Kenneth Branagh entdeckte ihn als Tamino fürs Kino. Jetzt ist Tenor Joseph Kaiser der Idomeneo in Zürich und kann als Vater den zerrissenen König gut verstehen. Ein Treffen nach der Probe
Jeder Zoll ein König, so steht er da, gut einen Meter neunzig groß, im Anzug mit Krawatte unter dem Vollbart. Aber es ist ein trauriger König, so stark wie gebrochen. Das wenige, dass er in dieser Szene singt, trifft den Kern. Den Göttern will er gehorchen und den eigenen Sohn opfern, schlachten, „svenar il genitor il proprio figlio“. Regisseurin Jetske Mijnssen kümmert sich jetzt nicht um ihn, das muss sie auch nicht, denn es geht gerade um den Chor, um die leidenden Menschen von Kreta, die von allen Seiten auf ihren König zukriechen. Trotzdem legt Joseph Kaiser bei jeder Wiederholung alle Intensität in seine wenigen Töne, in das Schweigen davor und danach, halb versteinert von dem, was Idomeneo sagen und tun zu müssen glaubt, „weil er diese Macke hat“.
So erklärt die Regisseurin knapp den Chorsängern, worüber sie und ihr Titelheld sich eine Menge Gedanken gemacht haben. Kaiser kommt darauf zu sprechen, als wir uns im Foyer der Probebühne zusammensetzen, er mit einem Gemüsesnack in der Plastikschachtel. „Warum muss ich diese schreckliche Sache tun, als Idomeneo? Weil ich sehr krank bin. Ein posttraumatisches Stresssyndrom.“ Wie in Mozarts Libretto hat dieser Idomeneo Kriegserlebnisse hinter sich und wäre fast gestorben, nun aber nicht mehr in der Zeit der Götter. Der Neptun, dem er für seine Rettung seinen Sohn opfern zu müssen glaubt, ist ein Wahn. Aber wie findet der Sänger Joseph Kaiser da hinein, dem es so wichtig ist, seine „persönlichen Erfahrungen mit der Rolle zu verbinden“?
„Ich war nie beim Militär. Aber ich habe zwei Söhne, einen dreizehnjährigen Jungen und einen elfjährigen – wunderbare Kinder. Und jedes Mal, wenn ich den Konflikt, die Sorge, den Schmerz in Idamantes Gesicht sehe, ist für mich ein Bezug da.“ Idamante ist Idomeneos Sohn, der nicht wissen und begreifen kann, warum der Vater ihn nach langer Abwesenheit nicht umarmt. „Für Eltern ist es schon hart, wenn sie mal eine Strafe verhängen, eine Woche Fernseh- oder Smartphone-Verbot Auch wenn sie wissen, dass es richtig ist. Aber das ist eine Kleinigkeit im Vergleich zu Idomeneos Not: Dein Sohn leidet, und du kannst ihm nicht sagen, warum du ihn wegschickst, und jedesmal, wenn du ihn anschaust, weißt du, du wirst ihn verletzen müssen.“ Dazu noch frage sich Idomeneo, warum er überhaupt gerettet wurde, wenn das der Preis ist. Er weiß ja nicht, dass er krank ist.
„Natürlich ist das unbegreiflich, aber genau das liebe ich, diese große Herausforderung. Wir müssen das glaubwürdig machen. Ich habe auf der Bühne hundertmal jemanden getötet oder bin gestorben. Im richtigen Leben nicht. Die Opern, die wir lieben, sind ja voll von dramatischen Situationen. Und wir haben die Chance, da einzutauchen.“ Hatte er schon eine Vorstellung, ein Konzept von Idomeneo, als die Proben begannen? „Nein. Ich muss am Anfang eine leere Seite sein, und dann können wir gestalten, malen, formen, wie wir es brauchen. Das kann erst wirklich geschehen, wenn in diesem Raum hier all die verschiedenen Leute zusammenkommen, die Sänger, der Dirigent, die Regisseurin, mit all ihren verschiedenen Herzschlägen. This is where you find the right energy.“
Er spricht amerikanisch, aber britischer als ein Amerikaner und baritonaler als ein Tenor. Was daran liegt, dass er in Montreal zur Welt kam und seine Laufbahn als Bariton begann. Ich bin nicht der erste, der sich über seinen Namen wundert. „Ja, Joseph Kaiser, das klingt, als wenn in Deutschland jemand George Washington hieße. Die Eltern meines Vaters kamen aus Straßburg und St. Gallen, und die meiner Mutter aus Schottland und Kanada.“ Und während Josephs Vater Märsche liebte, vor allem die von John Philip Sousa, waren es bei seiner Mutter Opern, „lots of Mozart“, und beide mochten auch Bach und Bizet, Abba und die Rolling Stones und Nana Mouskouri. Sie ließen alle vier Kinder Instrumente lernen – bei Joseph waren es Geige, Klavier, Cello und Schlagzeug. „Aber ich wollte sehr früh Sänger sein. Es klingt vielleicht albern, aber das gab mir eine Stimme für meine Persönlichkeit, das ist immer noch so.“
