4. Mai 2019

> Die Engführung von Symphonie fantastique und Balzacs Chagrinleder als Spiegel zynischer Zeiten, die Zeilen Flauberts und Meyerbeers, einander ergänzend als Augenzeugen der Februarrevolution 1848 … Die Genese von Liszts Totentanz inmitten der Cholera von 1832; die Entstehung von Berlioz´ Troyens mit Bezug auf den Pariser Stadtumbau; Chopins opus 61 und opus 65 vor dem Hintergrund eines Beziehungsendes… Die Schilderung der Arbeit einer Claque am konkreten Beispiel der Hugenotten, eine Rekonstruktion des Tannhäuser-Fiaskos, mit der dessen Darstellung im überwiegenden Teil der Sekundärliteratur korrigiert wird… Die politischen Umstände der Zensur von Offenbachs Barkouf nebst unveröffentlichten Zensorenbriefen… Das alles und dreimal so viel war dem Rezensenten einer deutschen Qualitätszeitung bereits bekannt, bevor es für Der Klang von Paris überhaupt recherchiert und geschrieben wurde. Wie sonst soll man die Ansage verstehen, das in diesem Buch Erzählte sei in „gut erprobten Führern“ „bereits erzählt“ worden? Es muss ein Traum von einer Bibliothek sein, in der man solche Führer fände.

Möglich ist freilich auch, dass er all die Funde, Revisionen, Neubeleuchtungen weiträumig umlesen hat, wie den Quellenverweis auf Berlioz´ Memoiren, auf die sich die Eingangsszene stützt. „Hagedorn weiß schon auf der ersten Seite, dass Berlioz mit seinem schönen Bariton singt, während er als Student der Medizin eine Leiche seziert und deren Schädel zersägt“, mokiert sich der Rezensent. Es ist aber Berlioz selbst, der das weiß: „Während ich den Schädel meines Objekts aufsägte, sang ich die Arie des Danaos“. So wie hier öffnet sich hinter jeglicher mehr oder weniger fiktionalen Nahaufnahme in dem Buch eine Schicht der Quellen. Das erzählerische Konzept dieser Quellenkompilation kritisch abzulehnen ist das Recht jedes Rezensenten, wozu noch viele andere Rechte und Freiheiten kommen – bislang verbunden mit der Pflicht, den Lesern kein X für ein U vorzumachen.

Die Feststellung im Buch, 1870 beginne „eine neue Zeit der Nationen und der Kriege“, veranlasst den Rezensenten, „sehr befremdet“, zum Hinweis, es habe zuvor doch den Krimkrieg und Garibaldis Feldzüge gegeben. Hoppla, die fehlen? Nein, aber die Seiten 229, 257 und 302 mag ein Journalist schon mal wegblättern. Wie auch jene 43 Seiten, die Chopins letzten drei Jahren gelten, und lächerliche 26 Seiten über Offenbach: „ein bisschen Jacques Offenbach, am Rande noch Chopin“ kommen der F.A.Z. zufolge vor, mehr brauchen die neugierigen und ahnungslosen Leser nicht zu wissen.

Sie könnten sonst zweifeln an der Diagnose, dass das Buch „im Wesentlichen die Geschichte der Oper“ erzählt. Tatsächlich unternimmt es auch jenen „Versuch einer Sozial- und Mentalitätsgeschichte von Paris als Musikstadt“, von welchem der Rezensent versichert, dass dieser Versuch nicht unternommen werde. Und überrascht sieht sich der Buchautor zitiert mit der Behauptung, bis 1867 habe die Kammermusik in Paris „keine Rolle“ gespielt. Das wäre in der Tat „schlichtweg falsch“. Dass sie indessen „kaum eine Rolle“ spielte, ist in diesem Fall eine Differenz um Ganze und kommt der Wahrheit wohl näher als Jan Brachmann einem Buch, das er hinter Suggestionen, Auslassungen und Unwahrheiten verschwinden lässt – warum auch immer.

Die Pariser des 19. Jahrhunderts hätten das alles übrigens ganz lustig gefunden. Jules Janin, der große Feuilletonist, wurde – so notieren es die Brüder Goncourt 1855 – nach einem Verriss gefragt: „Sie haben das Stück nicht gelesen?“ „Gott bewahre!… Aber ich habe es gelesen… Ich habe zwei Verse daraus gelesen!“ „Aber es ist in Prosa!“ Janin, lachend: „Vers oder Prosa, egal!“