„Was hat das mit mir zu tun?“

Sie stellt sich Beethovens Leonore gern als Mann vor und liebt Ambivalenzen. Eine Begegnung mit der amerikanischen Sopranistin Nicole Chevalier

Die Androidin Olympia in kniehohen Plateaustiefeln zum weißen Lackrock, die innig liebende Antonia im strengen blauem Rock, die Kurtisane Giulietta und die Sängerin Stella, unversehens auch ein Starlet, das sich in Glitzerrobe für einen Filmpreis bedankt, in perfektem Amerikanisch  – und immer dieselbe Sängerin, Nicole Chevalier. Wie aus einem Wachtraum war man zuletzt in Brüssel aus der Oper getaumelt, mit ihrer Stimme im Kopf, die diese fellineske Aufführung von  Hoffmanns Erzählungen durchleuchtet hatte, in vier Rollen, hell und fokussiert, Identitäten suchend, Projektionen erfüllend, grundverschiedene Körpersprachen nahtlos ins Vokale führend .

Nun stürzt diese Sängerin nebst Gepäck aus dem Dauerregen eines Berliner Februartags in das Balkanbistro am Weinbergpark, wo wir verabredet sind, und müsste schwer genervt sein. Ihr Flugzeug aus Wien hatte Verspätung, ihr siebenjähriger Sohn muss noch länger auf sie warten, und im Lokal kann man wegen scheppernder Bouzoukimusik kaum sein eigenes Wort verstehen. Sie lacht bloß. Ganz hinten steht ein Tisch, groß genug für sechs Leute. Und damit, wie sich herausstellen wird, gerade groß genug für ein Gespräch mit dieser Frau, die gern mit den Händen skizziert.

Nicole-Chevalier-by-Maurice-Korbel

Nicht erst seit ihrer Elettra in Mozarts Idomeno bei den Salzburger Festspielen im vergangenen Sommer zählt sie zu den spannendesten Opernsängerinnen. Wobei dieses Wort gar nicht zu ihr passt, mit all dem Musentempelsamt und Divenglanz, der ihm noch anhaftet. „Es ist nicht mehr so wie bei Maria Callas“, meint sie, rasch zum Wesentlichen kommend. „Was ist eine Bühne, was bedeutet Theater? Wie kommunizieren wir als Darsteller? Ich kaufe eine Karte und gehe in die Oper – was bedeutet das eigentlich?“

Chevalier stellt sich solche Fragen spätestens seit der außergewöhnlichen Traviata in Hannover, vor neun Jahren, als Regisseur Benedikt von Peter die Hauptfigur mutterseelenallein auf die Bühne schickte. Das ganze Liebesdrama als Imagination einer Einsamen, mit dem Orchester auf der Bühne als Resonanzkörper der Seele, Solisten und Choristen im Zuschauerraum. Das konnte nur mit einer Darstellerin gelingen, zu der Chevalier, wie sie gern bekennt, erst in den Proben wurde. „Wir haben in riesigen Räumen in einem Industriegebiet geprobt, alles war viel größer als ich, da konnte ich diese Einsamkeit gut spüren.“ Mit ausfahrenden Gesten malt sie die Situation so auf den Tisch, dass sie beinahe die Gläser mit Latte macchiato und das Aufnahmegerät herunterfegt.

„Benedikt hat insistiert. ,Du verschließt dich. Warum? Mach das nicht.‘ ,Sorry, das geht mir ein bisschen zu nah.‘ ,Nein, es muss genauso sein.‘“ So intensiv, sagt sie, müsse es nicht immer zugehen. „Aber ich habe mich dabei selbst kennengelernt.“ So offen, wie sie das erzählt, ist sie auch, mit schmalem, energischem Gesicht, viel zu lebendig, um vorsichtig zu sein, sehr identisch mit sich selbst und keineswegs die multiple Persönlichkeit, die sie in Hoffmanns Erzählungen verkörpert. Zum ersten Mal tat sie das in der Regie von Barrie Kosky. Nach ihrem tollkühnen Alleingang als Violetta hatte er sie ins Ensemble der Komischen Oper geholt. Für ihre vier Rollen in Offenbachs Oper wurde Chevalier 2016 mit dem „Faust“ ausgezeichnet.

