“Mezzos are troublemakers. Really me…”

Vivica Genaux kommt aus Alaska, singt und lebt aber weit oberhalb des Gefrierpunkts. In der Züricher Opernkantine erzählt sie von ihrem Weg zum Mezzo-Star und ihrer Liebe zur Barockoper

Ein Bahnhof in Osaka, Winter 1982. Charles T. Genaux, amerikanischer Biochemiker auf Forschungsreise, wartet mit seiner Familie auf den Zug nach Okinawa. Seine Tochter Vivica, dreizehn, kommt strahlend mit einem Büchlein an. In der Buchhand­lung hat sie das Libretto von My Fair Lady entdeckt – auf englisch. „Ich weiß nicht, wie das möglich war!“ Sie freut sich jetzt noch, einige Jahre später. „Ich war schon immer verliebt in die Rolle der Eliza. Ich liebte Audrey Hepburn, Julie Andrews, jede, die das sang, und war sowieso schon entschlossen, im Sommer die Eliza in einer Produktion meiner High School zu singen.“ Der Fund war für sie so etwas wie ein Wink der Götter. „Ich lernte den ersten Akt auf dem Weg nach Okinawa und den zweiten auf dem Rückweg.“

Vivica Genaux erzählt das weit entfernt von Japan und von Fairbanks, ihrer Ge­burtsstadt in Alaska, wo sie tatsächlich die Rolle der Eliza bekam, als Allerjüngste auf der Schülerbühne. Aber nichts ist weit entfernt, wenn diese funkelnde Frau davon erzählt, mal ernst, mal in Gelächter ausbrechend oder in die Sprache ihrer Ehe­-Hei­mat Italien. Aus der Nähe von Venedig ist sie nach Zürich gereist, und hier sitzen wir in der Opernkantine. Gerade hat sie mit Ottavio Dantone die Partie des Megacle geprobt, Freund jenes Licida in Pergolesis Oper L’Olimpiade, der dieselbe Frau liebt, ein barocker Plot, „von dem ich das Gefühl habe, dass wir dem nicht weiter folgen werden. Es ist ein flexibles Projekt mit einem Video. Wegen der Corona­-Situation wird mit allen Möglichkeiten gerechnet. Keiner von uns weiß, was das werden wird.“

Sie freut sich, dass das kleine Orchester live im Graben dabei sein wird und nicht über Lautsprecher. Sie ist dankbar, überhaupt hier zu sein, „das ist eines der wenigen Häuser, wo wir jetzt arbeiten können!“ Und sie mag ihre Arien, die für einen Kastra­ten geschrieben wurden, «so eine Art Broschi­-Sound, bam­bam­bam­bam», sagt sie beiläufig, als sei völlig klar, dass ich Riccardo Broschi kenne, den komponierenden Bruder des Kastraten Farinelli. Vivica Genaux denkt und spricht unglaublich schnell und klar, auf englisch – so, wie sie auf italienisch singt, wenn sie abhebt. Die Kunst der Koloratur beherrscht sie in Perfektion, dazu voller Esprit und Sinnlichkeit. In „nahezu unsingbaren Arien“, staunte 2019 die F.A.Z., entfache Genaux „ein Feuer­werk vokaler Hochseilakte“.

Shotting Vivica Genaux 12 luglio 2018

Das Virtuose ist dabei ein Ausdruck der Gefühle, die sie in ihren Rollen interessieren. „In einer Arie von Pergolesi, die offenbar der Hit der Show war, Se cerca, se dice, gibt es ein stop and go ganz unterschiedlicher Energien, Megacle ist hin und her gerissen. Wenn man es sich anguckt, sieht es sehr einfach aus, man könnte fürchten, es sei langweilig, aber es ist sehr direkt, sehr aufrichtig, eine Art Lascia ch’io pianga.“ In der Welt barocker Opern bewegt sie sich, als sei sie darin aufgewachsen, und gleich hinein ins Mezzofach.

Das Gegenteil ist der Fall. Aufgewachsen ist Vivica in Fairbanks, einer Stadt voller Musicals und damals ohne Oper, am 64. nördlichen Breitengrad, von Gold­gräbern gegründet, im Kalten Krieg eine US­-Militärbasis. „Es gab da viele Vietnam­-Ve­teranen, die in der Gesellschaft nicht mehr zurecht kamen und einen Platz suchten, wo sie nicht konform sein mussten. Alaska ist eine sehr offene Gesellschaft. Auch mein Vater war nicht der Typ für social rules, er ließ sich nichts vorschreiben, baute ein Blockhaus und unterrichtete seine Studenten so, wie er es wollte. Man lebte weit weg von den anderen, aber dazu kam ein starkes Bedürfnis nach Zusammensein. Sport? Bei vierzig Grad minus kann man nicht mal Ski fahren. Die Künste waren wirklich wichtig, eine Lebensnotwendigkeit. Du konntest alles machen, egal wie talentiert. Mitmachen war das Wichtigste. Nicht dieses Elitezeug, oohh, du darfst nicht… nein! Oh doch, ich darf, und du darfst auch. Come, come, come!“ Sie lacht glücklich.

