Mauro Peter ist im Hofbräuhaus auch ohne Bier in bester Laune. Begegnung mit einem lyrischen Tenor, der als Luzerner Singknabe begann und vielleicht einmal “Kugelstoßer” wird
Wir treffen uns sozusagen im Auge des Orkans, wobei es ein wunderschöner Spätsommertag in München ist, sonnig und warm. Es ist aber nicht irgendein Tag, sondern der des «Ozapft is», das in diesem Jahr nicht auf der «Wiesn» stattfindet, wegen Corona, sondern in zahllosen Wirtshäusern der Stadt. Und das berühmteste in der Mitte hat sich Mauro Peter zum Treffpunkt erkoren, der lyrische Tenor, um über das Singen, die Oper und andere wichtige Dinge zu reden, zu denen für ihn halt auch das Hofbräuhaus zählt. Grosser Rummel in der schmalen Gasse davor, ein Gedränge aus Touristen und Trachtenträgern jeglichen Alters, zwischen denen ein herausragend stattlicher Mann erscheint und heiter um sich blickt: Mauro Peter, vor 33 Jahren in Luzern geboren.
«Das hat mit meiner Münchner Zeit zu tun», meint er, als wir drinnen die Treppen hochgehen, die Gaststube unter uns lassend. Fünf Jahre lang hat er in der bayerischen Landeshauptstadt studiert, «seitdem trinke ich wahnsinnig gern Bier. Ich kann gern mal ausgelassen sein, auch wenn man sich immer ein bisschen zurücknehmen muss, weil’s nicht das Beste für die Stimme ist.» Er lacht so, wie ein Tenor lacht, der sehr gut bei Stimme ist. Weil er die aber nicht nur in Form halten, sondern stetig entwickeln will, hat er am Nachmittag Unterricht bei seinem Coach am Starnberger See, und da liegt das Hofbräuhaus praktisch an der Strecke. Wir werden in unserer Chambre séparée im zweiten Stock allerdings keinen Tropfen trinken, nicht mal Wasser.
Es ist kein Kämmerchen, sondern ein Saal, groß genug für eine Probe mit ganzem Ensemble, von Mittagslicht durchflutet, durch dessen Fensterscheiben die Blasmusik von draußen dringt und wo man uns schlicht vergißt. Umso konzentrierter bleibt der Sänger gleich bei dem Thema, das ihn gerade am meisten beschäftigt – die Entwicklung der Stimme. «Wie schaffe ich es, das Repertoire zu erweitern, den großen Körper, den ich habe, besser zu nutzen, das Lungenvolumen? Es ist ja nicht große Lunge gleich großer Atem. Es gibt ganz dünne Sänger mit enorm langem Atem. Die teilen sich ihre Kräfte ökonomisch ein. Und ich möchte das erweitern, ohne hinten raus etwas zu verlieren. Ich möchte immer noch ein Heidenröslein singen können.»
Mauro Peter ist nämlich Liedsänger ebenso, wie er Opernsänger ist, und gerade
vor einer Woche hat er in Linz mit dem Pianisten Helmut Deutsch seinen zweiten
Auftritt nach dem Lockdown gehabt, jenem legendären Begleiter, nun schon 74 Jahre alt, mit dem er auch Schumanns Dichterliebe aufnahm. «Es sind ganz, ganz leise Töne mit dabei, die würden leiden, wenn das nur noch mit Druck geht, weil die Stimme nicht richtig schließt.» Und eben das könne passieren, wenn die Stellknorpel, an denen im Kehlkopf die Stimmlippen befestigt sind, auf kräftige Heldenhöhen trainiert werden. «Das singen die strong men, die Gewichtheber. Man verlangt ja auch nicht von einem Kugelstoßer, dass er Ballett tanzt, und ich komme stimmlich gesehen vom Ballett her… vielleicht werde ich mal zum strong man, vielleicht auch nicht. Wer weiß…”
Fürs erste würde er, der jetzt in Zürich den Nemorino im Elisir d’amore singt, sich schon mal den David in Wagners Meistersingern zutrauen. Was aber den Stolzing angeht: «Ich sehe vielleicht so aus, aber meine Stimme ist weit davon entfernt, das zu stemmen.» Auch kleineren Schritten zur Vielfalt stehe freilich die «Schubladisierung» der Branche im Weg, die Festlegung auf ein Fach. «Es gibt Leute, die das aufbrechen, wie Daniel Behle, der singt Mozart, hat aber auch schon seinen ersten Lohengrin gesungen und macht dann wieder eine sehr feine Liedplatte. Mit meinem Coach Dietrich Schneider kann ich jedenfalls etwas tun, um die Stimme zu erweitern. Dem ist es völlig wurscht, wieviel Erfolg ich irgendwo habe. Ihn interessiert nur, wie ich singe da in seinem Häuschen.»
