“I love suffering on stage!”

Sondra Radvanovsky über ihre Annäherung an “Turandot”, ihre Jugend in Indiana, ihren Kanal “Screaming Divas” und ihr Alter Ego Sandy

Was ein paar gesungene Töne anrichten können, das ist vielleicht nirgends so frappie­rend wie an einem der nüchternsten Orte des Theaters, der Probebühne. Kein Or­chester, keine Illusion. Ein bisschen Requisitenersatz aus Pappe und Holz, ein Flügel, Tische für das Produktionsteam, eineinhalb Dutzend Leute in Alltagsklamotten, Werkstatt, eine Atmosphäre, als warte man entspannt auf den Bus. Was dazu nicht passt, ist, dass eine junge Frau ihren Kopf durch einen Holzrahmen streckt, den zwei andere gelassen hochhalten. Akkorde vom Klavier. Der Regisseur geht auf die Spiel­fläche. Abbruch, ein paar Worte. Wieder Klavier. Eine Frau in Jeans, blondgelockt, lässt die im Holzrahmen frei. «Si lasciata! Parla! Rede!» «Piuttosto moro! Lieber sterbe ich!»

Gerade mal elf Silben, elf Töne haben die beiden gesungen, nicht laut, nicht dramatisch, parlando zwischen a und d, und doch ist da plötzlich ein ganz anderer Horizont, eine andere Körperspannung. In beider Stimmen hat man Charaktere ge­hört, die ganze Oper steckt schon darin, Puccinis Turandot, die auf diese Szene zuläuft. Von wegen Buspassagiere. Es ist Liù, die einen Namen nicht preisgeben will, und Prinzessin Turandot, die sie foltern lässt. Es sind zwei bestens befreundete So­pranistinnen, die einander hier gegenüberstehen. Aber in diesem Moment, in diesen Takten und Tönen sind Rosa Feola und Sondra Radvanovsky in einer anderen Welt, bis in die Fingerspitzen hinein.

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«Mich interessiert, wie sie sich bewegt, atmet, geht», hat Sondra vorher im Foyer über Turandot gesagt, die sie zum ersten Mal auf der Bühne verkörpert, «all das ge­hört zur Sprache des Charakters. Wir erforschen ihn noch. Wir müssen viel Background erschaffen, denn wir kennen ihn nicht. Normalerweise wird sie als wütende Frau gezeigt, als hochdramatische Rolle. Aber Puccini hat viel Weiches, Delikates für sie geschrieben. Ich finde sie sehr widersprüchlich.» Wie bewegt sie sich denn, diese Prinzessin, die so viele Männer töten liess? «Ganz anders als Medea. An der MET war ich als Medea eine Schlange, mit einer gleitenden Agilität in ihren Bewegungen. Turandot ist rigider, da gibt es keine kontinuierliche Bewegung. Hin und her, schnell, langsam, dann wieder eine schnelle Bewegung, wie ein Löwe im Sprung auf die Beute.»

Steckt etwas von ihr selbst in den Gestalten, die sie verkörpert? «100 Prozent! Das macht es persönlicher, realer, glaubwürdiger. Ich hätte auch Schwierigkeiten, eine Frau zu spielen, die nicht für das einsteht, was sie glaubt. Ich sehe mich selbst als starke Frau.» Es gibt allerdings eine Menge geopferter und hilfloser Frauen im Opernrepertoire, gerade im Sopranfach, wie kommt sie damit klar? «Ich spiele sie stärker, als sie sein sollten, diese welkenden Blumen. Die Stärke in ihnen zu finden, das macht auch die Opern interessanter. Aber besonders Puccini war der König im Erschaffen starker Frauen, er war seiner Zeit voraus. Das sind auch zerrissene Persön­lichkeiten, gezwungen, zwischen dem einen und dem anderen zu wählen. Schwarz oder Weiss, es gibt kein Grau bei Puccini, bei Verdi dafür eine Menge. Tosca, die Scarpia tötet!»

Da indessen auch viele starke Frauen auf der Bühne sterben müssen, freut sich Sondra auf ein Projekt mit ihrer Freundin Marina Abramović («Wir sind wie Schwes­tern»). Die Performancekünstlerin hält sie für die Idealbesetzung in 7 Deaths of Maria Callas, ein Projekt, das der Diva aller Diven in Todesszenen aus Opern von Norma bis Tosca folgt. «Marina meint, von allen in meiner Generation sei meine Stimme der Callas am nächsten. Meine Stimme ist nicht an sich schön, sie hat eine Kante, nicht jeder mag das, aber sie ist anders und unverwechselbar. Meine Generation ist vielleicht die letzte, die noch Zeit hatte, ihre Stimme sich organisch entwickeln zu lassen, sich zu finden.»

