Quadratur einer Passion

Robert Wilson zelebriert Lachenmanns “Mädchen mit den Schwefelhölzern” in Bochum. Aber braucht dieses Werk wirklich eine Bühne?

Fahl geschminkt, im weißen Nachthemd, tappt Angela Winkler durch das Karree. Sie ist das Mädchen, der Tod ist ihr nah, ein Mann in Schwarz. Stumme Rollen. Ihre Bewegungen sind ritualistisch, erstarrend in der Kälte, um die es auch geht im Mädchen mit den Schwefelhölzern. Was allerdings der Komponist Helmut Lachenmann aus dem Märchen gemacht hat, in einem der meistdiskutierten Musiktheaterwerke der Gegenwart, ist fern der Erstarrung. Zwei Stunden lang rauscht, flüstert, funkelt, wütet, lebt diese Partitur in der Jahrhunderthalle Bochum, von allen Seiten hineintönend in einen quadratischen Kessel. Und zwei Stunden lang geschieht auf der Spielfläche das Gegenteil.

Natürlich war schon vor der Premiere der Ruhrtriennale klar, dass Robert Wilson, der 72-jährige Ritualdesigner, keine Individualpsychologie betreiben würde, schon gar nicht mit einem Stück, das keine singenden Protagonisten hat, von dessen Heldin nur erzählt wird, und das auch nur in Textfragmenten. Aber so lähmend, ja zombiehaft ist es auf einer Bühne schon lange nicht mehr zugegangen wie in jenem Geviert, in dem Wilson persönlich als Tod im schwarzen Anzug eine der sensibelsten deutschen Schauspielerinnen zur Passionspuppe in einem fernöstlich abgezirkelten Mysterienspiel macht. So keimfrei wünscht man sich Krankenhäuser, aber nicht das Theater.

Paradoxerweise liegt darin ein Gewinn des Abends: Die Szenen stören nicht beim Hören. Gerade weil Wilson die Empathie, Vielfalt, Gebrochenheit, Spannung dieser Musik säuberlich umgeht, sechzehn Jahre nach ihrer legendären Uraufführung in Hamburg, werden ihre Qualitäten deutlicher – und ihre Grenzen. Zwar ist diese “Musik mit Bildern” jetzt erst zum vierten Mal inszeniert worden, wird aber längst als Schlüsselwerk des Musiktheaters in einer Reihe mit Bergs Wozzeck und Zimmermanns Soldaten gehandelt. Dabei muss man durchaus fragen, ob es sich hier um eine Oper handelt, wie Lachenmann selbst das Werk bezeichnete, oder nicht doch um eine Passionsmusik.

Dass Wilson den singenden Menschen von der Bühne entfernt, entspricht durchaus einer Option der Partitur. Die führt uns tief in Wärmetraum und Kältetod des Mädchens, aber nicht zu Beziehungen zwischen Individuen. Zudem ist aus dem Gesang als unmittelbarer Äußerung die komponierte Kritik daran geworden: für zwei Sopranistinnen, während traditionelle Instrumente (in Bochum das exzellente hr-Sinfonieorchester unter Emilio Pomárico) Klänge erzeugen, für die sie nicht gebaut sind. Es ist ein Wunder dieser Musik, dass aus der Verweigerung ein sternenklares Universum von Geräuschen und Fragmenten wächst. Aber weiter kann man diesen Weg nicht gehen.

Und vielleicht ist diese Partitur sogar weniger Musiktheater als ein Kommentar dazu, der keine Bühne braucht, anders als die großen Opernwerke der jüngsten Jahre, die von traditioneller Klangerzeugung, von verstehbaren Texten erkennbarer Protagonisten ausgehen: Klaus Hubers Schwarzerde von 2001 etwa, antidramatisch, gebrochen, mit atmenden Klangflächen, Aribert Reimanns Medea von 2009, linear, doch von einer psychologischen Vielschichtigkeit ohne Beispiel. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die besonderen Qualitäten dieser Partituren auch eine Antwort auf die Herausforderung des Mädchens sind.

In ihm hört man mittlerweile weniger das “Neue” als das fast schon historisch Gewordene. Die Vertrautheit ist bei Musikern wie Hörern gewachsen. Darum kehrt nun manches, was Lachenmann zu brechen sich vornahm, als Verdrängtes zurück: Kurze, dröhnende Blechbläserpassagen künden von einer tiefen, verbotenen Liebe zur Romantik, manche Entfesselung ist in ihrer Aggressivität schon Heavy Metal. Wie viel Leben diese Partitur durch ihr Reifen gewinnt, wird im Kontrast zur keimfreien Inszenierung ebenso deutlich wie das, was sie mit ihr gemeinsam hat: Die Annäherung an Menschen erlaubt sie nicht.

Wenn das aber bei Wilson mit der Angst vor dem Inneren zu tun hat, ist es bei Lachenmann das Gegenteil: Er überspringt den Prozess der Annäherung. Er umgibt uns mit dem Innenleben einer Schutzlosen. Seine Musik ist vom ersten bis zum letzten Ton, auf Umwegen auch da, wo Leonardo da Vinci und Gudrun Ensslin zitiert werden, mit dem träumenden, frierenden, sterbenden Mädchen identisch, mit dem, was ihm geschieht, was es fühlt und wünscht. Darum nimmt sie einen mit, in jedem Sinne. Und darum wohl ist auch Angela Winkler, ob es dem strengen Bob nun passte oder nicht, immer mehr sie selbst geworden.

Eine kürzere Fassung dieses Textes erschien am 19.9. 13 in der ZEIT unter dem Titel “Zwischen Romantik und Heavy Metal”. Der Text ist urheberrechtlich geschützt.