“In der Tat ist nichts klar!”

Er dirigiert, spielt, schreibt, studierte theoretische Philosophie, spricht sechs Sprachen und macht aus 45 Minuten ein kleines Universum: Ein Treffen mit dem Mailänder Gianluca Capuano in Brüssel

Brüsseler rush hour, Winternachmittag mit Sonne, die Straßen sind ebenso voll wie die Bürgersteige.Wo ist denn nur der Haupteingang des Palais des Beaux Arts, das sie einfach „Bozar“ nennen? Die runde Ecke hier an der Rue Ravenstein? Mit Shops und Cafés hinter den Glastüren? Schnell mal eine SMS schreiben. Zwei Sekunden nach der Antwort „coming“ sehe ich einen Mann aus dem Gebäude treten, der könnte es sein. Er ist es auch. Sie sollten bei der Agentur mal das Foto aktualisieren, ich hatte mit einem Mittzwanziger gerechnet. Gianluca Capuano schätze ich auf Anfang vierzig. Mittelgroß, schlank, bärtig, nett, mit wachem Blick und einem Zigarillo in der Rechten. Den raucht er noch zu Ende und freut sich, dass ich mir auch eine anzünde.

Auf wie verschiedene Weisen man sich mit Künstlern treffen kann! Manche habe ich schon oft auf der Bühne erlebt, andere nur einmal kurz in der Probe, mal trifft man sich in Atelier oder Kantine, mal geht man spazieren. Von den einen gibt es meterweise Archivmaterial und Interviews und dreißig Mitschnitte bei Youtube. Bei anderen ist es, als vermieden sie es, allzu breite Spuren zu hinterlassen. Zu ihnen zählt Capuano, der doch mehr als gut beschäftigt ist von Hamburg bis Salzburg, und jetzt gerade mit Cecilia Bartoli durch Europa tourt, bis nach Zürich, wo er auch Glucks Iphigénie en Tauride dirigieren wird. „Wir können gern deutsch reden“, sagt er, während wir reingehen und einen Platz im Café suchen. Da ist es zu voll und zu laut. Tiefer hinein ins Gebäude.

Deutsch hat der Mailänder in Freiburg gelernt, während eines zweijährigen Studiums der Philosophie. „Bei Freiburg und Philosphie fällt einem Halbgebildeten erstmal Heidegger ein“, meine ich, Capuano lächelt. „Seinetwegen war ich auch da. Ich wollte bei Heideggers letzter Schülerin promovieren – aber dann wurde es mit der Musik zu viel.“ Wir gehen durch immer leerere Foyers und Flure, bis wir seine Garderobe erreicht haben. Er füllt an der kleinen Kaffeemaschine zwei Tassen. „Ich habe es immer geliebt, mit Stimmen zu arbeiten“, meint er. „Die mysteriöse Welt der Stimmen hat viele philosophische Implikationen. Musik und Sprache sind sich in ihr so nah. Hier liegt der Schlüssel, um Musik zu verstehen. Es fasziniert die Philosophen, wie die Stimme, dieses Immaterielle, so viele Bedeutungen haben kann.“

Er empfiehlt mir Flatus vocis von Corrado Bologna und verschweigt, dass er auch ein Buch publizierte. Darauf stoße ich viel später, als ich seinem Tipp nachgehe und Bologna zitiert finde in diesem Band von 220 Seiten:  I segni della voce infinita (Die Zeichen der unendlichen Stimme – Musik und Schrift) vor siebzehn Jahren in Mailand erschienen. Dort kam Capuano 1968 zur Welt, und dort fand er noch vor der Philosophie zur Musik. An seinen „total nicht musikalischen“ Eltern lag das nicht, eher schon an einer Großmutter, „die eine große Leidenschaft für die Oper hatte. Ich nehme an, das ist der Ursprung meines Interesses für Stimmen.“ Und es gab einen Nachbarn, der Orgel spielte. Als der achtjährige Gianluca ihn in einem Konzert hörte, „war das die Offenbarung. Ich habe gesagt, das ist mein Instrument. Es gab Privatunterricht, und mit dreizehn, vierzehn habe ich im Konservatorium weitergelernt.“

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Zur Alten Musik führte ihn seine Liebe zu Bach und Buxtehude, „von da ging ich rückwärts zum Italien des17. Jahrhunderts“, und zwar an der wichtigsten Adresse für Italiener, die das Spiel in historischer Aufführungspraxis lernen wollen: Die ehrwürdige Mailänder Civica Scuola di Musica, genauer, deren Institut für „Musica antiqua“. Hier begann vor ihm auch Giovanni Antonini seinen Weg, der Flötist und Gründer von Il giardino armonico, und beider Wege würden sich später sinnreich kreuzen… Zunächst aber gründete Capuano, inzwischen versierter Cembalist und Barockorganist, sein Ensemble Il canto d´Orfeo, und er spielte mit bei den Barocchisti, die 2012 mit Cecilia Bartoli das Album Mission mit Musik von Agostino Steffani aufnahmen.