Damit hat Sondra allerdings sehr früh angefangen – als 11­-Jährige. Tosca war ihr Erweckungserlebnis 1980, im Städtchen Richmond, inmitten der endlosen Rinderwei­den von Indiana. Sie sah und hörte im TV eine Übertragung aus Verona, Plácido Domingo beeindruckte sie masslos, «das Singen, aber auch die Story, und ich war begeistert, dass man auf der Bühne jemand anderes werden kann. Oh, ich könnte das als Job machen! I want to do that!» Ganz von ungefähr kam der frühe Entschluss zur Opernlaufbahn aber nicht. «Ich sang auch im Chor der Methodistenkirche und habe das geliebt. Meine Mutter kaufte früh einen Plattenspieler. Seit ich fünf Jahre alt war, habe ich nonstop gehört. Sie wusste, dass ich eine Gabe hatte, und sie hat das unterstützt.»

Die Elfjährige bekam also Gesangsunterricht, mit dreizehn stand Sondra erstmals auf der Bühne, als Zigarettenarbeiterin in Carmen. «Es war ein Provinztheater mit einem shoestring budget, einem Mini-­Etat, aber in dem Moment, als ich auf die Bühne ging, wusste ich, dass ich das tun musste, nicht wollte. Wie ein Läufer, der laufen muss, musste ich singen. Meine Mutter sah das, und so brachte sie mich nach Chicago oder Cincinnati oder Indianapolis, damit ich grösseres Theater erleben konnte. Sie hat so viele Opfer gebracht, um mir meine Karriere zu ermögli­chen…» Gab es einen Plan B? «Nein, ich sprang mit beiden Füssen rein. And failing was no option.» Einmal, gesteht sie, hat sie als Hypothekenmaklerin ihr Geld verdient, «weil ich mitten am Tag das Büro verlassen und zum Gesangsunterricht gehen konnte».

Mit dem Erfolg, dass sie ins Young Artists Program der Metropolitan Opera kam. Sie hatte die Stimme für das riesige Haus, 1996 stand sie erstmals dort auf der Bühne als Gräfin Ceprano in Rigoletto. «Es war sehr schwer. Ich versuchte auf der Bühne ich zu sein, es war anstrengend, die Balance zu finden. Und so erschuf ich ein Alter Ego oder es kam eines Tages zu mir, Sandy Singer. Sie ist furchtlos und stark, auch verletzlich, wenn es sein muss. Sie hat keine Schwächen und ist unbesiegbar. Wirklich eindrucksvoll!» Sie lacht. Ist Sandy Singer immer noch mit ihr unterwegs? «Ja. Auf eine Art ist sie mein Schutz und Schild, das, was ich der Welt von mir zeige, denn mein persönliches Leben ist mein persönliches. Die wahre Sondra ist empfind­licher.»

Diese wahre Sondra bleibt aber keineswegs zuhause, wenn Sandy Singer auf die Bühne geht. Ihr ist sogar einer der grössten Erfolge der Sopranistin zu verdanken, die erwähnte Medea in Luigi Cherubinis gleichnamiger Oper in der New Yorker Met im vorigen Jahr. «Eine Scheidung durchzumachen und Medea zu sein», sagt Sondra, «das war extrem kathartisch. Alle Aggressionen, die ich hatte, die Wut, alle Verletzungen, Schmerzen, all das Üble benutzte ich auf der Bühne für diese Gestalt. Und es war die beste Therapie, die ich mir denken kann, denn auf der Bühne liebte ich all das. I love suffering on stage!»

Sie lacht wieder und fährt nachdenklich fort: «In der Gesellschaft heute sind wir von vielen dieser Emotionen abgeschnitten. In den sozialen Medien wird alles zu­rechtgemacht, um hübsch und glänzend zu wirken. Wenn da jemand sagt, ich habe wirklich einen miesen Tag, guckt sich das keiner an, die Algorithmen klammern das aus. Die Leute gehen verloren im Algorithmus. Was Social Media zeigen, ist nicht die wirkliche Gegenwart. Oper ist jetzt. Bühne, Musik, das ist Gegenwart!» Als aber diese Gegenwart verbannt war, im Lockdown, da riefen Sondra Radvanovsky und ihre Sopranfreundin Keri Alema eine Youtube­-Serie ins Leben, die bis heute 97 Folgen hat. Die Screaming Divas tranken jeden Freitag Gin Tonic vor der Kamera und trafen Kollegen aus aller Welt zum Zoom, und selbst Anthony Tommasini, langjähriger Chefkritiker der New York Times, wagte sich in die virtuelle, von Gelächter erfüllte Höhle der Diven.

Unter den allerersten Gästen war auch Rosa Feola, die nun mit Sondra auf der Probebühne steht. Wer weiss, wie oft sie an diesem Vormittag schon zur Folter geführt wurde…. Ihr «Lieber sterbe ich» verliert nicht an Entschlossenheit. «Was hat dir soviel Kraft ins Herz gebracht?», fragt Turandot. «Principessa, l’amore!» «L’amore…», sagt und singt Sondra Radvanovsky versonnen, verwundert, und lässt eine Haarsträhne der Gefangenen durch ihre Finger gleiten, fast zärtlich.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das MAG 103 der Oper Zürich, Juni 2013, und für die Website des Hauses. Turandot hat Premiere am 18. Juni. Die musikalische Leitung hat Marc Albrecht, Sebastian Baumgarten inszeniert. Neben Sondra Radvanovsky (Foto: Andrew Eccles / myscena.org) singen u.a. Rosa Feola (Liu) und Piotr Beczała (Calaf).