Der Brecher kennt die Witwen nicht

Zwischen Hoteleingang und Currywurstbude steht ein echter Brecher. Lederweste, Oberarme, die einen an Terence Hills schöne Bemerkung „Das sollte wohl mal ein Bein werden?!“ denken lassen und reich tätowiert sind. Daneben gibt es hier auch extrem schmächtige Junkies wie den, der mir auf der Treppe entgegenwankt, kaum noch gehfähig, ans Geländer geklammert. Und ringsum gibt es Etablissements wie Sissy Bar und Monte Carlo Bar, aus denen man garantiert nicht so einfach rauskommt, wie man reinkommt. Vorm Café vorn an der Ecke sitzt eine Frau, die neben sich alles stehen hat, was sie besitzt, so sieht es aus, und schreibt emsig auf Papier.

Szenenwechsel: Hohe Bäume vor gepflegten Altbauten. Schöner Platz an stiller Straße, ein Caférestaurant neben dem anderen, alle gut besucht, Einheimische und Touristen sind kaum auseinanderzuhalten. Urbane Kreativakademiker treffen sich hier, Bildungsbürger mit einem Schlag ins Übermütige, Damen über Siebzig tragen schon mal verwegenere Hüte als in Bad Kissingen, ihre Partner, kaum je übergewichtig, wagen es mit schwarzen T-Shirts, letzter warmer Sommertag. Pingpongwitwen halten Hof, Eltern lassen ganz kleine Kinder in sehr hübschen Klamotten sorglos herumlaufen. Auch hier ist man unter sich, viele kennen einander.

Die beiden grundverschiedenen, in sich komplett kohärenten Biotope liegen in Berlin-Charlottenburg nur einen Häuserblock auseinander, nah an der S-Bahn-Station. Die Kaiser-Friedrich-Straße, viel befahren, ist das herbe Pflaster, die stille Leonhardtstraße das noble, man braucht nur fünf Minuten zu gehen und wird schon Wanderer zwischen den Welten. Man kann an der einen Straße sehr preiswert absteigen in Räumen, die den Zweiten Weltkrieg noch nicht lange hinter sich haben, und an der anderen Straße dafür etwas mehr in den Capuccino investieren. Und in der Mitte zwischen beiden mit Schlepptop gratis online gehen. Da befindet sich nämlich das Happy Go Lucky Hotel, wo nicht mal der Kaffee was kostet.

Solche Kontraste auf engem Raum sind natürlich keine Berliner Spezialität, sondern typisch für jede Großstadt von Paris bis Bogota. Der Unterschied ist nur, dass man sich hier auf beiden Seiten sicher fühlt. Der Brecher an der Wurstbude wird Ihnen nichts tun, wenn Sie ihn nicht gerade ungefragt ins Kameravisier nehmen wie einen Elefanten bei der Fotosafari. Natürlich kann man auch in Berlin überall überfallen werden, aber es gibt dafür keine speziellen Reviere. Es gibt einfach so viele Reviere, dass sie sich in Balance halten. Die letzte Begegnung, bei der mir wirklich mulmig wurde, erlebte ich, wo ich zuletzt damit gerechnet hätte – in Wolfenbüttel.

Nee, Berlin ist schon okay. Gerade für bekennende Dorfbewohner. Denn die Durchschnittsgröße von Kleinkiezen wie den beiden in Charlottenburg, wo die meisten einander kennen und viele sich duzen, entspricht mit rund 700 Leuten genau der meines Dorfes. Großstadt? Wenn wir alle den Rasen mähen, ist es hier mindestens genauso laut.