21. März 2020

> Drei Monate sind vergangen seit dem letzten Blog hier. Die jüngsten zwei Wochen genügten, um  auch in Deutschland das Leben, das  Arbeiten, den Blick auf die Welt und die Zukunft grundlegend  zu ändern und dem Eindämmen einer Pandemie alles nachzuordnen, bis hin zum Verfassungsbruch, den das Land Bayern mit einer „Ausgangsbeschränkung“ nur dem Wort nach nicht begeht – dazu hat Heribert Prantl Bedenkenswertes zu sagen. Ohne weiteres sind die Existenzgrundlagen Zehntausender von Selbstständigen und Freischaffenden und ihrer Familien zur Disposition gestellt worden. „Das politische Handeln steht nur noch im Dienst des nackten, biologischen Lebens“, stellt Daniel Binswanger in der Republik fest. Gesundheit und Grundrechte schließen einander aber nicht aus, und Menschenleben zu schützen heißt auch das zu schützen, was uns menschlich leben lässt, mithin zivilisiert. Seit einer Weile sind wir schon demokratisch und seit etwa  40.000 Jahren kulturell.

35.000 Jahre nach den ersten Knochenflötenspielern auf der Schwäbischen Alb gibt es in  Deutschland 55.000 Freischaffende im Bereich der Musik. Bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 14.500 Euro hatten sie wenig Spielraum, Rücklagen für eine Pandemie zu bilden, während berühmte Formationen wie das Ensemble Modern aufgrund des Zuwendungsrechts gar keine Rücklagen bilden durften und ebenso am Abgrund stehen – mehr dazu in der VAN-Kolumne Rausch & Räson. Während die Politik langsam begreift, dass man die dichteste Musikszene der Welt nicht ab- und wieder anschalten kann wie ein Radio, stellt sich Oboist Christian Hommel  in den Wald und spielt Pan von Benjamin Britten. Es ist eine Rückkehr in die Zeit vor allen Konzerten, gefilmt und ins Netz gestellt. Es ist einstweilen der einzige Weg, Musiker zu bleiben, zu spielen und von vielen gehört zu werden – die Neunzehn vom Ensemble Modern dürfen sich nicht mal zum Proben treffen.

Als Erinnerung an eine Zukunft nach dem kollektiven Koma lässt sich die Begegnung lesen, die ich mit der Sopranistin Nicole Chevalier vor vier Wochen in Berlin hatte. Ihr Fidelio in Wien, der da noch in Vorbereitung war, fand inzwischen vor leeren Reihen statt, als Videostream. Von mancher Zukunft wünscht man sich, sie wäre zu Unrecht geahnt worden. Im April 1914 schrieb Alban Berg an Arnold Schönberg: „Wenn das, was ich schreibe, nicht das ist, was ich erlebt habe, richtet sich vielleicht mein Leben einmal nach meinen Kompositionen, die ja dann die reinsten Prophezeihungen wären.“ Gerade hatte er den „Marsch“ seiner Drei Orchesterstücke opus 6  konzipiert. Als er das katastrophische Stück in idyllischer Alpengegend ins Reine schrieb, brach der Erste Weltkrieg aus. “Marsch in den Untergang”: Um Bergs Orchesterstücke, ihre Zeit und ihre Interpreten geht es in einer Sendung in der Reihe „Interpretationen“, die am Sonntag um 15.05 im Deutschland Radio Kultur zu hören ist (und später als Podcast), mit mir am Mikro und Frank Arnold als Sprecher, mit Aufnahmen von Marc Albrecht und Michael Gielen, Giuseppe Sinopoli und Claudio Abbado, Pierre Boulez und Herbert von Karajan.

Die beste Nachricht des Tages: Vor 335 Jahren kam JSB zur Welt. Happy Birthday!