Bernd Alois Zimmermanns “Soldaten” erzählen von gefallenen Mädchen und der Brutalität des Krieges. Gleich drei Opernhäuser spielen die 1965 uraufgeführte Oper in dieser Saison: Was macht sie so attraktiv?
Einsam kniet sie da, fragil, verunsichert, der Mann hat leichtes Spiel. Was ihr denn fehle. Da, der Brief, ihr Verlobter hat geschrieben, sie reicht ihm das Blatt, und von da ist es nicht mehr weit zur Entladung der Spannung, die im Orchester knistert, in kleinen Akzenten, im Funkenflug zwischen Intervallsprüngen und flüsterndem Flageolett. Marie will nur spielen, necken, kindlich fast, und der Mann spielt mit ihr, aber anders, zynisch und geil. Zugleich sehen und hören wir hinten den tapsigen Verlobten, der nun gleich gehörnt wird, und seine Mutter und auf der anderen Seite die Großmutter des Mädchens, die singt eine Moritat. Derweil hat sich durch Zwölftonzacken etwas schier Unfassbares genähert.
Während hier der Rock hochrutscht und mit ihm die Hand, dort ein Sohn nicht von der Mutter loskommt, da eine moribunde Alte das Gestell mit dem Tropf schiebt, inmitten atonaler Umgebung, verdichten sich Bläsertöne zum Bachchoral: “Ich bin’s, ich sollte büßen.” Völlig irre. Im Licht dieser alten Harmonien, die sich bald wieder wegdrehen ins Universum, ist nichts gemildert. Wir sehen nur deutlicher, wie diese Menschen in ihren Situationen gefangen sind. Wir sehen es mitleidender. Wir hören die Verzweiflung im Sex und die Einsamkeit der Alten, wir blicken auf die Menschenwelt und erblicken sie für Momente ganz, und es gibt wohl nur eine Oper, in der das so möglich ist, nämlich Zimmermanns Soldaten.
Natürlich kann man das Werk, mit dem Bernd Alois Zimmermann berühmt wurde, auch ganz anders inszenieren. Die Alte mit dem Tropf, die fragile Marie, der ödipale Verlobte, das sind Probeneindrücke aus der jüngsten Inszenierung von Calixto Bieito. Sie hatte jetzt am Zürcher Opernhaus Premiere und wandert von dort weiter an die Komische Oper Berlin. Ebenfalls in dieser Spielzeit entsteht an der Bayerischen Staatsoper eine Produktion mit dem Dirigenten Kirill Petrenko und dem Regisseur Andreas Kriegenburg. Drei Häuser also spielen in einer Saison Die Soldaten. Das gab es seit der Uraufführung 1965 noch nie, kein Wunder: Es ist eines der aufwendigsten und komplexesten Einzelwerke der Operngeschichte.
“Das mit Abstand Schwerste, was ich bisher in den Fingern hatte”, bekennt Marc Albrecht, der die Zürcher Produktion dirigiert und sich durch die Opern Alban Bergs und Arnold Schönbergs immerhin “mit ein paar Wassern gewaschen” fühlt. Wer sich als Besucher ins Wildwasser der Proben stürzt, erlebt einiges von den Herausforderungen, denen sich in einem halben Jahrhundert 17 Teams und noch mehr Häuser gestellt haben, alle großen deutschen Bühnen, einige kleinere, dazu Basel, Wien, Salzburg, London, Paris, New York. Das ist viel. Ein Repertoire-Renner kann ein Werk mit 256 Instrumenten und 17 Solisten schon aus logistischen Gründen nicht werden.
Von den “2597 Taktwechseln” mal ganz abgesehen. So viele sind es gefühlt für Marc Albrecht. Er hat durchaus Verständnis für die Kölner Oper, die das Werk bestellt hatte, es dann aber als “unaufführbar” ablehnte. Erst als Zimmermann seine übereinandergelagerten Zeitschichten mit neuen Taktstrichen etwas spielbarer gemacht hatte und mit Michael Gielen ein unerschrockener (weil selbst komponierender) Dirigent gefunden war, der die skeptischen Musiker in – alles mitgezählt – 565 Proben fit machte, konnte “ein ernst zu nehmender, weit über die meisten heutigen Versuche hinausgehender Beitrag zur Musikbühne” (Die Welt) vors Publikum kommen. Und neben Buhs sogar Bravos ernten.
Die Geschichte ist einfach: Mädchen aus solidem Bürgerhaus wird von intrigantem Baron verführt, fallen gelassen und im Soldatenmilieu nach unten weitergereicht, bis sie Hure ist. “Da haben wir’s. Mit euch verfluchten Arschgesichtern!” So drastisch schrieb 1775 keiner wie Jakob Michael Reinhold Lenz, dessen Soldaten vor allem formal Zukunftsmusik waren: Er entwarf filmschnittartig rasante Szenenwechsel und sprengte die Einheit von Zeit und Ort. Und er beeindruckte Georg Büchner, der im Woyzeck Lenzsche Techniken aufgreift und den Namen Marie. Daraus wiederum machte Alban Berg seine Oper Wozzeck, an die Zimmermann deutlich anknüpft.
