Zwischen Weitblick und Lupe

Die Aufnahme der späten Mozart-Sinfonien, die das Ensemble Resonanz 2020 vorlegte, flasht noch heute. Mit Mozarts Prager Sinfonie meinten die Musiker es jüngst allerdings etwas zu gut.

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Ab und zu, nicht sehr oft, platzt einem Klassiker der Marmor ab. Mozarts Jupitersinfonie zum Beispiel. Aber halt, wo soll denn da noch Marmor gewesen sein? Mozart wird doch seit einem halben Jahrhundert freigelegt, aufgekratzt, zum Leben seiner »Klangrede« gebracht, wie Befreiungspionier Harnoncourt das nannte, und ins vibrierende Umfeld der Französischen Revolution, die in seinem 34. Lebensjahr losbrach. Ja, aber offenbar hatten wir es uns mit diesem neuen, richtigen Mozart schon wieder nett eingerichtet, ob mit historischen Instrumenten oder ohne. Man sollte gar nicht glauben, wie schnell Marmor nachwächst, oder Moos – wobei das natürlich nur Metaphern sind für eine Rezeptionsverstetigung, die uns vom Unmittelbaren trennt.

Das Unmittelbare ist nicht nur eine Bauchgeschichte, es ist im Gegenteil sehr komplex, wie ein Mensch, von dem man sich ein gewisses Bild gemacht hatte und der in der Nähe vielschichtig bis widersprüchlich wird. Diese Nähe haben vor gut drei Jahren das Ensemble Resonanz und sein Dirigent Riccardo Minasi in Mozarts drei berühmtesten Sinfonien, den letzten, auf eine Weise erreicht, die über die Sensation für eine Saison weit hinausgeht. Im Finale der Jupitersinfonie mit diesen Musikern geht es mir selbst beim dritten Hören ein bisschen wie mit sieben Jahren, als ich eine Brille bekam und zum ersten Mal sah, dass der Küchenfußboden, den ich immer für ockerfarben gehalten hatte, in Wirklichkeit aus vielen verschiedenen Farbpünktchen bestand.

Da ist diese Spannung nicht nur der großen, auch der kleinen Linien, der Extraakzent, der in Takt 17 aus der Wiederholung zweier Thementakte ein Sprungbrett macht, so wie hier generell die Wiederholung von Motiven nie ins Statische führt, sondern zum Nachfassen, zur Intensivierung. Da ist ein neues Verständnis der Kontrapunktik, die Mozart mit unwahrscheinlicher Eleganz einsetzt, aber, was man sonst nicht hört, auch fürs Unelegante nutzt, für den aggressiven, fast dreckigen Zubiss etwa, mit dem sich in engem Abstand drei Instrumentenkombis mit einem Fanfarenmotiv jagen. Es gibt auch eine Kontrapunktik der Farben und Aktionen, nicht nur der Linien. Die Bässe versuchen mit ihren Auftakt-Anfällen in der Durchführung das Thema in den Geigen zu zerfetzen, neben dem die Holzbläser chromatisch träumen.

Dazu kommt das ganz andere, der entspannte Blick zwischendrin, etwa das dreizehn Mal wiederholte g in den Hörnern, das wie ein unbeteiligter Traktor durchs Feld tuckert, während in der Harmonik schon ein paar Dementoren Nebel verbreiten. Das muss man erstmal hinkriegen, eine 235 Jahre alte Partitur im Klang so vieldimensional zu realisieren, dass wir unsere Welt in ihr finden und zugleich den Eindruck haben, Mozart in dem Moment zu erleben, in dem er das aufschrieb, offensichtlich entschlossen, an die Grenzen zu gehen. Man spürt eine Modernität fast ein bisschen so wie sonst in Strawinskys Sacre, nur eben innerhalb einer Sprache, die mit Konventionen ihrer Zeit arbeitet.

Minasi hat es hingekriegt, auch deswegen, weil viele vorgearbeitet haben, weil er selbst als Geiger in der historischen Aufführungspraxis groß wurde, die beim Ensemble Resonanz auch mit einem 440er A und modernen Instrumenten prägend ist. Aber es kommt noch etwas hinzu. Ein anderer Horizont, eine besondere Neugier und Begeisterung, ein Beiseitefegen von allem »was bisher geschah«. Es war eine enorme Leistung von Dirigent und Ensemble, diesen Schwung bei gleich drei Sinfonien dieses Ranges zu halten, mitsamt aller Konzentration und Präzision. Ein Glücksfall auch, nach dem der nächste Angang vielleicht ein Atemholen sein muss, ein Rückzug auf die Basis, von der aus man gesprungen ist. So jedenfalls kommt mir die Prager Sinfonie vor, die das Ensemble Resonanz jetzt – wieder bei harmonia mundi – veröffentlicht hat.

Die Mittel, die Minasi zur Neuentdeckung der späten Trias dienten, drohen beim bahnbrechenden D-Dur-Vorgänger Selbstzweck zu werden. Vom neugierigen Blick bleibt die Lupe, unter der nun Sollbruchstellen mit Ritardandi vergrößert werden, bis aus der Vorahnung von Don Giovanni eine didaktische Veranstaltung geworden ist. Das einleitende Adagio zerfällt in Zäsuren; das Allegro wird vorm Rhythmuswechsel bei 5’17 (Takt 124) so abgebremst, dass ich zuerst an einen Schnittfehler dachte. Krassester Fall von etlichen Manövern, die Disruptivität auf einer Ebene behaupten, wo sie nicht komponiert ist. Dabei kann Tempogestaltung Wunder wirken, wie dieselben Musiker es in Mozarts g-Moll-Sinfonie gezeigt haben: Da wird im 1. Satz nach der Generalpause das Tempo um die kleine spürbare Idee zurückgenommen, die den Szenenwechsel in Opernnähe rückt. So subtil wünscht man sich manches in der Prager, auch bei den Betonungen. Im Adagio scheint das Wichtigste der geradezu missionarisch vorgeführte Akzent innerhalb einer Fünfachtelgruppe zu sein, wo immer sie auftaucht. Ein Akzent, wo ein Gedanke schon fast zu viel wäre in der Zärtlichkeit, die sich da zu entfalten beginnt – besser gesagt, beginnen könnte.

Aber auch da, wo einem etwas fehlt, erfährt man ja etwas über ein Stück. Und über die Interpreten. Es mag sein, dass Riccardo Minasi die 1786er Sinfonie neben den Dreien von 1788 etwas unterschätzte und sie im Licht der Linzer Sinfonie von 1783 sah, mit der die CD beginnt: Da ist Mozart wirklich noch nicht im – von ihm selbst zu entwickelnden – Großformat angekommen. Nun geht es den Hamburger Musikern wie ihm: Sie werden von dem Level aus gehört, das sie selbst erreicht haben. Was überhaupt kein Problem ist, sondern wahrscheinlich das Beste, was Künstlern passieren kann.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand als Nr. 41 der Kolumnenreihe “Rausch & Räson” für das Magazin VAN und ist dort seit 20. Dezember 2023 online. Die illustration ist von Merle Krafeld.