Der erste, dem Mauro Peters Stimme auffiel, war Marc-Olivier Oetterli, inzwischen renommierter Bassbariton, der als junger Leiter der Singknaben in Luzern durch die Grundschulen der Stadt zog, auf Talentsuche, und den Neunjährigen als Alt in den Chor holte. «Auch meine Eltern haben im Chor gesungen, und im Radio lief immer Klassik, das war Teil des Alltags, aber man maß dem keine grosse Bedeutung zu. Mein Bruder ist in Richtung Sport gegangen, er wurde die Nr. 66 im weltweiten Squash Ranking! Wir konnten uns entwickeln, wie wir wollten. Bei mir kam mit siebzehn der Wunsch auf, professionell zu singen. Wir haben mit den Singknaben ein Musical gemacht, Rat’nRoll, und ich habe unerwartet die Hauptbösewichtsrolle gekriegt und wusste, ich will auf die Bühne. Aber nicht zum Musical, ich wollte zur Oper.»
Er war da längst vom Alt zum Tenor geworden, «nahtlos», ohne Umwege. An der Münchner Hochschule für Musik und Theater gewöhnte ihm Fenna Kügel Seifried erst einmal das «Chorige» ab und arbeitete an der Höhe, an den Obertönen, an der Körperlichkeit. «Ich hatte in der Mittellage schon ein bisschen was und dachte, klar, das kann man jetzt nach oben verlagern. Aber ich kam da nicht raus, habe den Ferrando gesungen…» Er parodiert sich krächzend: «Höaahh…», und in diesem Moment schaut eine Kellnerin in den Saal, zieht erschrocken den Kopf zurück und schliesst die Tür. Wir müssen weiter trocken bleiben. «Also, du musst die Stimme oben abschlanken», fährt Mauro Peter unbeeindruckt fort, «und dann gibt’s plötzlich eine Weiterentwicklung!»
Die verlief bei ihm rasant. Er war noch an der Theaterakademie, nach der Hochschule, als er der damaligen Zürcher Operndirektorin Sophie de Lint vorsang und umgehend einen Vertrag in der Hand hatte. Und kaum hatte der 26jährige 2013 in Zürich als Jaquino im Fidelio debütiert, sah er sich in Wien einem der bedeutendsten Dirigenten der Zeit gegenüber. Vorsingen bei Nikolaus Harnoncourt im Musikverein, Mozart, ein hochnervöser Mauro Peter beginnt mit Belmontes erstem Rezitativ: «Konstanze, Konstanze, dich wieder zu sehen!» Blütenschön singt er mir gegenüber am Tisch die ersten Takte. Doch sofort habe Harnoncourt abgebrochen und ihn beschworen: «Sie müssen das so… so völlig begeistert… Sie können nicht mehr weiter… Konstanze», mit abbrechender Endsilbe singt er jetzt wie Harnoncourt, fast röchelnd. «Er war da mit seinen riesengrossen, feurig leuchtenden Augen und hat mir das vorgemacht, und dann kamen wir vielleicht auf zehn Takte in vierzig Minuten.»
Aus dem Vorsingen war gleich eine Probe geworden; im nächsten Jahr sang Mauro Peter den konzertanten Da-Ponte-Zyklus im Theater an der Wien unter der Leitung des Meisters, den Basilio, den Don Ottavio, den Ferrando. Bei so einem Start lässt der Ruf nach Salzburg nicht lange auf sich warten. Als Andres im Wozzeck debütierte der Tenor 2017 in derselben Produktion wie Asmik Grigorian als Marie. Doch im Jahr danach geriet die Salzburger Zauberflöte, deren Tamino er war, in den Schatten des Salome-Triumphs. Mit der Regie wurden von Kritikern auch die Solisten ausgezankt, das traf ihn hart. «Bei mancher Kritik ist auch Nostalgie mit dabei… Dann geht’s halt raus und hört euch alte CDs an! Es gibt jetzt die Sänger, die da sind, so schlecht sind die nicht.”
So selbstbewusst, sagt er, denke er erst seit Corona. Zwei Monate lang sang er keinen Ton, «der Antrieb war komplett weg». Er dachte viel über sich nach und stieß auf «mein Bedürfnis, von außen Anerkennung zu kriegen. Aber den Selbstwert darf man sich nicht von außen definieren lassen. Kritik darf man nicht persönlich nehmen, auch wenn in meinem Singen meine ganze Persönlichkeit ist. Das zu begreifen ist ein großer Durchbruch. Käme jetzt ein zweiter Lockdown, würde ich die Zeit nutzen. Es hat seinen Sinn, was ich mache, was das Theater macht, und ich will mich weiterentwickeln. Wenn wir in acht Jahren wieder hier sitzen oder woanders, wird mir meine Stimme von 2020 vielleicht wie mein kleiner Bruder vorkommen!» Er lacht, und die Blaskapelle unten auf der Gasse spielt immer weiter.
Dieser Text entstand für das MAG 78 der Oper Zürich, erschienen im Oktober 2020 – online auch hier zu lesen – und ist urheberrechtlich geschützt. Das Szenenfoto mit Mauro Peter als Nemrino in “L´elisir d’amore” machte Judith Schlosser.