Ihr Urgroßvater ist eine Chansonlegende

An der Wiege in Chicago wurde ihr all das nicht gesungen, obwohl ihr Urgroßvater väterlicherseits Maurice Chevalier war, französische Chansonlegende und Filmschauspieler in Hollywood. Nicoles Stiefvater war indessen Chirurg, ihre Mutter Krankenschwester – Letzteres nicht ganz freiwillig. „Sie hatte sich immer gewünscht, Pianistin zu werden, die Eltern verboten ihr das. Also entschied sie sich für Medizin. Aber wenn sie aus dem Krankenhaus nach Hause kam, spielte sie sofort Klavier. Chopin, Bartok, Beethoven, Mozart…“ Die Gymnasiastin Nicole sang auch in einem Chor und nahm ein paar Gesangsstunden, „vielleicht fünf, ich wollte gern ein Solo im Messias singen“. Beruflich entschied sie sich für ein Medizinstudium.

An der Northwestern University wurde aber auch Musik gelehrt. Als man da für eine Studentenproduktion von Puccinis Gianni Schicci eine Lauretta suchte, „bin ich so impromptu reingegangen und habe gesagt, ich würde gern vorsingen. Ich habe die Rolle bekommen! Aber die fanden raus, dass ich gar kein Musikstudent war.“ Sie machte die Aufnahmeprüfung und bestand. Ihre Mutter fiel aus allen Wolken. „,Nicole, was machst du? Medizin oder Musik, du musst eine Entscheidung treffen!‘ ,Ich treffe sie später. Mama, ich möchte nur etwas Musik machen!‘“ Chevalier erzählt gern in Dialogen, in Szenen, dann wird es wieder eng auf dem großen Tisch, während vorn die Bouzoukis lärmen.

Nach einem Jahr weiß die frischgebackene Lauretta, dass der Tag nicht genug Stunden für ein Doppelleben hat, setzt das Musikstudium an der Indiana University und der New Yorker Juillard School fort und findet es dann „richtig schwierig, irgendwie anzufangen. Wir haben in den USA nicht so viele Theater, an denen Sänger gebraucht werden.“ Auf nach Europa also! Nach einigen vergeblichen Vorsingen ist die 23jährige kurz davor, aufzuhören, als ein Angebot aus Freiburg kommt. „Sonst wäre ich nach Kalifornien gegangen, mit meinem Hund, und hätte versucht, einen neuen Anfang zu finden.“ Selbst am Freiburger Opernhaus ist sie noch nicht sicher, was sie wirklich will, bleibt aber vier Jahre im Ensemble. Dann geht es ab nach Kassel und von da nach Hannover – die ganz gewöhnliche harte Ochsentour durch die deutschen Stadttheater.

Aber es ist auch die Begegnung mit einer Perspektive, die in den USA nicht üblich ist: Regietheater oder die Kunst, Fragen zu stellen. Chevalier erinnert sich an ihre Überraschung, als sie zum ersten Mal auf einer Probe gefragt wurde: Was würdest du in diesem Moment machen, was schlägst du vor? „In den USA hieß es, du kommst hier rein und machst das und das – das hat nichts mit mir zu tun, mit Nicole, und dem, was ich denke und fühle. Aber ich habe lange nicht in den USA gearbeitet, wahrscheinlich hat sich vieles geändert…“

Oper, sagt Chevalier, sei im Grunde nur eine andere Art, miteinander zu kommunizieren. Doch das wird oft erst über komplexe Umwege möglich. In die Titelpartie von Aribert Reimanns Medea kann sich auch die beste Sängerin nicht mal eben so reinschmeißen. „Ich habe mir fast ein Jahr genommen, um das zu lernen, und zuerst gedacht: Ich kann das nicht, vielleicht ist das nichts für mich. Du musst dein Ego beiseiteschieben, damit du mit kleinen Babyschritten anfangen kannst. Den Rhythmus habe ich lange nur gesprochen. Ich musste die Partie in der Muskulatur und im Gefühl speichern. Am Ende hatte ich sozusagen zwei Köpfe auf dem Körper. Einen, der ganz präzise mit der Technik war, und den anderen, der das lebte. Medea kann nicht kühl gespielt werden, sie muss wild sein – man muss Kontrolle schaffen, um außer Kontrolle zu sein.“

