Jenseits der Flasche wird die Welt nochmal so interessant. Für Paul jedenfalls. Eigentlich ist es so gedacht, dass er einschläft. Bis vor einiger Zeit hat das fabelhaft geklappt. Er wurde in seinen Schlafsack gesteckt, legte sich hin, nahm das Fläschchen mit warmer Milch in die rechte Hand, zupfte sich mit der linken Hand am Ohrläppchen und war beim letzten Tropfen eingeschlafen. Anderen Eltern durfte man das gar nicht erzählen, es gibt welche, die von 20 bis 22 Uhr neben ihren Kindern liegen müssen, bis die zur Ruhe kommen.
So viel Opfergeist brächten wir niemals auf, aber Paul erzwingt sich auch so seine Gesellschaft. Mit der Flasche ist es so, dass er das bewährte Ritual bis zu dem Moment befolgt, in dem er fast eingeschlafen ist. Dann erinnert er sich daran, dass kein Gitter mehr sein Bett umhegt, dass sein Bruder noch herumläuft, dass es zwei Katzen gibt, und Spielzeug, und begibt sich im Schlafsack auf Wanderschaft. Es ist erstaunlich, wie gut sich jemand in einem Sack fortbewegen kann, wie auf Schienen, selbst Stufen sind kein Problem.
„Paul! Du gehörst ins Bett!“ Er hält mir die leere Flasche entgegen, die er als Vorwand mitgenommen hat, und ruft: „Miiiss!“ Das heißt Milch. „Eine Flasche reicht. Ab ins Bett.“ Ich trage den Protestierenden ins Dormitorium zurück, lege ihn hin, singe ein Lied. Als ich fast am Ende bin, erscheint Frido in der Tür. „Papa, liest du mir was vor?“ „Gleich“, flüstere ich, „Paul schläft gleich!“ Von wegen. „Buch! Auch!“ Er richtet sich auf. Was immer Frido hat, will auch Paul, sogar Ohrenschmerzen! Also gut. Er darf zuhören. Dann ruhen alle beide.
Und wir anderen beiden setzen uns zum Essen. Es ist etwa halb neun. Wir schwärmen von der bereits historisch gewordenen Ära bis vor etwa 60 Tagen, in der Paul sich im Gitterbett unbetreut in den Schlaf schlückelte. Es haben sich in meiner Wahrnehmung zwei Zeitebenen gebildet. In meiner Arbeitsbiographie ist vor vier Jahren wie gestern und das Ende des 20. Jahrhunderts auch noch nahe. In meiner Elternbiographie ist der jüngste Juli schon wie eine Zeit, die ich nur aus Dokumenten kenne, der Eiffelturm erst halb fertig, keine Flugzeuge…
Um neun vernimmt man ein Geräusch vor der Küchentür. Durch die Scheibe sehe ich ein kleines, rundes, fröhliches Gesicht. Paul tapselt im Schlafsack zu uns. „Auch!“ Was soll man machen? „Komm auf meinen Schoß“, sagt seine Mama. Da sitzt er nun sehr ruhig und beobachtet mich. Es ist, als wolle er herausfinden, wie wir sind, wenn er schläft. Nun ja, die Messung beeinflusst das Messergebnis: Jetzt können wir nicht über ihn reden. Uns fällt sogar tatsächlich gar nichts mehr ein. Ich vertilge meine Spaghetti und komme mir sehr erforscht vor.
Würde Paul ein Tagebuch führen, stünde darin: „Mama und Papa beim Essen zugesehen. Uninteressant. Vielleicht sollte ich den Beobachtungszeitraum nach hinten verschieben.“ Oh ja, tu das nur, Paul. Dann könntest du sehen, wie schnell und brav wir einschlafen, wenn das Fläschchen leer ist.