Lassen wir mal die Frage beiseite, wie und wann er außer Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch auch noch genug Russisch lernte, um Bulgakows Der Meister und Margerita im Original zu lesen. Er war jedenfalls, dank seiner Liebe zu Stimmen, Chorleiter jener Norma vor fünf Jahren in Salzburg, als Antonini La Scintilla dirigierte und Cecilia Bartoli die Titelrolle sang. Und er war auch dabei, als die Produktion in Edinburgh gastierte und im letzten Moment der Dirigent ausfiel. Capuano übernahm und überzeugte. „Das war meine erste Erfahrung als Dirigent mit Cecilia, eine große Verantwortung. Seitdem mache ich fast alle Produktionen mit ihr. Es gibt eine besondere Chemie. Ich liebe es, wie sie mit dem Text umgeht, das ist einzigartig.“

Das heißt viel bei einem, dem die Beziehung zwischen Text und Musik und die Rhetorik so immens wichtig sind. Sie geht weit über die paar Affekte hinaus, die jeder Barockmusiker von heute kennt. „Es ist ein unendlicher Katalog, der auch theologische Aspekte hat. Früher lernten das schon die Kinder, wie Latein. Man findet dieselben Figuren bei Bach und Mozart, Gluck und Rossini, bis zum Belcanto. Man muss nur wissen, was das bedeutet, und auf der Basis musizieren. Das ändert viel, auch in der Instrumentalmusik. Die Zeichen der Komponisten sind natürlich nicht immer unmittelbar klar. Und um so schwächer, je weiter man zurückgeht. Unsere Arbeit ist die Hermeneutik der Zeichen, die Auslegung. Die Philosophie ist immer da!“ Er lacht.

Genau darin sieht er auch einen Weg zur Musik von Gluck, die auch nach ihrem Pariser Revival durch Hector Berlioz nie wieder anhaltend populär wurde. Bei Mozart, meint der Dirigent, könnten die wunderschönen Melodien den Musikern wie den Hörern „sozusagen ersatzweise“ hinweghelfen über das verlorene Wissen, bei Gluck nicht. Der sei aber mit seinen expressiven Rezitativen ein Modell für Mozart und setze auf neue Weise fort, was Monteverdi begann, „dieses Experiment mit Monodie und sprezzatura, eine gewisse Freiheit, für die Stimme zu schreiben. Übrigens tat Monteverdi das mit Orfeo im selben Jahr, als in Japan das Kabuki entstand, das moderne Musiktheater. Wirklich erstaunlich!“

Bis vorhin hatte ich eigentlich gedacht, in der Alten Musik sei soweit alles klar. Capuano lacht herzhaft. „In der Tat ist nichts klar! Viele Musiker haben das Verhältnis von Text und Musik total vergessen. Für mich ist es wichtig, immer mit Wissenschaftlern im Gespräch zu sein. Aber wer sagt, ich habe die Wahrheit gefunden, liegt  falsch. Ich mag die Taliban der Alten Musik nicht, die sagen, so und so muss es sein. Wir kommen nicht ans Ende. Die letzte Generation hat einer obsessiven Akzentuierung abgeschworen, pam, pam, pam… man hatte am Anfang ein wenig übersehen, dass es auch eine Horizontalität der Musik gibt. Aber einige Punkte sind fixiert: Bach ohne Darmsaiten kann ich mir nicht vorstellen.“

Also ist er selbst doch ein bisschen Taliban? „Teilweise.“ Er grinst. Und dass  Opern meist kein bisschen „historisch“ inszeniert werden? „Zum Glück! Es geht um Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit, nicht um Authentizität. Wenn wir die Marienvesper von Monteverdi im Konzert hören, entspricht das auch nicht ihrem ursprünglichen Zweck. Mit dem, was man sieht, kann man die Tiefe dessen, was man hört, entdecken und verstärken. Das ist eine Idée fixe von mir. Aber ich kenne viele Kollegen, die Regisseure geradezu verabscheuen – als ob die Musik etwas Reines wäre. Ich habe in Hamburg das Weihnachtsoratorium in der Choreographie von John Neumeier dirigiert – und die Art, wie ich Bach aufführte, wurde sehr von der Bühne beeinflusst. Total spannend.“

Wie weit reicht sein Repertoire? Ein unhörbares Seufzen. „Jetzt bin ich vor allem Spezialist für Belcanto, natürlich freut mich das. Aber wenn mich jemand fragen würde, willst du Strawinsky oder Alban Berg dirigieren, wäre ich begeistert. Das würde ich gern machen. Auch Zeitgenössisches. Und mehr Monteverdi und Cavalli…“ Als ich wieder auf der Rue Ravenstein stehe, haben wir erst 45 Minuten geredet. Wirklich? Die Zeit ist ein sonderbar Ding.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien geringfügig kürzer im MAG 75, dem Magazin der Oper Zürich, im Januar 2020. Foto: Monika Rittershaus