In Fairbanks hörte sie Cab Calloway und Canadian Brass, Martha Graham kam mit ihrer Dance Company, Vivica Genaux sang im Chor – und sie wollte Eliza sein. Nach dem Winter 1982 in Japan, das frisch erworbene Libretto im Gepäck, begleitete sie den Vater weiter nach Texas, und dort bekam sie eine Gesangslehrerin. Keine Gerin­gere als Dorothy Dow in Galveston unterrichtete die Dreizehnjährige, eine berühmte Hochdramatische, die einst die Opernwelt von Zürich aus erobert hatte und nun das Mädchen zur Sopranistin machte. Doch Virginia Zeani, bei der Vivica später in In­diana studierte, wunderte sich, als sie hörte, wie die junge Sängerin sich in die tiefen Lagen von Fiordiligis Come scoglio warf. “But my darrling,” imitiert Vivica sie lachend, “if you want for to sing like this you must for to be mezzosoprano!”

Das Rettungsboot Rossini bringt sie ins barocke Wunderland

Vivica war besonders das romantische Sopranrepertoire so unangenehm wie das Geigenspiel, das sie gelernt hatte. „Ich konnte diese Rollen nicht ertragen, diese Mäd­chen, die als einzige Lösung für den Konflikt in ihrem Leben hatten, wahnsinnig zu werden, zu sterben oder sich umzubringen. In Barockopern sind Frauen viel stärker. Irgendwas passierte im Zeitalter der Aufklärung, weswegen sie geschwächt werden sollten. Nur bei Rossini gibt es noch starke Frauen, Mezzos: Rosina, Isabella, Cene­rentola. Also sang ich in den ersten drei Jahren meiner Karriere nur Rossini – und er wurde mein Rettungsboot.“

Denn nach einem ihrer Auftritte, 1998, wurde sie zu einem Vorsingen an der Staatsoper unter den Linden eingeladen. René Jacobs brauchte einen Selimo für Hasses Oper Solimano und engagierte Vivica sofort. Es wurde ein Triumph.”Barockmusik war meine Welt! Viel mehr Freiheiten, wie ein großer Sandkasten!“ Freiheiten für die Verzierungen, die sie so liebt, und für das besondere Temperament, das mit dem Mezzofach verbunden ist. „So much more me! Mezzocharaktere sind die, die andere in Schwierigkeiten bringen, die Manipulatoren“, sie lacht. „Selbst wenn sie sterben, haben sie vorher noch Schaden angerichtet“, jetzt lacht sie unbändig: „I love troublemaking!“

Und egal, wie groß der Schaden ist, wieviel Verzweiflung, ge­brochene Herzen, Opfer es gibt, „Barockoper hat eine schöne, elegante Art, auf Schmerz und Leiden zu schauen. Es ist artistisch. Es ist auch wahrhaftig, aber du bist in einer cornice, einem Rahmen. Im richtigen Leben gibt es so viel Leiden ohne Hoffnung. Das Theater bringt mich eine Stufe höher, es gibt mir Hoffnung und Inspiration.“

Damit meint Vivica Genaux kein Theater der Weltflucht. Hinter ihren vokalen Feuerwerken steckt enorm viel Reflektion – und auch Erfahrung aus dem ungeliebten Geigenspiel. „Wie auf der Violine musst du den Ton denken, ehe du ihn greifst. Das d kann auch gesungen als leere Saite klingen oder auf der G­Saite gegriffen werden. Man kann die Stimmbänder dünn oder dick werden lassen. Trotzdem, ein Sänger ist ein ganz anderes Tier als ein Instrumentalist. Mein Körper ist das Instrument, und meine Rollen ändern mich im Innern. Es macht mich wahnsinnig, wenn Leute sagen, man müsse das ‹natürlich› machen. Der Apparat im Hals war ursprünglich nicht mal zum Sprechen gemacht, nur zum Schlucken und Atmen und damit das Essen nicht in die Lunge fällt!“

Seit neuestem steigt sie noch tiefer ein und studiert Psychologie, um jungen Sängern so helfen zu können, wie das mit Psychologie für Sportler längst getan wird, „fundiert, nicht als Wohlfühlaktion. Als in Norditalien der Lockdown begann, fragte ich mich, wie lange es dauern würde, und wollte meine Zeit nicht verschwenden. Also beschloss ich, online zu studieren. Und da ich mit Autorität nicht gut klarkomme, nahm ich Alaska. Ich wollte bei der Sorte Leute lernen, mit denen ich aufwuchs. Und so war’s. Really me.“ Auch wenn Vivica nicht weiß, welche Zukunft es für Sänger gibt, sieht sie die Barockoper als Überlebensmodell. “Diese Stücke sind nicht in Stein gemeißelt. Man kann sie jeder Situation anpassen. Und Faustina Bordoni sang sowieso, was sie wollte…”

Dieser Text entstand für das MAG 79 der Oper Zürich, Oktober 2020, und ist urheberrechtlich geschützt. Quelle für das Foto von Vivica Genaux ist die Website der Oper Zürich, wo “L´olimpiade” am 1. November Premiere hat, mit einem Dokumentarfilm inszeniert von David Marton, dirigiert von Ottavio Dantone.