wegen des sowjetischen Systems kannte die Welt sie nicht, sonst wäre sie einer der Top-Ten-Soprane gewesen. Sie konnte allerdings nicht viel erklären. In Litauen sind die meisten Sänger Naturtalente, man kann da keine Technik lernen.“

Für die Technik zog die 23jährige nach Leipzig. „Die erste Stunde bei Helga Forner war die beste. Ich war für litauische Verhältnisse pünktlich, das heißt zwanzig Minuten später. Früher erwartet dich niemand! Ich werde nie ihr Gesicht vergessen.“ Auch sonst war da vieles anders, noch zehn Jahre nach der Wende noch. In Litauen hatte man sich nur nach außen sowjetkonform gegeben, „das war nur die Fassade. Ich bin relativ frei aufgewachsen und eine freiheitsliebende Natur von Geburt an. In der DDR war man politisch viel folgsamer.“ Davon spürte sie in Leipzig anno 2000 noch so viel, dass sie erst in Köln aufatmete. „Dort fühlte ich mich vom ersten Tag an zuhause!“

Sechs Jahre lang sang Ausrine an der Kölner Oper, mit Abstechern nach Lübeck. Dort war ein GMD und Operndirektor aus der Schweiz, Roman Brogli-Sacher, „der besser wusste als ich selbst, was ich singen kann. Er hat mir Rollen gegeben, an die ich mich sonst nicht gewagt hätte.“ Tosca und die Marschallin etwa, große Partien bei Verdi und Wagner von Desdemona bis Kundry. Auch bei Wagner, meint sie, sei wie es wie bei Prokojews Renata oft unmöglich, „die Rolle zu knacken“: „Wer ist diese Person? Vielleicht wusste es der Komponist selber nicht.“

Doch wenn sie Renata von außen sieht, mit den Augen des liebenden Ruprecht, erkennt sie viel: „Dass er sie nie haben kann, zieht ihn an, macht ihn süchtig. Wenn brutal mit ihm umgeht, ist das keine Manipulation. Auch wenn sie sich widersprüchlich verhält, fühlt sie immer alles hundertprozentig. Sie ist sehr nackt, sehr offen, es gibt keinen Schutzschild. Bei Calixto spielt das in einer katholischen, engstirnigen Provinz, unglaublich beklemmend, und da kommt sie und benimmt sich frei.“ Das trifft sich dann vielleicht auch mit dem Freiheitsdrang der Sopranistin.

Im dritten Akt will Renata, dass Ruprecht den tötet, den sie nun gefunden haben – Graf Heinrich, den mutmaßlichen Engel der Kindheit. Ein heftiger Wortwechsel zwischen Ausryne Stundite und Leigh Melrose. Obwohl beide nur im Chorsaal stehen, spürt man die Vibration der Szene, den Wahnsinn. Noseda dirigiert mit kleinen, klaren Zeichen, den Bleistift in der Rechten. „Wie ist das Tempo?“ fragt er. „Da wird auf der Bühne der Atem knapp“, sagt die Sängerin sofort, „in der Szene kämpfen wir.“ Der Dirigent macht sich eine Notiz. Dann kämpfen sie weiter.

„Wenn man sich in der Probe schont,“ sagt sie, „merkt sich der Körper das. Er speichert das faulere Level.“ Und woher nimmt sie die Energie? „Leute, die keine Sänger waren, haben mir am meisten geholfen. Es gab in Vilnius einen Jazzmusiker, Wladimir Tschekassin, der hat mich gelehrt, wie man die Energie hochpuschen kann, auch wenn sie knapp wird, auch wenn Gott an diesem Tag nicht zu dir spricht.“

Dieser Text erschien im MAG, dem Magazin des Operhauses Zürich, Ausgabe Nr. 48 im April 2017, S. 24 / 25, und ist urheberrechtlich geschützt.