“Wir stehen moralisch nicht so weit oben”

Die Sopranistin Juliane Banse über Theaterkinder, Rollenträume, Geschlechterdebatten und die Arbeit an Heinz Holligers Oper “Lunea”, die am 4. März in Zürich uraufgeführt wird.

Sie sitzt im Café auf der Galerie und liest in einem dicken Taschenbuch, mit so ernstem Gesicht, dass ich kaum zu stören wage. Fast so ernst wie die Sophie von Löwenthal, die sie am Vormittag in der Probe war, abgesehen von den Entspannungspausen, die die Akteure gerade bei so einem Stoff nötig haben. Es ist ja eine sehr abgründige Geschichte zwischen dem Dichter Lenau und der von ihm ersehnten, verheirateten Frau von Löwenthal. Und von diesen Abgründen, von der Konzentration auf die Musik hat sich das ganze Team immer wieder mit kleinen Blödeleien erholt, vom Dichtersänger Christian Gerhaher bis zum Regisseur Andreas Homoki, mittendrin Juliane Banse, der dann jäh der Schalk im Nacken saß.

Ich darf stören, wir sind ja verabredet, und sie blickt auf wie eine, die hier täglich sitzt und sich weiter nicht wundert, wenn ein flüchtiger Bekannter vorbeikommt. Dann ist sie sofort mittendrin im Stoff und schwärmt von der entspannten Probenatmosphäre. Selbstverständlich sei die keineswegs „bei einem Stück, das es noch nicht gibt“, das aus schreibfrischer Partitur und dem Team der Künstler gerade erst zusammenwächst, „mit einer Musik, die man gar nicht in einen Klavierauszug fassen kann. Es ist toll, dass Heinz Holliger oft da ist, weil wir ihn vieles fragen müssen. Und toll, wie das alles ineinandergreift.“ Es war der Komponist selbst, der sich Juliane Banse für die Sophie gewünscht hat, der alle die Sänger im Kopf hatte, für die er Lunea schrieb.

„Er hat sich von mir das Versprechen geholt, dass ich da mitmache.“ Kein Wunder. Vor zwanzig Jahren wurde, ebenfalls in Zürich, Holligers Oper Schneewittchen uraufgeführt, mit der damals 29 Jahre alten Sopranistin in der Titelrolle, die „wahre Wunder an beredter vokaler Equilibristik“ vollbrachte, wie die F.A.Z. schrieb. Aber mit Zürich verbindet sie noch viel mehr. Juliane Banse ist hier aufgewachsen, als Tochter eines Opernchorsängers. Also ein typisches Theaterkind? „Das stimmt insofern nicht, als meine Eltern das auf gar keinen Fall wollten, ein Theaterkind. Mein Vater war selbst so eins gewesen und wollte dieses Reinrutschen bei meiner Schwester und mir verhindern. Er hatte zu viele Gescheiterte erlebt und sagte: Dieser Beruf ist so schwierig – wenn man das nicht wirklich will, ist es zu schwer. Deswegen durften wir nicht in den Kinderchor der Oper, obwohl ich das natürlich gerne wollte.“

Aber es kam wie in manchen Sagen der Antike: Was man verhindern will, geschieht erst recht. Nur dass es in dieser Geschichte, anders als in den Sagen, bestens ausging. Zuhause übte Juliane Geige, und zwar schon mit vier Jahren, und ins Opernhaus kam sie bald durch ihre Tanzlust. Sie durfte in die Ballettschule. „Das hat die Hintertür geöffnet, weil wir für Statisteriesachen herangezogen wurden. Als ich älter wurde und Uwe Scholz hier Ballettdirektor war, gab es ein immenses Pensum für die Tänzer, und wir wurden als älteste Stufe der Ballettschule geholt und sind oft zum Einsatz gekommen. Da waren wir keine Statisten mehr. Da stand ich eben doch richtig auf der Bühne, und auch mit meinem Vater, als tanzende Mücke in den Lustigen Weibern, in vielen Kindermärchen…“ Das war dann, bis in die späten Abendstunden, schon fast ein Job neben dem Gymnasium Rämibühl, wo sie im Schulchor sang.

„Halt dich zurück, man hört dich raus!“, sagte man ihr da, aber auch: „Das klingt doch schön, du musst mal Gesangsunterricht nehmen! Das wollte ich gar nicht wissen. Aber irgendwann hat sich die Waage ein bisschen geneigt.“ Nach erstem Gesangsunterricht wagte sie sich, kurz vor der Matura, in die Wohnung des berühmten Liedbegleiters Irwin Gage, Professor in Zürich, und sang dort Brigitte Fassbaender vor. „Sie war bekannt dafür, dass sie allen von der Sängerlaufbahn abriet. Das hat sie bei mir aber gerade nicht gemacht, sondern gesagt: Wenn du das studieren willst, komm nach München, dann machen wir das zusammen.“ Es wurde eine Lebensfreundschaft daraus. Fassbaender ist bis heute Juliane Banses Ratgeberin und dazu noch Patentante ihrer Tochter.