Für Zimmermann war das Stück von Lenz ein Großfund. 1918 geboren, hatte er in der Wehrmacht aktiv am Krieg teilgenommen, an West- wie Ostfront. Umso interessanter sein Hinweis, das, was ihn an den Soldaten interessiere, sei, “wie alle Personen unentrinnbar in eine Zwangssituation geraten, unschuldig mehr als schuldig …” Die eigene Erfahrung des Grauens komponierte er nun in einen Text hinein, der weniger den Krieg als den “Soldatenstand” beschreibt, durchaus aber die (Selbst-)Zerstörungskraft der Menschen. “Zeit: gestern, heute und morgen”, steht vorn in der Partitur, sie endet mit der “Wolke des Atompilzes”. Und sie potenziert alles, was Alban Berg vier Jahrzehnte zuvor komponierte.
Zimmermanns Stärke liegt in der Wahrhaftigkeit
Wo dieser 25 Instrumente für die Bühne jenseits des Orchesters braucht, sind es bei Zimmermann 68 Perkussionsgeräte in drei Gruppen plus Jazzcombo, hinzu kommen in der zentralen Kaffeehausszene noch 18 Schauspieler, die zum Sprechgesang verzwickte Rhythmen aufs Geschirr schlagen. Mit einer Engelsgeduld probt Marc Albrecht das, in diesem Fall mit Stahlhelmen und Schlagringen als Klangerzeugern. Und als es halbwegs sitzt, beginnt Calixto Bieito die Szene zu stellen. Was bedrohlich werden soll, wird heiter geprobt. “This is your dick”, sagt er einem jungen Mann in Uniform, der mit seinem Stahlrohr sofort phallisch posiert. Beide lachen. Hier wird nichts befohlen.
Bieitos Interesse an dem Stück begann mit früher Lektüre. “In Spanien haben wir keine Romantik, das ist ein Barockland – in der Korruption merkt man das bis heute. Aber mit der Romantik beginnt die moderne Gesellschaft, also las ich die deutschen Romantiker und Vorromantiker, zu denen Lenz gehört. Seit ich seine Soldaten gelesen habe, wollte ich auch die Oper machen. Ich halte nicht alle für Opfer in diesem Stück. Aber es gibt auch heute Soldaten, die ich für Opfer halte, zum Beispiel die jungen Spanier, die sich in Afghanistan einsetzen lassen, weil sie dort Geld verdienen.” Um Gesellschaftskritik geht es ihm allerdings nichts. Was ihn interessiert, “ist weniger die Brutalität, die Vergewaltigung, sondern die Nahaufnahme der Charaktere. Das muss am Alter liegen.” Bieito, Jahrgang 1963, lächelt, immerhin haftet ihm immer noch der Ruf eines Regieberserkers an, der von Mozart bis Verdi gern Blut und Sperma spritzen lässt. In Zürich geht er anders vor, und Marc Albrecht stimmt ihm zu: “Energie hat das Stück genug, man muss sie eher kanalisieren.” Intim werden diese Soldaten auch deswegen, weil die gigantische Besetzung in ein 1000-Plätze-Haus gepresst wird. Die Musiker sind in einer gewaltigen Stahlkonstruktion auf der Bühne untergebracht, als Spielfläche wird der Orchestergraben überbaut.
Gut möglich, dass in der doppelt so großen Münchner Oper, wo die Soldaten im Mai 2014 Premiere haben werden, ein krasser Gegenentwurf geliefert wird – schon weil Regisseur Andreas Kriegenburg eher zum Körpertheater als zur Individualpsychologie neigt. Wie alle großen Werke vermag auch dieses Tendenzen jeder Zeit zu spiegeln: 1968 wird es in Kassel zwischen Pop-Art und Panzer gezeigt, 1976 lässt Götz Friedrich in Hamburg den überzeitlichen Atem der Geschichte wehen, und Harry Kupfer macht 1987 in Stuttgart zwischen Klassendrama und Komödie das Kaffeehaus zur Gesamtmetapher. 1995 in Dresden psychoanalysiert Willy Decker die Soldaten in einem Kästchen.
Vor sieben Jahren dann ließ David Pountney in Bochum das Publikum in einer Industriehalle auf Podesten an den Musikern entlangfahren, die im Raum verteilt waren. Damit kam er Zimmermanns Traum vom Theater als “Großraumgefüge” am nächsten, in dem alles, auch das Publikum, “mobil” sein sollte. Gewöhnliche Häuser, glaubte er, seien den Soldaten nicht gewachsen. Stattdessen sind sie an diesem Stück gewachsen. Es ist zwar revolutionär, aber immer noch eine Oper. Und auch Zimmermanns Formel von der “Kugelgestalt der Zeit”, oft andächtig beschworen, lässt leicht übersehen, dass es Simultanaktionen und Stilzitate spätestens seit Mozarts Don Giovanni gibt.
Tatsächlich liegt Zimmermanns Stärke wohl in dem, was Marc Albrecht “Wahrhaftigkeit” nennt. Der Dirigent war mit 25 Jahren dabei, als sein Vater die Soldaten in Hannover probte, “das ist mir durch die Eingeweide gegangen”. Er hält sie unter den Opern der letzten 50 Jahre für “das Stück mit dem größten Potenzial, uns emotional so zu berühren, dass es einen wirklich verändert”. Dem Komponisten selbst half das nichts, er nahm sich mit 52 Jahren das Leben. Wenn aber ein paar dürre Töne vom Klavier im kahlen Probenraum, fünf Sänger, ein Tongeflecht und ein Choral genügen, einen zu Tränen zu rühren, muss man sich um die Zukunft dieses Werks keine Sorgen machen.
Der Artikel erschien am 26.9.13 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt.