“Wir wollten ein neues Evangelium”

Er war das Superhirn der musikalischen Avantgarde, als Dirigent in Bayreuth hat er Wagner vom Waber befreit. Vor zehn Jahren gründete Pierre Boulez die Lucerne Festival Academy für junge Komponisten und Musiker. Eine Begegnung aus Anlass des Jubiläums

Um fünf vor drei gleitet das Gitter zur Seite, dabei habe ich nicht geklingelt, es steht kein Name am Pfosten. Das ist sowieso nicht üblich bei dieser Art von Anwesen in den stillen Villenstraßen an den Hängen von Baden-Baden. Da oben steht die Villa zwischen alten, hohen Bäumen. Ein Gründerzeitbau, stattlich, zwei Stockwerke, leicht patiniert, gut gepflegt. In Jeans und grünem T-Shirt kommt mir ein Mann entgegen, alterslos, jungenhaft, rotblond, bebrillt, freundlich. “Bonjour, Sie wollen zu Monsieur …” Ich könne mir ja, während ich warte, ein paar Fragen überlegen, scherzt er. Als könne es jemand wagen, sich nicht gründlichst auf eine Begegnung mit Pierre Boulez vorzubereiten.

Dass ohne ihn die Geschichte der Musik seit 1945 eine andere wäre, lässt sich ohne die geringste Übertreibung sagen. Er war das Superhirn der Serialisten, deren Vehemenz eine der tiefsten ideologischen Spaltungen in der Musik hervorrief. Was er in brillanten Polemiken forderte, übertraf er noch mit seiner Kunst. Das machte ihn so unschlagbar wie sein Dirigieren. Ein Revolutionär, dem die berühmtesten Orchester aus der Hand fressen, der in Bayreuth Wagner vom Waber befreit und zugleich ein Zentrum zur Klangerforschung in die Mitte von Paris graben lässt, versehen mit einer Macht wie kein Komponist vor ihm, fähig, die einen Kollegen in den Schatten, die anderen ins Licht zu stoßen.

Ein zierlicher Mann, 88 Jahre alt, kommt die Treppe in der Villa herab, den Kopf etwas zur Seite geneigt. Mir geht es wahrscheinlich wie denen, die erstmals Wagner oder Mahler trafen und sich unnötig schämten, solche Koryphäen um Haupteslänge zu überragen. Aber in den niedrigen Sesseln, in einem der 20 Zimmer, gleicht sich das aus, und Boulez erzählt zunächst von den jungen Komponisten, die er in Luzern betreut. Vor zehn Jahren gründete er die Lucerne Festival Academy. Eine Auswahl junger Instrumentalisten wird mit der Moderne vertraut gemacht, Komponisten können ihre Entwürfe mit dem Orchester testen.

Und mit Boulez. “Eigentlich kann man nicht zugleich Komponist und Lehrer sein”, meint er in seinem französisch singenden Deutsch. “Inventivität kann man nicht beherrschen, ich kann ihnen nicht das Erfinden beibringen. Was ich tun kann, ist, ihnen auf diese Höhe zu helfen”, er deutet mit schmalen Händen zwei Zentimeter an, “obwohl sie diese Höhe brauchen”, 20 Zentimeter, “und je weiter sie gehen, desto höher werden die Stufen.” Er hat von sich in Bezug auf den Nachwuchs einmal gesagt, sein Urteil könne einen Menschen töten. “Ja. Ich bin sehr vorsichtig. Ich weise auf die und die Stelle hin und sage, machen Sie was damit, bringen Sie mir Ihr Stück wieder mit den Ideen, die Sie finden …”

Mit anderen war Boulez nicht so vorsichtig, damals. Jeder Komponist, der die Notwendigkeit der Zwölftönigkeit nicht einsehe, sei “unnütz”, schrieb er 1952, und da ihm der Erfinder des “Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen” selbst nicht konsequent genug war, schrieb er: “Schönberg ist tot.” Das machte Furore. War der junge Pierre ein Robespierre der Avantgarde? Er lacht, gar nicht so unzufrieden. “Ja, die Köpfe waren da”, meint er in Anspielung auf die Enthaupteten der Revolution und zoomt dann ins Paris der Fünfziger: “Wir waren eine kleine Gruppe gegen das Musikleben einer großen Stadt. Wir waren Mönchssoldaten, moines soldats, Kreuzritter, wie im Mittelalter.” – “So haben Sie sich gefühlt?” – “Ja. Wir wollten ein neues Evangelium bringen.”

Diese Mönche kämpften nicht nur in Paris. Hans Werner Henze, ein Jahr jünger als Boulez, erinnert sich, wie 1957 ein Stück von ihm in Donaueschingen uraufgeführt wurde. “Nach den ersten Takten schon haben sich Pierre, Gigi und Karlheinz gemeinsam erhoben und sind rausgegangen.” Boulez, Nono und Stockhausen bestimmten, wer reaktionär war. Und während sich Henze in Deutschland fehl am Platz fühlte und in Italien heimisch wurde, floh Boulez aus dem misstrauischen Frankreich in die Villa, in der wir jetzt sitzen. Es gibt Parallelen im Leben dieser Gegensätzlichen, anhand derer sich die Geschichte der Avantgarde erzählen ließe. Nun aber ist Boulez der letzte der einflussreichen Großen, der noch lebt.

Tatsächlich begann sein Durchbruch nicht fern von hier. Die Uraufführung seiner zweiten Klaviersonate bei den Darmstädter Ferienkursen für neue Musik 1952 galt schon im Vorfeld als Sensation, und es ist noch immer eine, mit der unverbrauchbaren Kraft einer Talentexplosion bei schärfstem Bewusstsein. Das Klavier als Teilchenbeschleuniger des Geistes, eine fast unspielbare Ekstase der Abstraktion – das bekam nur Maurizio Pollini in den Griff, anno 1978. Sein Stratosphärenflug ist in der 13-CD-Box enthalten, in der die Deutsche Grammophon jetzt alles von Boulez zugänglich gemacht hat. Fast alles, denn ein strenger Kritiker ist er auch sich selbst gegenüber. Seine radikale Polyphonie X zog er zurück, “da habe ich Vision und Realisierung nicht zusammengebracht”.

Richtig zufrieden ist er immer noch mit Le Marteau sans maître, neun Sätze für Altstimme und sechs Instrumente, eines jener Schlüsselwerke der Avantgarde, die häufiger analysiert als gespielt werden – zu Unrecht, es kann einen verzaubern. Weiß er noch, wie die Arbeit begann? “Ja, mit dem Stück für Flöte und Stimme, L’Artisanat furieux. Ich hatte in meiner Arbeit so viele Sprünge zwischen Tonhöhen gemacht, ich wollte endlich mal kontinuierliche zwei Stimmen schreiben.” – “Haben Sie die Musik vor dem Komponieren gehört oder gesehen?” – “Gesehen”, sagt Boulez, ohne zu zögern. Das Ganze wurde dann so vertrackt, dass die sechs Musiker einen Dirigenten brauchten. Und das war er.

“Ich war auf das Dirigieren nicht vorbereitet. In den ersten Jahren war ich froh, wenn ich ohne Unfall zum Schluss kam.” Bald führte er unfallfrei auch das Orchester des damaligen SWF durch seine Musik, 1963 folgte ein sensationeller Wozzeck in Paris, 1966 dirigierte er schon in Bayreuth, den Parsifal in Wieland Wagners Inszenierung. “Ich nahm den ersten Akt viel schneller als üblich. Die Gralsritter sind Mönchssoldaten, und die sind am Anfang ganz gesund”, meint er mit einem feinen Lächeln.

Wie blickt er jetzt auf den Fundamentalismus der frühen Jahre zurück? “Nun, das ist gut für eine Periode. Hinterher muss man unbedingt die Fenster öffnen, das habe ich auch getan. Bei Schönberg gibt es dasselbe Profil. Er war mit der Zwölftonmusik am Anfang sehr streng, am Ende ist es nicht mehr so steif und stur. Ich finde aber immer noch, dass seine wichtigsten Werke vor der Zwölftonmusik, vor dem Ersten Weltkrieg entstanden sind. Pierrot Lunaire, Erwartung, eine so potente Imagination!” Bei Igor Strawinsky sei es ähnlich. Auf Le Sacre du Printemps lässt Boulez nichts kommen, er hat ihn 1969 auch uneinholbar gut eingespielt, aber der Neoklassizismus danach geniert ihn geradezu.

Sein Assistent schaut herein und weist mich darauf hin, dass die vereinbarte Sprechzeit vorbei sei. “Non, non, Hans, ça va”, sagt Boulez, bestellt sich noch einen Kaffee und knüpft ans Thema so schnell an, als sei er gar nicht unterbrochen worden. “Strawinsky war kein Intellektueller. Er war ein spontaner Komponist. Als er versuchte, unter dem Einfluss der französischen Intelligenz wirklich intellektuell zu sein, ist etwas verloren gegangen.” Boulez wirkt milde, aber wenn er über die großen Toten redet, lässt er oft nur einige Werke gelten, über seinen Lehrer Olivier Messiaen spricht er fast wie über einen Schüler. “Er hat nicht genau seine Sprache gefunden. Er war in der richtigen Richtung, aber zu sehr in seiner eigenen Welt, um etwas außer sich zu entdecken.” Und die Vögel? Immerhin hat Messiaen ihre Gesänge in sein Werk geholt. “Mir waren das zu viele Vögel. Außerdem habe ich den Vögeln hier hinter dem Haus aufmerksam zugehört. Die singen nicht zusammen, das sind Solisten …”

Immerhin fand der junge Industriellensohn von der Loire unter Messiaens Ägide rasant seinen Weg und schrieb mit 21 Jahren, “vielleicht an zwei Nachmittagen”, jenen Zyklus, der ihn noch heute beschäftigt: Notations für Klavier. Zwölf geistsprühende Skizzen, zusammen keine elf Minuten lang. Er hat aus ihnen später Orchesterwerke gemacht, fünf bislang, und arbeitet immer noch daran, “aber nur von Zeit zu Zeit, ich will mich damit nicht einschließen. Es ist die Erfahrung eines Lebens darin. Die erste Orchestrierung, die ich in den Vierzigern machte, war lächerlich …” Er hat die Skizzen ausgebaut, mitunter beinahe romantische Klänge erzeugt, als wolle er den eigenen Aufbruch rückbinden ans 19. Jahrhundert. “Für mich ist das nicht orchestrieren, sondern entwickeln. Ich wollte mich mit mir selbst beschäftigen und sehen, was sich mit diesen Ideen machen lässt. Das ist auch die Praxis in Wagners Ring des Nibelungen, da gibt es unscheinbare Ideen, die später immer wichtiger werden.”

Ja, der Ring, das wäre auch so ein Thema. Bei Boulez sind Themen und Zeiten dicht vernetzt, und mein sauber strukturierter Frageplan ist längst aus dem Ruder gelaufen, als Hans erneut hereinschaut, bereits etwas nervöser. “Vous êtes fatigué, Monsieur?”, fragt er den Meister besorgt. “Kommen Sie in zehn Minuten, Hans”, sagt Boulez. Er möchte mir noch erklären, am Beispiel von Weberns opus 21, warum die Tonalität nicht mehr gebraucht wird, um Spannung zwischen Beweglichkeit und Unbeweglichkeit herzustellen, und dass, wenn ein Künster sich entwickelt, er immer neue Mittel braucht. Da spürt man noch den Missionar von einst und den bezwingenden Charme logischer Argumentation, mit der Pierre Boulez so lange den Diskurs über neue Musik prägte.

Was Musik und Gesellschaft miteinander zu tun haben? Da muss er lachen. “Wir sitzen übermorgen noch hier, wenn wir das diskutieren!”

Eine vorletzte Frage: Mit welchem toten Kollegen würde er gern essen gehen? Boulez denkt nach und sagt ernst: “Ich glaube, mit Wagner. Ein komplexes Genie, zugleich brutal und extraordinär raffiniert. Sein Buch über das Judentum ist unerträglich, und man sieht in den Tagebüchern von Cosima, wie grob er sein konnte, das war sein Charakter.” „Sie sagten mal, künstlerische Qualität habe mit Moral nichts zu tun.” “Das ist wahr. Wenn Wagner moralisch so gewesen wäre, wie wir es möchten, dann hätte er vielleicht nicht geschrieben.”

Was bleibt, wer bleibt? “Es gibt Musik, die für eine bestimmte Zeit geschrieben ist und mit ihr verschwindet. Arthur Honegger war ein großer Name, als ich nach Paris kam, 1943, der einzige Moderne, der wirklich gespielt wurde. Und heute? Man spielt Schostakowitsch. Der ist nicht besser als Honegger. Wenn man das sieht, wird man wirklich …” Er bricht ab, blickt kurz vor sich hin, lieber sagt er noch etwas über die jungen Komponisten, die er in Luzern treffen wird. “Sie sind frei und können machen, was sie wollen. Das ist vielleicht schwieriger, als kämpfen zu müssen wie wir damals. Alberich sagt im Rheingold: “Bin ich nun frei? Wirklich frei?” Sie sind nicht wirklich frei, denn es gibt die Geschichte eines Jahrhunderts moderner Musik, und man muss damit leben.”

Als mich das Taxi abholt, steht Pierre Boulez vor seiner großen Villa, still, nachdenklich, wie im Schatten eines Denkmals. Und Hans, der Mann im grünen T-Shirt, winkt erleichtert.

Der Artikel erschien am 22.8.2013 in der ZEIT

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