Es wurde aber auch eine Karriere daraus, die schier mühelos startete. Leicht und lyrisch sozusagen, wie ihr Stimmfach, das früh klar war. „Alles, was mit -ina oder -etta aufhört, habe ich gesungen“, sagt sie und lacht. Mit zwanzig Jahren debütierte sie als Pamina in der Zauberflöte – und zwar gleich an der Komischen Oper Berlin und in der Regie von Harry Kupfer, mit dem sie dann noch zwei weitere Produktionen hatte. „Die Arbeit mit ihm hat mich sehr früh auf hohem Niveau verdorben, nämlich anspruchsvoll gemacht, was Regisseure angeht. Dieses Reinbohren in eine Figur oder in eine Geschichte, reinhorchen und nicht nachgeben, noch eine Facette und noch eine!“

Wie Pamina in Mozarts Oper zur erwachsenen Frau wird, das war ihr damals so nahe, wie es ihr jetzt die Marschallin ist, die reife Frau, die im Rosenkavalier zu spüren beginnt, wie die Zeit vergeht. Lange hat sie diese Rolle ersehnt, aber tatsächlich musste sie länger auf die Marschallin warten als auf den Anruf von der MET, von dem alle Sänger träumen. Der kam vor fünf Jahren, und sie sang in New York die Zdenka in Strauss´ Arabella. Ein Durchbruch anderer Art war für sie schon in den 1990ern jener Abend, als sie in Zürich als Pamina einsprang. „Da hat mich mein Vater längst voll unterstützt“, sagt sie. „Er war einer der Chorsklaven, die mich fesseln mussten. Großer Moment!“ Sophie ist sie auch schon gewesen, und natürlich die Gräfin im Figaro, Fiordiligi in Cosí, Elvira im Don Giovanni, aber auch die Titelheldin in Braunfels´ Heiliger Johanna.

Wie verhalten sich diese Frauengestalten eigentlich zur aktuellen Debatte um Geschlechterrollen? „Wie da alles in einen Topf geschmissen wird, das find´ ich furchtbar nervig. Ich las gerade einen Artikel mit der Frage, ob man denn noch in die Oper gehen könne, die Rollenbilder seien doch frauenfeindlich! Das geht vollkommen an der Sache vorbei. Natürlich kann man sagen, Elvira ist eine blöde Kuh, weil sie Don Giovanni treu bleibt, obwohl er sie behandelt wie Dreck. Aber dass sie an ihrer großen Liebe festhält, ist ´ne starke Position, auch wenn sie sich irrt. Die Behauptung, wir stünden moralisch so viel weiter oben, verglichen mit früheren Geschlechterrollen, ist nicht ernst zu nehmen.“

Oper, findet Juliane Banse, „ist genauso frauenfeindlich wie männerfeindlich, weil sie das Leben abbildet. Das hat Kunst im besten Falle immer getan.“ Eben darum findet sie Regisseure so wichtig, „die es schaffen, die Essenz rauszuholen, und die Relevanz, die ein Stück für uns haben kann. Da ist es egal, ob die Leute auf der Bühne Krinolinen tragen oder Anzüge.“ Ihre Position hat umso mehr Gewicht, als sie es sich keineswegs im Repertoire bequem gemacht hat, sondern so viel Rares und Zeitgenössisches singt wie wenige andere. Mit ihrem Mann, dem Dirigenten Christoph Poppen, nahm sie zuletzt Werke für Sopran und Orchester von Rihm, Reimann und Henze auf, und ihre Einspielung von György Kurtágs Kafka-Fragmenten zusammen mit dem Geiger András Keller ist auch jetzt noch, nach zwölf Jahren, eine echte Referenz.

Etliche Zeitgenossen haben für sie geschrieben. „Wenn sich rumspricht, dass man absolut hört und abenteuerlustig ist, kommt schon der nächste Komponist“, meint sie. „Vielen Kollegen ist neue Musik zu viel Arbeit, ich kann das total verstehen, denn ich hab´s mit meinem Gehör viel leichter. Ich bewundere alle, die es auch so hinkriegen, das ist dreißig bis vierzig Prozent mehr Arbeit für sie als für mich.“ Aber die Zeit ist auch so knapp für eine, die außer Opern viele Konzerte und Liederabende singt, eine Gesangsprofessur in Düsseldorf hat und zuhause am bayerischen Ammersee drei Kinder im Alter von sechs, vierzehn und sechzehn Jahren. „Da ist man immer hin und her gerissen zwischen der Familie und Projekten, die einen wahnsinnig interessieren. Aber oft sage ich mir, ich bin überall auf der Welt ersetzbar, nur nicht bei meinen Kindern.“

Die beiden älteren, ihre Söhne, haben sie übrigens kürzlich auf eine „unverzeihliche Bildungslücke“ hingewiesen. Daher das dicke Taschenbuch, in das sie vorhin so versunken war. „Harry Potter! Ich genieße es unglaublich.“

Dieser Text entstand für MAG 56, das Magazin der Züricher Oper, erschienen im Februar 2018, und ist urheberrechtlich geschützt.