Dann gab es da diesen magischen Moment in Tanglewood, beim berühmten Festival. Joseph war achtzehn und lauschte mit 1200 Leuten einem Konzert mit Sopranistin Barbara Bonney, am Klavier von Warren Jones begleitet. „Ich glaube, sie sang fünf Zugaben, die letzte war eine Soloversion von Tonight aus der Westside Story.“ Er deutet singend an: „Tonight, tonight, it all began tonight… Warren Jones spielte die letzten Akkorde, und dann war der Saal still. Sechs Sekunden, sieben Sekunden. Ich erinnere mich, dass ich in dem Moment dachte, das möchte ich machen. Ich muss lernen, wie man das hinkriegt.“
Seine Stimme ließ er an der McGill University in Montreal ausbilden, und in dieser Stadt stellten anno 2002 die Juroren eines Wettbewerbs fest, dass im 25jährigen Bariton das Potential eines Tenors schimmerte. Wenn solche Juroren Teresa Berganza, Grace Bumbry, Marilyn Horne und Cesare Siepi heißen, sollte man sie ernst nehmen. Das tat Joseph. Beeinflusst so ein Fachwechsel die Identität? Er lacht: „I´m still me, ob das nun gut oder schlecht ist, jemand anders kann ich nicht sein.“ Als später der frischgebackene Tenor in Chicago als Erster Gefangener im Fidelio auf der Bühne stand, bei einer Generalprobe, fiel er zwei Gästen im Parkett auf. Der eine war Daniel Barenboim, der andere der Regisseur Kenneth Branagh, der eigentlich nur den Bassisten Rene Pape erleben wollte – der sollte den Sarastro in seiner Verfilmung der Zauberflöte singen.
Branagh erkannte im hochgewachsenen, athletischen Joseph Kaiser sofort den Tamino seiner Träume – und seiner Alpträume, denn diese Zauberflöte würde mitten im Ersten Weltkrieg spielen, im Gemetzel zwischen Frankreich und Deutschland. Und so kam es, dass das Publikum anno 2007 Tamino um ein Haar im schlammigen Graben krepieren sah, von Gasschwaden bedroht und von den unversehens auftauchenden drei Damen gerettet. Abgesehen davon, dass er wunderbar geschmeidig und fokussiert sang und sich nicht bewegte wie ein Opernsänger, der in den falschen Film geraten ist. „Auf der Bühne versuchen wir, alle Gesten zu vergrößern, damit es ankommt. Im Film ist schon ein Zentimeter so viel, dass darin Wahrheit liegen kann, echtes Gefühl.“
Darauf sei es Branagh angekommen in seiner aberwitzigen Kreuzung der Sphären: „Wenn es echt ist, nehmen wir den take, wenn nicht, machen wir´s noch mal.“ Von Branagh und vom Schauspielcoach Jimmy Yuill habe er viel gelernt. Die Kunst der kleinen Gesten und der unauffälligen Blicke merkt man ihm auch auf der Probebühne an. Sah er sich nach dem Erfolg des Films von manchen auf den Kino-Prinzen reduziert? „Oh god … Wir Sänger sind nur so gut wie unsere jüngste Vorstellung. Natürlich war der Film eine der größten Chancen meines Lebens, aber niemand geht ins Theater, um einen zu hören, der vor zehn Jahren gut war!“ Außerdem debütierte Kaiser 2007 nicht nur auf der Leinwand, sondern- dank Daniel Barenboim – auch in Salzburg, als Lensky in Andrea Breths Inszenierung von Eugen Onegin. Woraufhin viele große Häuser folgten, auch sein Zürcher Debüt als verträumt verliebter Michel in Bohuslav Martinus Oper Juliette.
Indessen bleibt er seiner Wahlheimat Chicago treu. „Ich habe auch in New York gelebt und mag es, aber ich brauche den ganzen Lärm nicht. Chicago hat mehr mein Tempo. Die Leute lächeln dich da auch mal an, anstatt geradeaus an dir vorbeizulaufen. Meine Kinder sind Teil der artistic community geworden. Mein jüngerer Sohn tanzt viel, mein älterer schreibt seit einem Jahr selbst Musik. Ich vermisse die beiden schrecklich! Das ist das Anstrengendste an dieser Karriere.“ Von der er sich bei einer Leidenschaft erholt, die bei Musikern verbreitet ist – gut essen. „Das ist wie mit guter Musik: Du fühlst dich verstanden und inspiriert.“ Hobbykoch Joseph investiert darum auch ins Restaurant Oriole an der West Walnut Street. „Du setzt dich hin, ohne Karte, achtzehn kleine Gänge, und willst nicht wieder weg. Miyazaki Wagyu Beef, Roggencappellini mit Trüffeln, Kaviar mit Meertrauben, es ist göttlich!“ Und strahlend blickt er auf die leere Snackbox vor sich, als hätte er all das in ihr gefunden.
Dieser Text entstand für das MAG 55, Magazin der Oper Zürich, erschienen im Januar 2018, und ist urheberrechtlich geschützt.“