Während bei Medea, der großen Betrogenen, klar ist, was sie antreibt und was sie will, ist die Leonore in Beethoven einziger Oper Fidelio einerseits liebende Frau, andererseits politische Protagonistin im Wind der Französischen Revolution, noch dazu als Mann verkleidet. „Sie könnte auch ein Mann sein“, meint Chevalier, „ich liebe diese Ambivalenz.“ An ihrer Leonore arbeitet sie gerade, drei Wochen sind es von unserem Treffen noch bis zur Premiere, mit Christoph Waltz als Regisseur im Theater an der Wien. Sie stellt sich viele Fragen, auch nach der Aktualität ihrer Gerechtigkeitskämpferin – immerhin ist Leonores Mann politischer Gefangener eines Willkürherrschers.

“Fidelio ist aktuell hoch drei”

„Es ist ungerecht, was da passiert, und wir können das nicht so lassen. Es fehlt etwas Gutes für uns alle. Das finde ich aktuell hoch drei“, sagt die Sängerin und wird sehr nachdrücklich. „Das gilt für die ganze Welt, das geht uns alle etwas an!“ Wie sie dabei gegen den Tisch haut, könnte man meinen, sie meint die nächste Revolution und nicht die Wiener Aufführung. Passt denn Beethovens Musik von 1806 dazu? „Wenn man die Partie allein lernt, klingt das nach ein bisschen wenig. Er schreibt nicht für die Stimme, sehr instrumental. Aber wenn wir alle zusammenkommen, hat es eine so große Wirkung! Wir sind Teil eines ganzen Klangraums.“

Wie arbeitet der Regisseur? „Sehr genau“, sagt Chevalier und verwandelt sich kurz in Christoph Waltz. Ein knappes Zurechtrücken der Schultern genügt, aus dunklen Augen werden helle, ein wenig schimmern die kontrollierten Typen durch, die Waltz in Quentin Tarantinos Filmen spielt. Gleich darauf lehnt sie sich mit einem schrägen Grinsen nach vorn, um Krzysztof Warlikowski zu charakterisieren, der in Brüssel Hoffmanns Erzählungen inszenierte. „Er redet nicht viel, ist aber irgendwie sehr direkt, umgeben von einem familiären Team. Das hat eine wilde Qualität. Total anders.“ Und schließlich schwärmt sie von Peter Konwitschny, der jede Note kenne, mit ihr Halévys La Juive erarbeitete und weitere Pläne hat.

Vielleicht ist es das Geheimnis von Nicole Chevalier, dass sie sich aller Widersprüche der seltsamen, heterogenen Kunstform Oper nicht nur bewusst ist, sondern in ihnen sich entfalten kann, ja in all diesen Spannungen ihre Stimme bündeln. Eine, die sich nicht leicht entscheidet und sich gerade deswegen gern Extremen hingibt, ausgestattet mit einem enormen Talent zur Verwandlung und einer direkten Verbindung zu Kinderjahren, als sie gern „aus nichts etwas machte, wie Shakespeare  -  einen Wald aus einem Stück Holz!“ Was, wie sie gesteht, im technology age ein bisschen altmodisch ist. Aber um so nötiger.

Noch immer umbrandet uns der Balkansound, dahinter das Rauschen der Stadt, in der Chevaliers Sohn jetzt in die erste Klasse geht. Sie selbst hat die Geborgenheit eines festen Ensembles vor drei Jahren aufgegeben. „Er war sonst immer bei mir, jetzt sind wir beide unzufrieden, dass er nicht mit mir auf große Reisen gehen kann. Und ich möchte auch ein bisschen normales Leben haben, ich bin Mutter. Wie funktioniert das? Es gibt keine Antwort. Es muss in Balance fließen und ändert sich permanent.“ Auch vor ihren Kindern müssen, meint sie, Sängerinnen und Sänger zur ihrer Passion stehen: „Erzählen, wer ich als Mensch bin, nicht nur als Mama.“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien am 12. März 2020 in kürzerer Fassung mit dem Titel „Talent zur Verwandlung“ in der ZEIT und wurde für diese Website geringfügig überarbeitet. Foto: Maurice Korbel